Lucius ging auf Severus' Einladung ein. Sein Freund hatte recht als er sagte er sei ein Esel. Etwas in ihm verfiel immer wieder der Eifersucht, doch sein Verstand sagte Lucius, dass es dazu eigentlich keinerlei Grund gab. Severus hatte ihm Narzissa nicht wirklich weg genommen. Sie hatten sich schon vorher auseinander gelebt. Dracos Tod hatte das nur offensichtlich gemacht.
Lucius zog sich sein besseres Hemd sowie Anzug und Krawatte an, bevor er bei Severus Zuhause erschien. Er kannte das alte Landhaus noch von früher. Vermutlich war Lucius einer der wenigen Menschen, die sich das Recht erworben hatten sein richtiges Zuhause sehen zu dürfen und nicht nur Severus' konspirative Wohnung in Spinners End. Er klingelte und wartete. Sein Freund öffnete ihm die Tür. Er war leger in ein weißes Hemd gekleidet und seine Hosenträger baumelten den Seiten herunter. Lucius überlegte für einen Moment, ob er nicht etwas overdressed war, aber nein, er war hier der Gast. Da schickte es sich nicht sich so informell zu kleiden.
Severus umarmte ihn freundschaftlich und wies ihn hinein.
„Schön, dass du gekommen bist.“, sagte Severus.
Er brachte ihn ins Wohnzimmer an den Esstisch, der bereits reich gedeckt war. Auf dem Boden tollte Severus' Tochter Violet in einer Latzhose herum. Er hatte sie das letzte Mal zu ihrer Geburt gesehen. Damals war sie völlig Kahl auf ihrem Köpfchen gewesen. Jetzt hingegen wuchs ihr dichtes, rabenschwarzes Haar, das nicht von ungefähr an das ihres Vaters erinnerte. Sie blicke Lucius mit ihren großen Augen an und zeigte mit ihrem kleinen Finger auf ihn.
„Dada!“, machte Violet.
Severus hob sie hoch und nahm sie auf den Arm.
„Das ist Onkel Lucius. Sag hallo.“, sagte Severus und nahm ihren kleinen Arm und tat so als ob sie winken würde.
„Onkel Lucius?“, fragte ebenjener etwas steif.
„Wie soll ich dich sonst nennen? Großvater?“, sagte Severus.
„Nein, Onkel ist schon angemessen, denke ich.“, antwortete Lucius.
Narzissa kam herein. Sie trug ein langes, grünes, figurbetontes Kleid. Er wusste ja, dass sie solche Kleider liebte und es nicht zu aufwändig mochte. Sie nickte ihm zu und nahm Severus Violet ab.
„Lucius.“, sagte sie freundlich zur Begrüßung. „Ich bringe Violet ins Bett und dann bin ich gleich für euch da.“
Narzissa verschwand die Treppe nach oben. Zwischen Lucius und Severus entstand eine peinliche Pause. Sein Freund holte schließlich eine Flasche Wein aus einem Schrank in der Küche, entkorkte ihn und schenkten ihnen Dreien schon mal ein.
„Setz dich doch.“, sagte Severus und wies an den Platz am Kopf des Tisches.
Lucius ließ seinen Blick über den Tisch schweifen. Es gab Steak und Würstchen mit gebackenen Kartoffeln und Minzsoße. Es wirkte erstaunlich einfach. In Malfoy Manor übernahm immer die Dienerschaft das Kochen. Entsprechend war Lucius wesentlich Aufwändigeres gewohnt. Zugegeben, er hatte seine Ex-Frau nie kochen gesehen.
„Hat Narzissa das gekocht?“, fragte Lucius, um die Stille zu durchbrechen.
Severus lachte hohl.
„Was ist so lustig?“, fragte Lucius.
„Böse Zungen würden behaupten, dass die Zaubertrankbrauerei doch auch nichts anderes wäre als das Kochen in einer Küche.“, entgegnete Severus.
„Du?“, fragte Lucius verblüfft.
„Der alte Griesgram kann Essen zubereiten. Was sagt man dazu?“, sagte Severus sichtlich belustigt.
„Ich hätte dich nur nicht für den Typ gehalten.“, antwortete Lucius.
„Hat dir schon mal jemand gesagt wie veraltet es in deinem Kopf zugeht, Lucius?“, erwiderte Severus.
„Ja ...“, begann Lucius langsam. „... so ist das wohl mit uns Aristokraten. Ich weiß, du hast nie viel davon gehalten.“
„Ich bin ein Arbeiterkind aus einem südenglischen Fischerdorf. Da wächst man nicht gerade mit Ehrfurcht vor der Monarchie auf.“, entgegnete Severus.
Mit einem Mal mussten sie beide losprusten. Es erinnerte ihn an früher als sie noch in der Schule waren. Severus und Lucius passten auf den ersten Blick gar nicht zusammen. Ein Halbblüter aus der Unterklasse und der Sohn eines reinblütigen Adligen, aber sie verstanden sich ab ihrem ersten Tag in Hogwarts. Vielleicht gerade weil sie so unterschiedlich waren. Sein Vater ging an die Decke als er erfuhr mit welchem „Gesindel“ sein Sohn sich abgab, doch Lucius fürchtete weder die langen Reden seiner Mutter noch die Schläge seines Vaters. Irgendwann fanden sie sich damit ab, dass er und Severus beste Freunde waren.
