Tabita betrachtete das Schiff, das vor ihnen lag. Die Jorohne waren gute Schiffsbauer, in den letzten fünfunddreißig Jahren hatten sie sich immer weiter verbessert und in der Zwischenzeit ankerte eine gesamte Flotte vor Yarill. Dieses Schiff trug den Namen Niamey, nach dem Eroberer Ciyens. Es besaß zwei Masten und war riesig. Tabita kannte sich mit Schiffen nicht besonders gut aus, doch sie konnte gut erkennen, dass dieses Schiff nicht viel mit den Schiffen der Hersor gemein hatte, die dafür gebaut waren, viel Ware zu transportieren und auf Flüssen zu fahren.
Die Niamey besaß zwei Masten, die mit Lateinersegeln bespannt waren. Das Schiff maß in etwa dreiundzwanzig Schrittlängen. Es besaß ein Bug-; Heck- und Mastkastell und es war deutlich erkennbar, dass dieses Schiff ein Kriegsschiff war, kein Handelsschiff. Tabita sah sich zu Joshua um. Er nickte schweigend. Langsam traten sie an Bord, das Holz knarrte unter ihren Stiefeln. Das Schiff war nicht leer, Matrosen beluden das Schiff, es waren überwiegend Elben und Menschen, doch Tabita entdeckte auch zwei Hersor. Sie gingen zu Nichos und Arzaya, die mit einer Hersora, an der Reling standen.
„Tabita, Joshua.“, begrüßte Nichos sie, „das ist Narichre, eure Kapitänin.“.
Tabita sah die Hersora überrascht an, sie war ihr schon einige Male begegnet. Sie war die einstige Stammesfürstin des hersorischen Stammes der Tiril und lebte seit einiger Zeit in Yarill, wo sie Schiffe entwarf.
„Sariel, Narichre. Es freut mich, dich zu sehen.“.
„Sariel, Tabita. Sariel, Joshua. Es ist mir eine Ehre eure Kapitänin sein zu dürfen.“.
„Du bist willkommen, Narichre, vom Volk der Hersor.“, erwiderte Tabita lächelnd.
„Hast du das Schiff entworfen?“, fragte sie, während sie bewundernd über das dunkle Holz der Reling strich.
„Teilweise, es braucht mehr als eine Person, um ein Schiff zu bauen. Doch die Niamey ist das Beste, an dem ich je mitarbeiten durfte. Und ich hoffe wir bringen sie heil wieder zurück.“.
„Das hoffe ich auch.“, murmelte Tabita kaum hörbar.
Doch die Hersora hatte sehr gute Ohren und legte ihr kurz die Hand auf den Arm, bevor sie davoneilte und Befehle brüllte.
„Du hast gesagt, du hast das Schiff bewaffnet, Nichos?“, erkundigte sich Joshua, der das Schiff gründlich betrachtete.
„Ja, Waffen haben wir.“, erklärte dieser, „Doch sie sind gefährlicher, als alles was ihr bisher kennt.“. Er runzelte die Stirn.
Sie folgten ihm ins Innere des Schiffes. „Dieses Schiff hat drei Decks. Unten sind die Ruder, in der Mitte das Gepäck, sowie die Tiere. Und im obersten sind die Waffen.“. Sie stiegen die Treppe herunter und Nichos zeigte um sich. Auf dem Holzboden standen hölzerne Wagen mit langen, metallenen Rohren, die auf die Schiffswand zeigten, in die Luken eingelassen waren. „Was ist das?“, fragte Joshua und klopfte eines der Rohre ab.
„Wir nennen sie Dondisos.“.
„Waffen des Todes.“, übersetze Tabita leise.
„Ihr würdet sie wohl Kanonen nennen. Sie sind gefährlich, Tabita und eine tödliche Waffe. Sie sind eine Erfindung meines Volkes und sie wären besser im Geheimen geblieben, doch das Meer ist voller Gefahren und wenn diese Waffen euch vor diesen beschützen können, damit ihr den Frieden bewahren könnt, dann sei es so.“.
„Wie funktionieren die?“, wollte Joshua wissen. Tabita sah zu ihm, er wippte von einem zum Fuß zum anderen, eines der Anzeichen, das ihm langweilig war.
„Da hinein kommen Metallkugeln und ein hochexplosives Pulver, dies wird entzündet und die Metallkugel wird durch diese Lücke abgeschossen.“.
„Das klingt gefährlich.“.
