Kapitel 5
So vergingen ein paar Tage. Ich war die meiste Zeit mit der graugetigerten Mieze zusammen. Ihre Nähe tat mir gut, denn so hatte ich das Gefühl, nicht ganz allein auf der Welt zu ein. Außerdem lernte ich eine Menge Dinge von ihr, die man als „alleinstehende“ Katze wissen musste.
An einem der darauffolgenden Abende nahm mich die graugetigerte Mieze mit auf das große Dach des Hauses, das sie „Musikschule“ nannte.
„Es ist Vollmondnacht. Heute wirst du erleben, was es heißt, echte Musik zu machen“, verriet sie mir, während wir durch mein offenes Kellerfenster in die Schule kletterten und, nachdem wir viele Treppen hinaufgestiegen waren, durch ein anderes Fenster ganz hinauf auf den Dachfirst gelangten.
Was für ein Ausblick!
Der Vollmond hing honiggelb und kugelrund wie ein riesiger Spielball in den Bäumen und die Sterne glitzerten wunderschön am nächtlichen Himmel, als wir uns im Schatten des dicken Schornsteins niederließen.
Tief unter uns schlängelte sich die breite Straße durch die zahlreichen kleineren Häuser. Dort fuhren zahlreiche Autos, und ab und zu tobte auch eines der furchterregenden Ungeheuer mit den riesigen Rädern da entlang. Aber hier oben fühlte ich mich sicher und hatte keine Angst vor ihnen.
„Und wann singen wir?“, fragte ich, nachdem wir eine Weile schweigend beieinandergesessen hatten.
„Wir warten bis alle anderen da sind.“
„Welche anderen?“
„Es kommen noch mindestens zwei oder drei andere Katzen und der Kater Moritz. Er ist der Boss von unserem Gesangsverein. Wir beginnen erst, wenn er da ist“, belehrte mich die graugetigerte Mieze. „Und vergiss nicht, die fremden Katzen mit einem höflichen Fauchen zu begrüßen. Das gehört sich so. Ach ja, und fang bloß nicht an zu singen, bevor der Boss dich dazu auffordert.“
Ich hatte keine Ahnung, wie man andere Katzen richtig begrüßte. Bis auf einen fast verlorenen Ringkampf mit Nachbars Hanni hatte ich noch keinen nennenswerten Kontakt zu fremden Artgenossen gehabt. Der Kampf damals hatte mir ein ramponiertes Ohr, Hannis Respekt und eine Feindschaft fürs Leben eingebracht.
Trotzdem versuchte ich mir alles zu merken, was die graugetigerte Mieze mir geraten hatte und fauchte jedes Mal derart standesgemäß zur Begrüßung, dass ich fast vom Dachfirst rutschte.
Die anderen fauchten zurück und schienen meine Anwesenheit damit zu respektieren.
Eine Weile darauf erschien Moritz, ein stattlicher schwarzer Kater. Keiner hatte gesehen, wo er so plötzlich herkam. Majestätisch schritt er auf dem Dach entlang und ließ sich mitten zwischen uns nieder. Sofort erstarrten alle in Ehrfurcht.
Ich hielt es für ratsam, ihn nicht anzufauchen, denn er sah aus, als würde er keinen Spaß verstehen.
Er blickte uns der Reihe nach prüfend an und blinzelte dann einer der anwesenden Katzen zu.
„Fang an!“
Sie jaulte los als ginge es um ihr Leben.
„Gut“, kommentierte der Boss nach einer Weile und wandte sich an die nächste Sängerin. „Jetzt du!“
Als ich endlich an der Reihe war, sang ich so laut ich konnte.
„Ein Schnurrbarthaar tiefer, Kleine, und wenn möglich noch etwas lauter!“, kommentierte Moritz meinen Gesang.
Okay, das konnte er haben.
Ich sang so laut, dass ich die Augen schließen musste. Mein Lied erzählte von Abschied, von Sehnsucht und von meiner verlorenen Familie. Kurz, ich sang meinen ganzen Herzschmerz heraus.
Diesmal war es wohl in Ordnung, denn Kater Moritz unterbrach mich nicht.
Mein Klagegesang schien nicht nur ihm zu gefallen, denn kurz darauf stimmten alle anderen mit ein.
Unser mehrstimmiger Chor klang laut und wunderschön.
So schön, dass gegenüber plötzlich ein Fenster aufgerissen wurde.
Bevor wir wussten, wie uns geschah, landete ein riesiger Pantoffel polternd und furchteinflößend mitten zwischen uns auf dem Dach. Zu Tode erschrocken stoben wir auseinander. Fast wäre ich vom Dach gerollt. Ich konnte mich gerade noch halten und plumpste linkisch durch das Dachfenster, durch das wir vorhin eingestiegen waren. Wie von wilden Dämonen gejagt rannte ich die Treppen hinunter in mein Kellerversteck. Dort verharrte ich eine Weile, bis sich mein wild klopfendes Herz einigermaßen beruhigt hatte. Erst viel später wagte ich mich vorsichtig hinaus, um nach der graugetigerten Mieze Ausschau zu halten. Sie war zwar nirgends zu sehen, dafür aber deutlich zu hören.
Ich lief über den Schulhof und spähte nach oben zum Dach.
Und da sah ich sie.
Sie saß Kopf an Kopf mit Kater Moritz auf dem Dachfirst und sang mit ihm gemeinsam einen wunderschönen zweistimmigen Kanon. Die beiden sahen aus wie ein verliebtes Paar und schienen die Welt um sich herum über ihrem Gesang völlig vergessen zu haben.
Voller Bewunderung setzte mich nieder und lauschte beeindruckt.
Und ich schämte mich auch ein klein wenig, denn ich wäre wirklich gern so mutig gewesen wie die graugetigerte Mieze. Stattdessen war ich weggerannt und hatte mich versteckt.
War ich wirklich so ein dummes, verwöhntes Kuschelkätzchen?
Na wennschon.
Ich wollte gar nichts anderes sein. Ich wollte einfach nur nach Hause. Zurück zu meiner Familie.
Irgendwann übermannte mich die Müdigkeit und ich trottete in mein Kellerstübchen, wo ich mich allein und einsam im Herzen auf der alten Decke zusammenrollte und einschlief.