Die erste Schulwoche gestaltete sich für Severus Snape äußerst zäh. Er hatte die letzten Tage damit verbracht Harry Potter so gut es ging aus dem Weg zu gehen. Unweigerlich würden sie jedoch im Zaubertrankunterricht aufeinander treffen. Normalerweise zog Severus bei den Erstklässlern immer sein übliches Programm ab. Er stürmte hinein, baute sich furchteinflößend auf und erzählte etwas davon, dass es in seinem Unterricht garantiert kein Zauberstabgefuchtel gäbe. Dieses Mal jedoch funktionierte es nicht. Severus war wie blockiert als er vor der Klasse stand und ihn alle erwartungsvoll ansahen. Er räusperte sich, um Zeit zu schinden und schnappte sich das Klassenbuch vom Tisch. Ohne groß Worte zu verlieren ging er die Namensliste durch und prüfte die Anwesenheit. Bei „Potter, Harry“ blieb er jedoch hängen.
Severus sah zu dem Jungen, der neben seinem Patensohn Draco saß und ihn ansah. Sollte er etwas sagen? Irgendetwas? Oder lieber so tun als habe er keinen Schimmer wer da saß? In seiner Klasse? In seinem Haus? Was hätte Minerva getan, wenn er in Gryffindor gelandet wäre? Vermutlich hätte sie ihn ignoriert und ihn höchstens getadelt, wenn er zu spät kam. Vielleicht sollte er das auch tun? Aber er war nicht wie Minerva.
„Sir?“, fragte Harry vorsichtig, weil Severus ihn nur anstarrte statt fortzufahren.
„Ich … ähm, also … wo waren wir?“, sagte Severus und las die Liste weiter vor.
Anschließend begann er ohne weiter auf die Schüler zu achten seinen Unterrichtsstoff an die Tafel zu schreiben und forderte sie auf mitzuschreiben. Seine Lust an Kommunikation mit auch nur irgendjemanden im Raum war förmlich ins bodenlose gesunken.
Als es irgendwann zum Ende der Stunde läutete gab sich Severus dann doch einen Ruck.
„Mister Potter, kommen Sie in mein Büro.“, sagte er. Verwirrt trabte Harry ihm hinterher in das kleine muffige Zimmer, welches mit Regalen voller Schriftrollen und Zutaten in Einmachgläsern gefüllt war. Er wies Harry auf den kleinen Hocker vor seinem Schreibtisch auf den schon Generationen von Schülern gezittert hatten, wenn er sie mit Strafarbeiten belegte.
„Nun, ich weiß nicht so recht, wo ich anfangen soll ...“, sagte Severus leise. „Sicher hat man dir bereits das eine oder andere über uns erzählt.“
„Sie meinen diese Geschichten mit den schwarzen Magiern?“, fragte Harry offen heraus.
„Zum Beispiel.“, antwortete Severus.
„Draco sagte das wären alles Märchen von den Gryffindors.“, sagte Harry.
„Mister Malfoy hat ein viel zu loses Mundwerk.“, gab Severus zu bedenken.
„Stimmt es, dass Sie sein Onkel sind?“, fragte Harry.
„Ich bin sein Pate.“, antwortete Severus. Natürlich musste Draco das ausgerechnet Harry Potter erzählen! „Nun, die Sache ist die, ich bin dein Hauslehrer. Ich will nicht widersprechen, wenn es darum geht, dass das Haus Slytherin einige schlimme Menschen hervorgebracht hat, aber das heißt nichts. Wir sind genauso gut oder schlecht wie alle anderen auch. Ich möchte nur nicht, dass du glaubst du musst hier irgendein Ideal erfüllen. Und hör' nicht so viel auf Mister Malfoy. Er weiß nämlich nicht, wann er den Mund zu halten hat!“
„Darf ich Sie etwas fragen?“, sagte Harry.
„Hmm.“, machte Severus.
„Kannten Sie meine Eltern?“
„Wie kommst du darauf?“, wich Severus dieser explosiven Frage aus.
Harry zuckte mit den Schultern.
„Na ja, jeder hier scheint etwas über sie zu wissen, nur ich nicht.“
„Ja, ich kannte sie.“, antwortete Severus. „Aber das ist kein Thema, was wir jetzt erörtern sollten.“
„Warum nicht?“, fragte Harry.
„Weil es zu kompliziert ist und deine Pause gleich vorbei ist.“, antwortete Severus.
Harry sah auf seine Uhr.