„Ist es auch, Tabita. Ich hoffe, ihr müsst sie nicht nutzen. Die Hersor der Mannschaft wissen, wie man damit umgeht.“. Er ging davon.
Tabita sah Joshua an. Sie könnte es nicht ertragen, ihn zu verlieren. Wie viel sie bei dieser Reise verlieren könnte. Wie viel…Und wie viel sie verlieren könnte, wenn sie nicht reiste. So viel Ungeplantes könnte geschehen, so viele Gefahren kamen auf sie zu. Fast wäre Tabita zurück gerannt, fast wünschte sie sich, dass dies alles nur ein Traum war. Und doch roch sie die Seeluft, das Salz und sie hörte die Schreie der Möwen und sie wusste, dass sie nicht mehr zurückgehen könnte. Nicht jetzt, wo sie diesen Geruch in sich aufgenommen hatte. Nicht jetzt, wo sie all die Möglichkeiten erahnte, all diese Länder, die hinter Anthar lagen. Nicht jetzt, wo sie dieser Drang gepackt hatte, die Wahrheit mit eigenen Augen zu sehen. Im Gegenzug gab es so viel zu verlieren…Sie schluchze leise auf.
Joshua sah sie besorgt an, dann kam er zu ihr. Ungeschickt nahm er sie in den Arm. „Hey, es wird schon alles gut, Kleine.“. Sie lächelte, es war lange her, seitdem er sie so genannt hatte. Sie lehnte sich an seine Brust und sog seinen Geruch in sich auf.
„Ja.“, flüsterte sie leise, „Ich glaube dir.“.
Tabita stand an der Reling der Niamey und blickte auf den Hafen Yarills. Yarill war die Hauptstadt von Madruk, dem Königreich der Jorohne. Sie war von Jorohnen erbaut wurden und nun ein Abbild ihrer Macht. Das Land Madruk war reich geworden durch das weiße Gold, Salz, das sie aus dem Meer gewannen. Arzaya, die Königin Madruks, hatte das zerrüttelte Reich der Jorohne wieder vereint und erhoben. Sie handelten mit anderen Völkern, hinter Anthar, mit den Elben Noliôns und weiteren. Die Stadt der Jorohne pulsierte vor Leben, Kinder rannten lachend durch die Gassen, Männer und Frauen unterhielten sich im Hafen. Und all dies würde sie nun zurücklassen. Die Hersora Narichre nickte ihr zu: „Alles ist bereit. Wir sind bereit.“.
Tabita blickte zu Joshua, der sich mit dem Sphinx Sjavkonhkar, Ascarnas Bruder, unterhielt. Sie sah zurück, roch den Duft der Fische, der vom Hafen herüberwehte und nickte Narichre zu. Sie war bereit. Dann verließ die Niamey den Hafen und ihre Heimat wurde immer kleiner, bis sie schließlich hinter dem Horizont verschwand.
Der Wind fuhr durch die Ebene und drückte das Gras nieder. Hjorgcai wickelte sich enger in ihren Pelz und trieb ihre Stute an. Das Pferd war klein, drahtig, ausdauernd und dennoch schnell und wendig, mit einem struppigen, braunen Fell. Hjorgcai starrte die Sonne an, um sich zu orientieren. Sie fluchte leise, als sie bemerkte, dass sie die falsche Richtung eingeschlagen hatte.
Die Ebene war leer und einsam, außer Hjorgcai war keine Menschenseele zu sehen. Und dennoch spürte sie wieder diesen kalten Schauer über ihren Rücken laufen, als ob sie etwas beobachtete. Sie sah sich um, doch sie konnte nichts entdecken. Nichts, außer ihr, ihrem Pferd und dem Wind, der durch das Gras fuhr. Doch sie hatte sich selten geirrt, was ihre Gefühle anging. Nachdenklich sah sie zu dem Baum, der mitten in der Ebene stand. Hjorgcai spannte ihren Bogen und ritt auf den Baum zu. Der Baum besaß eine rote Rinde, rot. Hjorgcai hatte so einen Baum erst einmal gesehen. Dieser Baum mit der roten Rinde, der sich weit verästelt in den Himmel streckte mit den faustgroßen, braunen Früchten. Sie wusste noch, wie sie damals versucht hatte, die Frucht zu öffnen. Doch die Schale war zu hart für die kleine Kinderhand gewesen und Hjorgcai vermutete, dass es auch jetzt so war.
