Kapitel 4
Die graugetigerte Mieze von gestern Abend saß knapp einen Meter von mir entfernt und blitzte mich mit ihren grünen Augen wütend an.
„Warum sitzt du hier herum und machst so einen Höllenspektakel? Hatte ich dir nicht gesagt, dass das mein Revier ist?“
„N-nein“, erwiderte ich schüchtern und mit mindestens zwei Pfoten zur Flucht bereit. „D-du hattest nur gesagt, d-dass es d-dein Schlafplatz ist.“
Sie legte den Kopf etwas zur Seite und musterte mich mit unverhohlener Neugier.
„Ist das etwa ein Grund, dass du plärrst wie ein Baby, so dass einem das Fell zu Berge steht?“
„Ich h-habe Hunger!“
„Als ob man vom Jammern satt wird!“ Missbilligend starrte sie mich an, aber es kam mir vor, als sei ihr Blick nicht mehr ganz so feindselig wie zu Anfang.
„Wo kommst du her? Ich habe dich hier noch nie gesehen“, fragte sie schließlich neugierig.
Da anscheinend keine unmittelbare Gefahr von ihr auszugehen schien, setzte ich mich zunächst abwartend auf meine Hinterpfoten.
„Ich wohne zu Hause bei meinen Zweibeinern“, gab ich bereitwillig Auskunft und fügte traurig hinzu: „Leider weiß ich nicht mehr genau, wo das ist.“
Die graugetigerte Mieze knurrte verächtlich.
„Hatten sie genug von dir und haben dich ausgesetzt?“
„Ausges…oh n- nein! Das haben sie nicht. Ich bin in einem fremden Auto mitgefahren und dann…“
„Bist du hier gelandet, verstehe. Dummkopf! Autos sind die Feinde aller Katzen. Die halten niemals wegen dir an. Denen darf man besser nicht zu nahekommen. Sie reißen ihre Mäuler auf, verschlucken dich und spucken dich woanders wieder aus. Und wenn du nicht schnell genug wegrennst und unter oder zwischen ihre Räder kommst, bist du so gut wie tot!“
Ich dachte sofort wieder an die riesigen Räder des bedrohlichen dunklen Monsters, dem ich gestern mit knapper Not entkommen war und senkte schuldbewusst den Kopf.
„Nun gut“, meinte die graugetigerte Mieze und blinzelte etwas versöhnlicher. „Du hast also Hunger.“
„Ja, sehr“, mauzte ich kläglich. „Gestern habe ich hier etwas zum Fressen gefunden, aber heute ist alles leer.“
„Dann komm mal mit. Wenn du schon einmal da bist, kann ich dir auch verraten, wo es genug Futter für uns beide gibt. Aber wir müssen vorsichtig sein.“
Aus einem Fenster über uns ertönte plötzlich ein lautes Gefiedel, Getrommel und mehrere helle Stimmen, die dazu sangen und quäkten.
Erschrocken sprang ich mit allen vier Pfoten in die Luft, sträubte das Fell und starrte entsetzt nach oben.
Die graugetigerte Mieze dagegen schien gänzlich unbeeindruckt von dem merkwürdigen Lärm.
„Beruhige dich. Das hier ist eine Musikschule“, erklärte sie mir mit wichtiger Miene. „Verstehst du, was ich meine? Hier lernen Kinder, wie man Menschenmusik macht. Es klingt grässlich und tut in den Ohren weh. Aber mit der Zeit gewöhnt man sich daran. Abends ist es dagegen schön ruhig, da sind sie alle weg. Und es gibt hier immer etwas zu fressen!“
Fressen!!!
Das war das Stichwort. Sofort grummelte mein Magen.
„Zeigst du mir jetzt, wo man etwas findet?“, fragte ich nachdrücklich und rieb mich vertrauensvoll an ihrer Seite. Das schien ihr nicht zu gefallen.
„Lass das, sonst holst du dir einen Floh“, warnte sie knurrend, worauf ich sofort wieder auf Abstand ging, während ich ihr hungrig zu den Mülltonnen folgte.