„Oh Mist!“, sagte er und sprang auf.
Severus erhob sich geleitete ihn zur Tür. Als Harry verschwunden war lehnte er sich gegen die massive Eichentür und atmete aus. Er hatte es geschafft ein Gespräch über die Potters zu führen ohne aus der Haut zu fahren. Das war mehr als er von sich selbst erwartet hätte. Nur ungern würde er dieses Gespräch weiter führen. Sicher hatte er von allen gehört wie toll James und Lily Potter waren. Das sie Helden waren und sich geopfert hatten! Severus wusste, dass er es nicht schaffen würde zu lügen und in diesen Sermon einzustimmen. Zu stark war der Konflikt, den er all die Jahre mit ihnen geführt hatte und als er bereit gewesen wäre sich zu öffnen und einen Schritt auf sie zu zu gehen da war es zu spät.
Severus wollte dieses Gespräch nicht führen! Sollten Albus und Minerva ihm doch erzählen wie toll seine Eltern waren! Er konnte das einfach nicht!
Zweifellos würde der Junge ihn sicher noch einmal fragen. Er wusste ja wie Kinder waren und die Tatsache, dass Harry offenbar der einzige war, der nichts über sich selbst wusste würde diesen Drang nur verstärken.
Severus verließ sein Büro und das Klassenzimmer. Er brauchte frische Luft. Vor dem Schloss setzte er sich auf die Treppenstufen. Er griff in die Innenseite seines Jacketts und holte ein Päckchen Zigaretten heraus.
„Rauchverbot, Severus!“, hörte er Minerva tadelnd. „Warum muss ich Sie immer ermahnen wie einen Viertklässler?“
Severus zog sich trotzdem eine Zigarette aus der Schachtel und zündete sie sich mit seinem alten Feuerzeug an. Tief atmend ließ sich Minerva neben ihm auf der Treppe nieder.
„Er hat mich nach seinen Eltern gefragt.“, sagte Severus nachdem er den ersten Zug genommen hatte.
„Natürlich hat er das. Jeder redet von der Nacht als sie starben und will seine Narbe sehen.“
„Ich nicht.“, antwortete Severus.
„Sie sind sein Hauslehrer, Severus. Seine neue Bezugsperson. Natürlich fragt er Sie.“, sagte Minerva. „Sehen Sie es positiv. So haben Sie ihn immer im Blick.“
„Ich frage mich nur die ganze Zeit wie das gehen soll. Er sieht genauso aus wie James.“
„Hmm, aber die Augen hat er von Lily.“, sagte Minerva.
„Ja, jetzt gießen Sie bloß noch Öl ins Feuer!“, entgegnete Severus ungehalten.
„Sie sind nicht darüber hinweg, oder?“, fragte Minerva.
„Wie soll man über so etwas jemals hinweg kommen?“, antwortete Severus.
Ja, er hatte Lily Evans geliebt und ihren Ehemann für seine bloße Existenz gehasst. Und jetzt hatte er ihren Sohn jeden Tag vor der Nase sitzen. Als schmerzvolle Erinnerung daran, was er getan oder besser nicht getan hatte.
„Sie dürfen sich deshalb nicht so quälen.“, sagte Minerva.
„Aber genau das tut es. Jeden Tag. Ich bin doch schließlich kein depressiver Eisklotz, weil mir sonst langweilig wird.“, entgegnete Severus.
„Solange Sie zu Sarkasmus fähig sind kann es so schlimm nicht sein.“, sagte Minerva und erhob sich.
Severus lachte hohl. Angriff war die beste Verteidigung, nicht wahr?
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Harry wusste nicht so recht, was er von Professor Snape halten sollte. Er verhielt sich ihm gegenüber seltsam. Distanziert und gleichzeitig war ihm als wollte dieser Mann etwas von ihm. Die Frage nach seinen Eltern war reine Intuition gewesen. Jeder schien etwas über Harry zu wissen, nur er fühlte sich als würde er im Trüben fischen. Antworten. Er wollte Antworten darauf wer er war und wo er herkam. War das so seltsam? Die anderen hatten ihre Eltern noch. Harry hingegen hatte nur elf Jahre bei den Durselys verbracht, die ihm absolut alles verheimlicht hatten. Sie hatten ihn wie Müll behandelt und ihn das bei jeder Gelegenheit spüren lassen. Fragen nach seinen Eltern waren regelrecht verboten. Und hier, in der magischen Welt, schien ihn jeder besser zu kennen als er sich selbst.