Einen letzten Blick warf das Mädchen auf das Jurtenlager. Sie lächelte, stolz darauf, dass sie sich fort geschlichen hatte, ohne ihre Eltern, ihren Großvater oder einen ihrer Brüder aufzuwecken. Sie hatte sich davongeschlichen, so wie ihr Bruder, wenn er sich zur Jagd an eine Herde anschlich. Doch die Herden waren fort gezogen, nach Süden und so musste ihre Familie ihnen ebenfalls folgen, um zu überleben. Heute war die letzte Nacht, die sie hier verbringen würden. Die letzte Chance den seltsamen Baum zu erforschen, der so einsam in der Steppe stand, als ob alles Leben ihn meiden würde. Die Alten und ihr Großvater hatten sie gewarnt, sie hatten von bösem Unheil gesprochen, dass bei diesem Baum lauerte, doch Hjorgcai glaubte nicht daran. Wie konnte etwas so mächtiges, wie ein Baum böse sein? Der Baum ragte riesig über ihr auf, vorsichtig hob das Mädchen eine der Früchte auf, die auf dem Boden lagen. Sie war schwer, so schwer. Doch so sehr sie es auch versuchte, sie konnte diese Frucht nicht öffnen.
Ein Ast knackte, Hjorgcai sah sich schreckhaft um. Sie hörte ihren Vater sagen: „Du bist vom Volk der Aweynche und eine Aweynche kennt keine Angst.“. Doch sie hatte Angst, sie konnte sie nicht vertreiben, so sehr sie es auch versuchte. Es war eine Frau, eine Frau wie sie Hjorgcai noch sie gesehen hatte. Ihre ganze Erscheinung wirkte verschwommen, undeutlich, als würde sie an diesem Ort sein und dann doch nicht. Hjorgcai blinzelte und konzentrierte sich auf die Erscheinung der Frau. Ihre Haarfarbe wechselte von braun, zu blond, von feuerrot zu blauschwarz.
Hjorgcai zitterte, die Angst war nur noch stärker geworden. Doch dann, als ob alles nur ein Traum gewesen wäre, verschwand die Frau. Sie löste sich einfach auf und Hjorgcai sah nur noch einen Vogel, der davon flatterte.
Doch auch dieses Mal war es diese Frau. Es war dieselbe Frau wie damals. Hjorgcai betrachtete sie, nicht begreifend, wieso sie sich in all den Jahren nicht verändert hatte. Die Spur der Jahre war unbemerkt an ihr vorbei gezogen. Damals hatte Hjorgcai nicht verstanden, wer diese Frau war, jetzt tat sie es. Diese Frau war eine Nalincherg, ein Baumgeist, eine der Vergessenen. Sie trug viele Namen in Hjorgcais Sprache, doch keiner von ihnen war wertschätzend oder ehrend. Die Nalincherg wurden gefürchtet und gemieden, nicht geliebt.
„Ja, ich gehöre dem vergessenen Volk an.“, erklärte die Frau, als ob sie Hjorgcais Gedanken gehört hatte. „Doch wir selbst nennen uns Nalinow. Und du musst eine Nachricht für mich überbringen.“.
„Eine Nachricht?“. Hjorgcai starrte die Frau überrascht an. Ihre Stimme war rauchig und sie sprach langsam, als ob sie des Lebens müde war. Zusätzlich war Hjorgcai sich sicher, dass die Nalinow nicht in Wirklichkeit sprach, nur in ihren Gedanken.
„Ja, eine Nachricht an Arygan Khan.“. Hjorgcai spürte den Zorn in sich aufwallen, als sie diesen Namen hörte. Wut, heiße Wut, zerstörerisch und voller Feuer. Arygan war der Vater jenes Mannes, zu dem sie unterwegs war, der ihr zukünftiger Ehemann sein sollte. Ihr Ehemann, falls sie ihn ließ und ihn nicht ablehnte, wie all die Männer vor ihm. Es hatten viele Männer, um sie geworben. Hjorgcai wurde nicht nur in ihrem eigenen Stamm als Jägerin gerühmt. Eine, der besten Kämpferinnen der Steppe als Frau zu erhalten, das hatte viele angelockt. Sie waren bereit einen hohen Preis für sie zu zahlen, doch keiner war bereit, ihrem Vater mehr zu geben, als Arygans Sohn Egyran. Eine ganze Herde Pferde, dreißig Tiere, das war ein Vermögen.