Narzissa kam wieder herein und fand die beiden lachend auf dem Tisch liegend vor.
„Ich habe was verpasst, richtig?“, sagte sie feststellend und setzte sich ihrem Mann gegenüber.
Lucius und Severus brauchten noch einen Augenblick ehe sie sich wieder fingen. Sein Freund nahm sein Weinglas und erhob es.
„Darauf“, sagte Severus als er wieder ganz der Alte war. „dass nicht nur ich von allen Vorwürfen freigesprochen wurde, sondern auch darauf, dass wir hier so friedlich sitzen können. Es ist Zeit die Ruhe zu genießen.“
Die Drei stießen sachte an und jeder nippte an seinem Wein. Anschließend begannen sie zu essen. Zu Lucius eigener Überraschung war die Stimmung ausgelassen. Sie redeten und scherzten, tranken noch mehr Wein und Lucius überkam ein seltsam wehmütiges Gefühl. Es erinnerte ihn an Zeiten als die Welt einfacher schien. Vor dem Krieg. Vor den Todessern.
„Ich habe eine Bitte.“, sagte Lucius am späten Abend, als sie ihre Teller geleert und den Wein ausgetrunken hatten. Er hatte lange überlegt, ob er diesen Wunsch äußern sollte und vor allem wie. „Dracos erster Todestag jährt sich bald. Ich dachte wir könnten gemeinsam zum Friedhof gehen und ihm die Ehre erweisen.“
Severus und Narzissa sahen sich für einen Augenblick an. Lucius war nicht sicher wie sie reagieren würden und rechnete schon mit einer festen Absage als Severus schließlich nickte.
„Natürlich können wir das tun.“, sagte Severus. „Gar keine Frage.“
„Tatsächlich?“, fragte Lucius überrascht.
Narzissa verdrehte die Augen auf eine Art, die er nur zu gut kannte. Es hieß, dass er sie gerade mehr als nur beleidigt hatte.
„Weil du ja der Einzige bist, der ihn vermisst, richtig?“, sagte Narzissa schnippisch.
„Also das habe ich nicht ...“, begann Lucius, doch Severus hob gebieterisch die Hände.
„Keinen Streit!“, sagte er bestimmt. „Wir sind uns vermutlich einig, wenn ich sage, dass Draco für uns alle wie ein Sohn war. Es würde uns allen gut tun ihn noch einmal zu sehen.“
„Heute so diplomatisch?“, entgegnete Narzissa zu ihrem Mann.
„Ich kann das durchaus, wenn ich will.“, antwortete Severus lächelnd.
Lucius fiel ein Stein vom Herzen. Auch wenn es Narzissa schon wieder in den falschen Hals bekam, so bedeutete es ihm viel, dass sie ihn zum Friedhof begleiten wollten. Lucius wusste, dass er nicht der Einzige war, der trauerte und er hoffte, dass es ihm und Narzissa half dieses Kapitel endlich hinter sich zu lassen. Sie würden ihren Sohn für immer vermissen, doch er hatte über Severus' Worte nachgedacht. Es war Zeit ein neues Kapitel aufzuschlagen.
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Severus und Narzissa nahmen Lucius' Bitte sehr ernst. Sie trugen dem Anlass entsprechend schwarze Kleidung. Auch Violet trug einen schwarzen Pullover und eine schwarze Hose. Auf ihrem Kopf saß eine graue Strickmütze. Sie klammerte sich an Severus schwarze Robe und legte ihren Kopf an seine Schulter. Fast als wüsste seine Tochter schon warum sie hier waren.
Lucius erwartete sie am Tor des Friedhofs. Auch er trug schwarz. In seiner Hand einen Strauß mit weißen Rosen. Narzissa hatte ebenfalls etwas mitgebracht. Keine Blumen, sondern ein gerahmtes Foto ihres Sohnes. Es zeigte Draco wie er im Profil posierte und dem Betrachter zu lächelte. Severus konnte sich erinnern, dass der Junge die letzten beiden Jahre seines Lebens nicht besonders viel zu lachen hatte. Das Bild musste also schon etwas älter sein.
Sie gingen schweigend über den Friedhof, hin zu Dracos Grab. Der Grabstein war mit dem Familienwappen der Malfoys verziert. Darunter stand:
DRACO LUCIUS MALFOY
5. Juni 1980 – 2. Mai 1998
Lucius legte seinen Rosenstrauß auf das Grab und Narzissa stellte das Bild ihres Sohnes an den Stein. Sie wollte, dass man sah, dass er glücklich war. Schweigend standen sie da. Keiner sagte etwas, doch Severus bemerkte, dass Lucius krampfhaft versuchte seine Tränen zu unterdrücken. Er war bei weitem nicht mehr so versteinert wie bei der Beerdigung. Im Gegenteil. Severus hörte wie sein Freund schwer Luft holte und dann, ohne Vorwarnung, vor dem Grab auf die Knie sank. Er begann laut zu weinen. Lucius war nie jemand gewesen, der seine Emotionen öffentlich zeigte. Die Maske, die er so lange im Namen der Familie Malfoy getragen hatte, sie zerbrach.
