„Wieso? Was für Gründe hat er für Rache?", fragte Joshua und Hjorgcai konnte die Besorgnis hören. Aber er sorgte sich um die anderen, nicht um Schattenklinge.
„Ich weiß es nicht.", erklärte Felsenfaust, während des Rennens, „Er ist ein Nalinow, einer aus meinem Volk und er ist unvorstellbar mächtig.".
Sage Arygan Khan ebenfalls, dass einer der Mächtigsten meines Volkes auf dem Schiff mitreist.
Sie hatte Schattenklinge gemeint, aber die Nalinow hatte sich geirrt, denn Schattenklinge arbeitete nicht für den Khan, sondern nur für sich selbst.
„Für einen Moment hat er seine Gedankenbarriere fallen gelassen und ich konnte Hass und Trauer spüren. Hass, der wie hinter einem Damm gefangen ist, aber jeden Moment als ein reißender Strom hervorbrechen kann. Ansonsten kann ich dir nicht sagen, was ihn antreibt.".
Joshua nickte. „Dann sollten wir uns beeilen.", erwiderte er grimmig und fasste nach seinem Schwert, das sie in den Kerkern ebenso gefunden hatten wie seine restlichen Sachen.
Vor ihnen tauchte die Mauer auf, die sie mit Hilfe eines Baumes überwanden und auch die Stadt ließen sie bald hinter sich.
„Du musst fort von hier, Nian.", beschwörend sah Diong sie an, „Die Stadt verlassen.".
Sie nickte. „Dioargchie wird mich suchen, ich muss fort von hier und dann möglichst viele Anhänger hinter mich scharen und...". Sie griff in ihre Manteltasche und beförderte eine kleine, aber genaue Karte zu Tage.
„Wir müssen sie auf eine falsche Fährte lenken und dann dort zuschlagen, wo sie es am wenigsten erwartet.", erklärte sie und fuhr mit ihren Fingern über das Pergament.
„Wir müssen die kaiserlichen Truppen weit genug weglenken, dass sie auch bei einer mehrtägigen Schlacht nicht eingreifen können und gleichzeitig muss der Ort wegen seiner strategischen Lage gut sein.
„Meying?".
„Nein, die Mauern sind nicht gut genug befestigt und die Stadt ist nur vom Süden durch die Elan-Wälder geschützt. Niing. Niing, dorthin locken wir ihre Truppen, während wir uns in den Wäldern von Yaran versammeln.
„Die Wälder von Yaran? Willst du gegen Milon marschieren?".
„Cesing.". Nian lächelte, „Damit rechnet niemand und wir müssen nur den Palast einnehmen, dann zeigen wir dem Volk den Bogen und Dioargchie hat auf ganzer Linie verloren.".
Diong starrte sie an. „Du bist verrückt.".
„Ich weiß und genau das hat mir schon häufig zum Sieg geholfen. Wege zu gehen, die niemand sieht und die von außen als ungewöhnlich erscheinen.".
„Du bist die Strategin, nicht ich und ich vertraue dir. Gehe jetzt, bevor die Stadttore geschlossen werden.".
Nian nickte.
„Komm, Xeron. Wir verlassen die Stadt.".
„Ich habe euch zugehört.", erwiderte dieser. Stolz sah Nian ihren Sohn an.
„Du bist groß geworden.".
Dann verließen sie die Stadt Cesing, um eines Tages als Kaiserin und ihr Sohn zurückzukehren.
Erst im Laufe des Tages wurden Tabitas Gedanken wieder ruhig. Es war Joshua, Joshua, der sich schon aus jeder Gefahr hatte befreien können. Joshua, der quer durch Anthar gezogen war und einige Jahre bei den Sphinxen gelebt hatte. Wenn es jemand schaffen konnte, dann er.
Sie liefen durch die Wälder von Yaran.
"Fjørev? Wo liegt das? Es klingt nicht nach den Sebetjh.", hörte sie Sjavkonhkar fragen.
"Eine Hafenstadt der Gandijol, nahe der Grenze. Dort können wir entweder ein Schiff besorgen oder die Niamey den Hafen ansteuern lassen.", erklärte Narichre, die zu ihrer Anführerin geworden war.
Tabita hörte den beiden bald nicht mehr zu, sondern betrachtete die Umgebung.