Hjorgcai gehörte dem Volk der Aweynche an, einem stolzen Volk, das mit ihrem Vieh durch die Steppe zog und nun sollte sie einen der edelsten Männer heiraten. Ein Mann, in dessen Adern königliches Blut floss. Könige, die in ihrem eigenen Land zwar kaum noch Macht hatten, aber vom Volk immer noch geschätzt wurden. Die Nalinow musste ihren Zorn, ihre Wut spüren, doch sie beachtete diesen nicht und erwiderte nur: „Sage ihm, dass der Bogen gefunden worden ist und das ein Schiff unser Vorfahren ihn bringt. Mein Sohn dient ihm zwar, aber ist zu jung, um das Wispern seines Volkes zu hören. Sage Arygan Khan ebenfalls, dass einer der Mächtigsten meines Volkes auf dem Schiff mitreist.“.
Hjorgcai nickte. Die Neugier war stärker als der Zorn. Sie würde Arygans Sohn ebenfalls besiegen und sie würde herausfinden, was es mit dieser Nachricht auf sich hatte.
„Gut. Ich werde es tun.“. Die Nalinow lächelte nur, als ob sie die Antwort von Anfang an gewusst hätte. Dann verschmolz sie wieder mit den Schatten, so wie damals, und Hjorgcai blieb erschütteter denn je zurück. Sie wandte sich um, stieg auf ihr Pferd und ritt davon, fort von dem Ort, der Erinnerungen geweckt hatte, die sie vergessen wollte. Doch nun konnte sie diesen nicht länger entfliehen, Arygan Khan wartete.
Langsam nervten Acheving die Angriffe. Es begann alles so harmlos. Er folgte seiner Mutter durch die Stadt Cesing, die die Hauptstadt seines Volkes bildete. Acheving mochte die Stadt, in ihr brannte ein ständiges Feuer, das noch niemand hatte löschen können. Er mochte das Leben, die Kinder, die durch die Straßen liefen. Und ja, das Ganze begann mit einem Kind. Das Kind stand mitten auf der Straße, es war ein kleiner Junge. Kaiserin Dioargchie unterhielt sich mit zweien ihrer Ratgebern. Acheving erkannte allein an ihren Stimmen, dass es wieder einmal um Geld ging. Natürlich sprachen sie das Problem nicht direkt an, das gebot die Höflichkeit, sondern tauschten erst Höflichkeiten aus, doch Acheving wusste es. Dann sah er diesen Jungen. Er stand einfach da, ohne sich zu rühren. Er tat nichts. Acheving runzelte die Stirn, sollten Kinder nicht den Eltern helfen? Jetzt bemerkte auch Dioargchie den Jungen. Sie trat auf ihn zu und wartete. Eigentlich hätte der Junge sie jetzt begrüßen und sich vor ihr verneigen müssen, aber er tat dies nicht. Acheving war sprachlos. Dieser Junge verweigerte seiner Mutter die Verbeugungen und zweifelte damals ihre Krone an?! Wie alt mochte dieser Junge sein? Vier? Fünf? Acheving hatte dafür keinen Blick über, er trat neben seine Mutter. Auch ihm gegenüber blieb der Junge stocksteif stehen. Fünf Verbeugungen standen Acheving als Sohn der Kaiserin rechtmäßig zu. Fünf. Sein Gesicht verfärbte sich rot.
„Hast du keine ehrenhaften Eltern? Das ist deine Kaiserin und du hast sie als deine Herrscherin zu grüßen. Was haben dich deine Eltern denn gelehrt?“. Acheving schwieg und verfluchte seinen Fehler. Er hatte den Jungen zuerst angesprochen und damit gezeigt, dass er ihm unterlegen war. Er hatte den Menschen gezeigt, dass die Kaiserfamilie nicht mehr Macht als ein kleiner Junge hatte. Acheving sah sich um. Richtig, die Menschen starrten ihn an. Die sonst so geschäftige Stadt schien den Atem an zu halten, die Menschen schwiegen, sie starrten ihn nur an. Acheving hätte am liebsten geschrieen, um die Stille zu beenden, doch er wusste, dass das die Situation nur noch schlimmer machen würde. Dann brach der Tumult los. Die Menschen fingen an zu rufen und Obst flog durch die Luft.