Narzissa kniete sich neben ihn und nahm ihn in den Arm.
„Ich vermisse ihn so sehr.“, schluchze Lucius und vergrub sein Gesicht in seinen Händen.
Severus hatte ihn noch nie so weinen sehen. Auch Narzissa rannen stille Tränen die Wangen hinab. Severus hielt sich mit Violet auf dem Arm im Hintergrund. Er wollte den beiden diesen emotionalen Moment nicht zerstören. Severus war Dracos Pate gewesen. Er hatte ihn aufwachsen sehen und war sein Lehrer in Hogwarts. Im sechsten Schuljahr hatte er Draco vor sich selbst und den Todessern gerettet indem er Dumbledore tötete als Draco es nicht konnte. Und dann starb er einfach in einem Krieg, den der Junge nicht einmal verstand. Ohne die Geschichten der anderen über den glorreichen Dunklen Lord wäre er vermutlich nicht so sorglos mit seinem Leben umgegangen. Severus dachte manchmal er hätte mehr tun müssen. Er hätte Draco retten müssen. Ihn abhalten müssen Ruhm in der Schlacht zu suchen, aber Severus wusste noch genau wie er mit achtzehn war. Der Drang sich zu beweisen konnte übermächtig sein. Severus war kaum älter als er das gleiche versuchte und wenn er daran dachte wohin ihn das geführt hatte, dann spürte er Ekel vor sich selbst.
Lucius und Narzissa knieten lange vor dem Grab ihres Sohnes und hielten sich in stiller Verzweiflung aneinander fest. Severus war es unangenehm. Er entfernte sich ein Stück mit Violet auf dem Arm. Schließlich erhoben sich die beiden, wischten ihre Tränen weg und umarmten sich noch einmal freundschaftlich.
„Alles in Ordnung?“, fragte Severus vorsichtig.
„Ja.“, sagte Lucius mit schwacher Stimme. „Und du hattest recht, Severus. Man muss ein neues Leben anfangen, sonst geht man an dem Gefühl zu Grunde.“
Er nickte ihm zu. Als Severus von Lilys Tod erfahren hatte da hätte er sich am Liebsten umgebracht. Es war Dumbledore gewesen, der ihn davon abhielt. Er erinnerte ihn daran, dass das Leben weiter ging, trotz aller Verluste und all dem Schmerz und das es etwas gab wofür es sich zu Kämpfen lohnte. Seine Rache- und Schuldgefühle hatten ihn lange Zeit zerfressen, doch er hätte keine zwanzig Jahre in dieser Schule durchgehalten, wenn er immer nur davon erfüllt gewesen wäre. Zerstreuung hatte ihm geholfen und Minerva, die ebenfalls nicht mehr unter ihnen weilte. Severus war sich sicher, dass sie sich manchmal wie sein Kindermädchen fühlte, andererseits half sie ihm indem sie Worte fand, wenn er kurz davor war seinen Verstand vor Verzweiflung zu verlieren. Sie wäre sicher eine viel bessere Schulleiterin als er gewesen.
Mit Abstand betrachtet war es jedoch Narzissa gewesen, die ihn von seinem Schmerz und seinen Schuldgefühlen heilte. Sein Leben neu zu ordnen und jemand kennen zu lernen, der einen verstand, das war es, was ihn befreite. Severus wünschte sich für Lucius, dass er eines Tages auch frei sein würde. Jetzt war es dafür aber noch zu früh. Er wollte sich nicht vorstellen wie verstört er wäre, wenn Violet etwas zustieße. Er kannte mittlerweile das Gefühl wie es war sein Kind zu lieben. Es zu verlieren war unvorstellbar.
„Sollen wir dich nach Hause bringen?“, fragte Severus.
„Nein.“, antwortete Lucius. „Nein, ich schaff das schon.“
„Schick mir eine Eule, wenn es dir nicht gut geht.“, sagte Narzissa.
Lucius nickte still. Severus nahm die Hand seiner Frau. Er streichelte ihr sanft mit dem Daumen über den Handrücken. Schweigend standen sie noch eine ganze Weile beieinander. Schließlich ging Lucius alleine davon und disapperierte.
Narzissa lehnte sich an Severus' Schulter.
„Ich dachte nicht, dass mich das so mitnehmen würde.“, sagte sie leise.
„Niemand verbietet dir zu trauern. Dieser Schmerz wird nicht besser mit den Jahren.“, antwortete Severus ihr.
„Lass uns gehen.“, sagte Narzissa.
Hand in Hand ging die kleine Familie davon. Ein neues Leben wartete auf sie.