Und tatsächlich, hinter einer der Tonnen stand ein Teller, gefüllt mit allerhand leckeren Sachen: Wurst, Schinken, sogar etwas Katzenfutter.
Gierig machte sich die graugetigerte Mieze darüber her. Ich ließ ihr höflich den Vortritt, obwohl mein Magen knurrte und ich mich kaum zurückhalten konnte, aber die Ohrfeige von gestern hatte ich nicht vergessen.
Nach einiger Zeit, die mir wie eine Ewigkeit vorkam, machte die graugetigerte Mieze den Platz frei.
„Hier, friss!“, forderte sie mich auf. „Und lass nichts übrig, sonst legt sie morgen nicht so viel hin!“
Sie? Wer war sie?
Egal, ich machte mich über das reichliche Futter her und verputze alles bis zum letzten Krümel.
Wenig später lag ich sattgefressen neben der graugetigerte Mieze im Gras. Sie erzählte mir, dass sie früher auch bei einer eigenen Familie gelebt hatte. Eine Weile fand sie das toll, doch dann - so erinnerte sie sich - hatten der Mann und die Frau sich einen Hund angeschafft und da begann der Ärger.
„Hund und Katze, das ist wie Feuer und Wasser, das verträgt sich nicht“, erklärte sie mir.
Ich dachte an den Hund zu Hause in unserer Nachbarschaft. Wir beide hatten uns vertragen. Aber ich wollte meine neue Freundin nicht unterbrechen, denn ich war gespannt auf ihre weitere Geschichte.
Der Streit zwischen ihr und dem Hund wurde immer schlimmer, berichtete sie, und ich hörte deutlich die Traurigkeit in ihrer Stimme. Irgendwann war sie weggelaufen und lebte seitdem auf der Straße.
„Das ist doch schlimm, wenn man kein Zuhause hat“, bedauerte ich sie voller Mitgefühl, weil ich mich ja momentan in genau der gleichen Lage befand.
„Man gewöhnt sich daran“, erwiderte sie jedoch scheinbar ungerührt und putzte sich die Pfoten. „Immer noch besser, als wenn man jeden Tag damit rechnen muss, von so einem verwöhnten Köter in den Schwanz gebissen zu werden.“
„Hat er dich denn mal gebissen?“
„Er hat es versucht. Ich habe ihm ordentlich eins mit der Kralle auf die Nase gegeben, dass er wie wild gejault hat. Dafür habe ich dann allerdings großen Ärger bekommen. Sie haben mich angeschrien und nach mir getreten, und ich durfte nicht mehr ins Haus. Draußen lag Schnee, es war bitter kalt und ich dachte schon, ich muss erfrieren. Ich habe die ganze Nacht vor der Tür gesessen und gejammert, doch sie haben mich nicht wieder hineingelassen. Irgendwann hatte ich es satt. Ich bin einfach losgelaufen und habe mir eine eigene Bleibe gesucht. Habe mal hier und mal da übernachtet, immer auf der Suche nach etwas Fressbarem. Oft habe ich Mäuse gefangen, um zu überleben. Manchmal ist es mir auch gelungen, einen kleinen Müllkübel umzuwerfen und nach Futter zu durchsuchen.“
„Du Arme“, mauzte ich, den Tränen nahe, doch sie schniefte nur verächtlich.
„Halb so wild. Ich habe meine Freiheit, kann tun und lassen, was ich will und muss mich nicht von jemandem herumkommandieren lassen.“
Ich blinzelte nachdenklich, denn ich war alles andere als sicher, ob mir diese Art „Freiheit“ wirklich gefallen würde. Doch momentan hatte ich keine Wahl.