Allerdings hatte Snape recht, was Draco betraf. Er wusste nicht, wann er die Klappe zu halten hatte. Immerzu musste er vor den anderen herum prahlen und konnte seinen Mund nicht halten. Harry nervte das manchmal. Was Ron und Hermine wohl gerade machten? Er sah sie nur in den Pausen vorm Unterricht. Immer wenn er zu ihnen gehen wollte, um Hallo zu sagen brach er sein Unterfangen ab, weil die anderen ihn so anschauten. Es waren diese Blicke. Er kannte sie noch von früher von den Dursleys und aus der Schule. Sie sahen ihn an als sei er irgendwas komisches, krankhaftes, dass weg musste. Manchmal fragte sich Harry, ob das für immer so sein würde, ob ihn immer alle so ansehen würden, für den Rest seines Lebens?
In dieser Woche gab es jedoch noch etwas, dass ihn begeisterte. Sie durften das erste Mal auf einem Besen sitzen. Harry fürchtete er würde sich restlos blamieren. Nicht zuletzt, weil Draco ständig prahlte wie gut er das schon alles könne. In ihrer ersten Stunde bei Madam Hooch jedoch bemerkte er, dass die meisten es auch noch nicht konnte. Ein Junge aus Gryfindor namens Neville entpuppte sich dabei als regelrechte Katastrophe. Vor lauter Angst stieg er immer höher und höher in die Luft und sein Besen, völlig außer Kontrolle, raste wild hin und her bis er Neville schließlich abwarf und dieser wie ein Häufchen Elend auf dem Boden liegen blieb. Madam Hooch, ihre Fluglehrerin, brachte ihn in den Krankenflügel.
„Habt ihr das Gesicht von diesem Idioten gesehen?“, machte Draco sich lustig. „Uh und sieh mal, er hat sein Erinnermich verloren. Der Arme Trottel!“
„Draco, lass es!“, ermahnte Harry ihn. Weniger aus Mitleid, sondern weil ihn Dracos Gebaren nervte.
„Was ist los mit dir, Harry?“, fragte Draco verwundert.
„Was mit mir los ist? Du bist los! Du nervst tierisch, Draco! Wem willst du eigentlich was beweisen?“, entgegnete Harry.
Draco nahm seine Worte leider nur als Herausforderung wahr.
„Also schön, dann versteck ich's, wo der kleine Schlaffi es niemals findet. Zum Beispiel auf dem Dach!“
„Lass es sein!“, sagte Harry laut und trat auf Draco zu. Der stieg jedoch auf seinen Besen und stieß sich vom Boden ab.
„Du willst es haben, Harry? Komm, dann hol es dir!“, rief Draco.
Harry wusste, dass es dumm war, doch er nahm seinen Besen und flog Draco hinterher. Die anderen Schüler beobachteten das Ganze mit einer Mischung aus Spannung und Grauen.
„Draco, gib mir das Erinnermich!“, rief Harry ihm zu.
„Warum?“, sagte Draco erneut. „Was bist du für ein Slytherin, wenn du dich für so einen Nichtskönner einsetzt? Vielleicht hat der Hut dich ja doch ins falsche Haus gesteckt?“
Das reichte! Harry schoss auf Draco zu. Dieser wich ihm erschrocken aus und warf das Erinnermich mit einem kräftigen Wurf davon. Harry raste ihm hinterher und fing es ganz knapp über dem Boden wieder auf. Erst durch einen lauten Pfiff vom Boden wurde ihm gewahr, was er gerade getan hatte. Als Harry hinüber schaute entdeckte er Madam Hooch und Professor McGonnagal und zu allem Überfluss auch noch Professor Snape. Sicher gäbe das jede Menge Ärger. Draco, der bereits wieder am Boden war durfte sich bereits eine Standpauke von Madam Hooch anhören. Als Harry am Boden landete gab er jedoch zunächst das Erinnermich Hermine.
„Mister Malfoy! Mister Potter! Mitkommen! Sofort!“, hörte er Snape sichtlich verärgert rufen. Wortlos folgten sie ihm hinunter in die Kerker. Als sich Tür des Büros jedoch hinter ihnen schloss brach ein regelrechter Redeschwall sowohl aus Draco als auch aus Harry hervor.