Die Antwort des Jungen hörte er durch das Geschrei trotzdem: „Meine Eltern haben mich gelehrt, dass ich nur ehrenhafte Menschen grüßen und ehren soll.“. Eine von Dioargchies Leibwachen hörte das ebenfalls. Es war ein junger, kaisertreuer Mann. Er holte mit seiner Yueyachan aus und traf den Jungen mit der Beilklinge am einen Ende des Stabes im Gesicht, er stürzte blutend zu Boden. Dadurch hatten sich ihre Probleme bestimmt nicht vereinfacht, erkannte Acheving. Bald würde die Kaiserfamilie nicht nur als Sittenverachter sondern auch als Mörder beschimpft werden. Genau das hatte seine Mutter gebraucht. Seine Mutter! Acheving sah sich um. Sie mussten aus der Menge raus, bald würde der Menge auffallen, dass sie die Leibwachen leicht überwältigen konnten. Acheving nickte den Wachen zu. Diese bahnten sich einen Weg durch die Menge, wobei sie nicht zögerten von ihren Waffen Gebrauch machten. Doch ihre Maßnahmen waren wirkungsvoll, Kaiserin Dioargchai gelangte sicher zurück in den Palast. Die Menge folgte ihnen jedoch und bald war der Platz vor dem Palast von einer wütenden Menschenmenge gefüllt.
Dioargchai setzte sich müde in einen der Korbstühle, die in einem Pavillon standen. Der Pavillon stand in den kaiserlichen Gärten und bot einen wunderschönen Ausblick auf Kirschbäume und Seerosenteiche. Acheving betrachtete einen der Schwäne, der auf einem der Teiche schwamm. Wie einfach das Leben als Tier schien und wie kompliziert das eines Menschen war, noch dazu, das als Mitglied der kaiserlichen Familie. Acheving betrachtete seine Mutter. Natürlich würde sie nie zugeben, wie müde und erschöpft sie war, das gehörte sich nicht. Acheving erkannte es an der Art, wie sie ihre Teetasse hielt, an der Art, wie sie sich ein Haar aus der Stirn strich. Seine Mutter hatte ihr schwarzes Haar hochgesteckt und mit Goldketten geschmückt. Ihr Kleid war in einem hellem blassgelb, das in mehreren Schichten nach unten fiel. Ihr Gesicht war weiß geschminkt und die Wangen rot. Ihre dunklen Mandelaugen hatte sie betont. Achevings Mutter wirkte immer so unnahbar, so unerreichbar, wenn sie so dasaß, doch das war sie schon immer gewesen. Sie musste Würde und Ehre zeigen, keine Liebe, sie war eine Kaiserin. Acheving verstand und akzeptierte es, auch wenn er sich gewünscht hätte, dass sie mehr liebende Worte für ihn übrig hätte. Acheving war ihr einziger Sohn, doch er hatte zwei jüngere Schwestern, die beide noch unverheiratet waren und hier im Palast lebten.
Dioargchie nickte einer Dienerin zu, die ihr Tee nachschenkte, dann nickte sie wieder und die Bedienstete zog sich zurück. Acheving wusste, dass seine Mutter gleich anfangen würde zu sprechen. Er kannte diesen Ausdruck in ihrem Gesicht, wenn sie ihre Worte vor dem Gespräch auf eine Goldwaage legte, um ja nichts Falsches zu sagen. Gelassen rührte sie ihren Tee um, dann sah sie ihn an.
„Es wird Zeit, dass wir den Bogen finden, Acheving.“.
„Das denke ich auch, …Mutter.“. Zögernd sprach er dieses Wort aus, als fürchtete er, dass sie ihn zurückweisen würde. Sie wirkte so, als ob sie ihn nicht gehört hatte, nachdenklich sah sie in die Ferne.
„Sie respektieren mich nicht.“. Dioargchie stand auf und blickte auf eine Karte von Sahres. Sie nickte ihm zu, er stand auf und ging zu ihr.
„Hecheving führt die aufständischen Adeligen im Norden an. Sie haben sich hier in Aving verschanzt und kämpfen gegen meine Truppen. Im Osten haben sich die Städte Lesing und Nieving aufgelehnt und die Mienen von Ardchai in ihre Hand gebracht, von dort kommt kein Eisen mehr. Überall brennen die Flammen. Ich will Frieden, doch dafür brauche ich den Bogen.“.
„Ja, der wäre tatsächlich notwendig, um diesem Land Frieden zu bringen. Gut, dass die Aweynche ebenfalls zu zerstritten sind, um gegen uns Krieg zu führen.“.
Acheving lauschte auf die tobende Menschenmenge, ihr Schreien war selbst hier noch zu hören.
„Der Bogen ist nur verschollen, doch er würde Frieden bringen.“. Kaiserin Dioargchie schwieg. Stille, durch die nur das Schreien der Menschenmenge klang.
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