„Und nun wohnst du also hier“, nahm ich unser Gespräch nach einer Weile wieder auf
„Na ja, zumindest so lange, wie es mir gefällt und ich regelmäßig was zu Fressen bekomme.“
„Und wo kommt der Teller mit dem Futter her?“
„Da ist eine Frau. Sie wohnt im Haus gegenüber und stellt mir jeden Tag etwas Futter hin. Manchmal sehe ich sie auch in der Musikschule, mit den Kindern. Einmal hat sie bei den Mülltonnen auf mich gewartet und versucht mich zu streicheln, aber ich lasse mich von keinem Menschen mehr anfassen und habe sie ordentlich angefaucht. Seitdem bleibt sie auf Abstand.“
„Okay.“ Nachdenklich legte ich das Köpfchen auf meine Pfoten. „Also ich würde gern wieder nach Hause gehen. Zu meinen Zweibeinern.“
Die graugetigerte Mieze blinzelte.
„Vergiss es, Kleine. Die findest du nicht wieder. Und glaub mir, Menschen sind treulose Geschöpfe. Sie werden ganz sicher nicht nach dir suchen.“
Ich dachte lange über ihre Worte nach, hielt es jedoch für besser, darüber zu schweigen. Sie hatte mit ihren – wie hatte sie die doch gleich genannt? – Menschen nichts Gutes erlebt. Ich dagegen hatte bis vor Kurzem eine wirklich liebe Familie.
Bei dem Gedanken an sie erfasste mich eine weitere Welle der Sehnsucht und mein Katzenherz wurde erneut bleischwer.
Würde ich sie jemals wiedersehen?
Die graugetigerte Mieze gähnte und reckte sich.
„Lass uns ein Schläfchen machen. Später können wir uns am Teich einen Fisch zum Abendessen holen.“
„Ich habe noch nie einen Fisch gefangen“, gestand ich etwas beschämt.
Wie auch, bei uns gab es weit und breit keinen Teich. Nur einen kleinen Bach, ohne Fische. Da war ich einmal versehentlich hineingeplumpst. Seitdem wusste ich, dass Wasser in größeren Mengen unangenehm nass war…
„Kannst du eigentlich überhaupt etwas?“, entrüstete sich meine Begleiterin.
„Ich kann Mäuse fangen!“, erklärte ich stolz.
„Das kann ja wohl jede Katze“, erwiderte die graugetigerte Mieze unbeeindruckt und begann sich ausgiebig zu putzen.
Gekränkt wandte ich mich ab und leckte ebenfalls meine Pfoten.
Irgendwann hatte die graugetigerte Mieze ihre Katzenwäsche beendet und streckte sich wohlig im Gras aus.
„Na los, Kleine, ruh dich aus, dann sehen wir weiter.“
Die Sonne stand schon tief, als wir beide zum Fischfang loszogen.
Die graugetigerte Mieze vornweg und ich hinterher.
Sie führte mich an den Rand eines Weizenfeldes. So ein Feld kannte ich von zu Hause. Mein Jagdrevier, gleich hinter der Wildblumenwiese.
„Hier wimmelt es sicher von Mäusen“, sagte ich in der Hoffnung, sie umzustimmen und dadurch dem Wasser fernbleiben zu können, doch sie würdigte mich keines Blickes und marschierte unbeirrt weiter.
Hinter dem Feld begann der Wald, und dort gab es, gut verborgen hinter hohem Schilfgras, einen kleinen Teich, in dem es von Fischen nur so wimmelte.
„Du hockst dich ins hohe Gras und bleibst ganz still sitzen. Geduld ist das Wichtigste. Fische sind dumm. Irgendwann fühlen sie sich sicher und kommen an die Oberfläche. Dann musst du bereit sein. Ducken… Muskeln anspannen… im richtigen Moment mit der Pfote zuhauen und den Fisch aus dem Wasser werfen. Danach gehört er dir, denn ohne Wasser kann er nicht weg und zappelt nur noch wild umher.“
Okay, das klang relativ einfach.
War es aber nicht …
„Tölpel!“, fauchte die graugetigerte Mieze, nachdem mir bereits der dritte Fisch entwischt war und ich uns beide durch meine unkontrollierte Pantscherei ordentlich nass gespritzt hatte. „Was für ein dummes, verwöhntes Kuschelkätzchen!“
An diesem Abend ging ich mit leerem Magen schlafen.