„Er hat Nevilles Erinnermich geklaut ...“
„Ja, aber dieser Trottel ...“
„Du hattest kein Recht ...“
„Na und? Dieser Idiot ...“
„RUHE!“, schrie Snape plötzlich. Dabei zuckte Draco jedoch deutlich mehr zusammen als Harry. Offensichtlich war er es nicht gewöhnt von ihm angeschrien zu werden.
„50 Punkte Abzug für Slytherin! Für jeden von euch! Weil ihr euer Haus und nicht zuletzt mich bis auf die Knochen blamiert habt mit eurem Verhalten!“
„Ja, aber …!“, wollte Draco einwerfen, doch Snape brachte seinen Neffen mit einem gefährlich erhobenen Zeigefinger zum Schweigen.
„Am liebsten würde ich euch beide in einen Sack stecken und drauf hauen, aber da die Prügelstrafe nicht mehr erlaubt ist werdet ihr mit vier Wochen Strafarbeiten bei mir vorlieb nehmen müssen.“, sagte Snape wütend.
Draco sah seinen Onkel mit offenen Mund an als könne er es nicht fassen. Zugegeben, das sorgte bei Harry dann doch für eine gewisse Genugtuung. Es war so offensichtlich, dass er nie geglaubt hätte, dass Snape ihn ernsthaft bestrafen würde.
„So!“, machte Snape, lehnte sich an seinen Schreibtisch und verschränkte die Arme vor der Brust. „Raus mit der Sprache! Wer hat angefangen?“
„Neville hatte nach seinem Unfall sein Erinnermich verloren. Draco hat sich über ihn lustig gemacht und meinte er wolle es auf dem Dach verstecken. Ich wollte ihn daran hindern.“, sagte Harry.
„Und was hat die Verteidigung dazu zu sagen?“, fragte Snape Draco.
„Also ich … ja, gut, es stimmt. Longbottom ist halt so ein Schlappschwanz! Das so was überhaupt als Zauberer in der Schule aufgenommen wird!“
Snape trat einen Schritt auf seinen Neffen zu und baute sich vor ihm auf. Der Mann war eh schon groß, aber auf diese Weise wurde er regelrecht gigantisch und Draco Malfoy erschreckend klein.
„Damit wir uns verstehen, Mister Malfoy, so etwas werde weder ich noch irgendjemand sonst in dieser Schule dulden!“, sagte Snape gefährlich. „Ich weiß von wem du das hast, aber eines sage ich dir, bei mir wirst du damit keinen Blumentopf gewinnen. Also reiß dich gefälligst zusammen, sonst wirst du dir irgendwann wünschen Punkteabzug und Strafarbeiten wären das Einzige, was du von mir dafür bekommst!“
Draco schwieg sichtlich angefressen.
„Und nun zu dir, Harry Potter.“, sagte Snape und wandte sich ihm zu.
„Ich gestehe.“, antwortete Harry knapp. „Ich habe das Erinnermich gefangen. Vermutlich wäre es besser gewesen nichts zu tun.“
„Ganz und gar nicht.“, antwortete Snape langsam. „Mister Mafoy, Sie können gehen.“
Draco blickte Snape an und sah dann von ihm zu Harry und wieder zurück.
„Hast du mich nicht gehört?“, fragte Snape. Etwas Finsteres in sich hinein murmelnd verließ Draco schließlich das Zimmer.
„Draco sagte der Hut hätte mich in das falsche Haus gesteckt, weil ich Neville verteidigen wollte.“, sagte Harry.
„Ein Slytherin zu sein bedeutet nicht zwangsläufig andere zu quälen. Das Problem ist eher, dass Draco wohl glaubt bestimmten Vorbildern nacheifern zu müssen.“, sagte Snape.
„Sie meinen solche wie Voldemort?“, fragte Harry.
„Wenn du aufhörst deine Mitmenschen zu verteidigen bist du weder ein guter Slytherin noch ein guter Mensch. Lass dir von keinem etwas anderes einreden.“, sagte Snape.
„Sie klingen ganz anders als die anderen.“, sagte Harry.
„Welche anderen?“, fragte Snape.
„Na ja, solche wie Draco.“
„Mein Patensohn ist großspurig, nichts weiter. Das liegt wohl an seiner Erziehung. Er faselt nur das Gewäsch seiner Eltern nach.“
„Sie scheinen anderer Meinung zu sein.“, schloss Harry.
„Sagen wir einfach, ich bin groß genug, um eine eigene Meinung haben zu können.“, erwiderte Snape.
Harry nickte. Er erhob sich und ging.