Hohe Bäume verdeckten die Sonne und nur vereinzelt war das Blau des Himmels zu sehen. Die wenigen Sonnenstrahlen, die auf den Waldboden trafen, zeichneten Sonnenflecken auf den Boden. Das Gestrüpp zerkratzte ihnen die Beine und drang selbst durch die Lederhosen. Vögel zwitscherten und Kaninchen streckten ihre Köpfe aus den Büschen. In der Ferne rauschte ein Fluss. Sjavkonhkar rannte als Löwe voran, er genoss es sichtbar sich wieder verwandeln zu können.
"Wir sollten weiter nach Westen.", erklärte Narichre plötzlich, "Im Osten sind die großen Städte, während der Westen weniger dicht besiedelt ist.".
Achselzuckend beugte sich die Gruppe dem Wunsch, solange sie möglichst gesund ankamen, war alles recht.
Sie traten auf eine Lichtung. Die Sonne erhellte wilde Himbeersträucher und Johannisbeeren. Auf der Lichtung erhob sich ein Hügel, der mit Gras bewachsen war und auf dem sich ein mächtiger Baum mit roter Rinde erhob.
"Pause?", fragte Schattenklinge und Tabita konnte die Müdigkeit hören, die sie alle empfanden, denn seitdem sie aus Cesing geflohen waren, hatten sie nicht gerastet.
Narichre nickte: "Tcharon kann keine Verfolger ausmachen.".
"Ob sie uns überhaupt nicht verfolgen?", fragte Sjavkonhkar.
"Vermutlich nicht. Ich glaube, dass die Kaiserfamilie im Moment genug mit dem verlorenen Bogen und den Rebellen zu tun hat.", antwortete die Hersora, "und außerdem haben...". Sie brach ab und sah Tabita besorgt an.
Aber sie wusste genau was sie hatte sagen wollen.
Sie Joshua, beendete sie den Satz in Gedanken.
Sie schwieg. Sjavkonhkar, Narichre, Schattenklinge und sie selbst, vier, anstatt sechs.
"Was war das?", Sjavkonhkar sprang auf. Schattenklinge kam aus dem Wald und legte trockenes Holz ab.
"Ich glaube Raubtiere.", erklärte er und fasste nach seinem Dolch. In diesem Moment brachen sie aus dem Gebüsch, Raubtiere, die Tabita noch nie gesehen hatte. Braunes Fell, vier Pfoten und ein Körperbau, der dem eines Wolfes ähnelte aber stämmiger und schwerer war, ein mächtiges Horn, dass sich aus ihrer Stirn drehte. Insgesamt waren es fünf Tiere.
"Mit denen möchte ich nicht kämpfen.", erklärte Narichre und wich trotz des Kurzschwertes in ihrer Hand zurück in die Mitte der Lichtung. Sjavkonhkar stürzte sich auf eines der Tiere zu und versuchte sich in dem Nacken dieses merkwürdigen Wesens zu verbeißen. Vielleicht hätte er eine Möglichkeit gehabt, gegen sie zu gewinnen, wenn nicht ihre Hörner gewesen wären. Die Hörner und das Fell, an dem jeder Krallenschlag abzugleiten schien. Schon bald gab der Löwe auf und wich zurück.
"Keine Chance, ihr Fell ist hart wie eine Rüstung aus Eisen und jeder Kratzer, den sie verpassen, brennt wie Feuer.". Tabita umfasste ihre Partisane, sie würde nicht aufgeben. Nicht jetzt. Sie standen Rücken an Rücken auf dem Hügel zusammen und streckten den Tieren die Waffen entgegen. Eines der Tiere sprang auf sie zu und riss Narichre um, die den Hügel herunter fiel. Tabita hob eine der harten Früchte auf, die auf dem Boden lagen und warf sie nach den Tieren. Das schien diese aber noch wütender zu machen. Sie schlug nach einem der Tiere, aber die Klinge ihrer Partisane rutschte an dem Fell ab und hinterließ nicht einen Kratzer.
Doch dann erklang die Stimme, die Hoffnung versprach. "Hier ist ein Gang.", rief die ehemalige Stammesfürstin und ließ Hoffnung wie eine Flamme vor Tabitas Augen aufleuchten. "Kommt.", drängte Narichre. Tabita stieß mit ihrer Partisane eines der Tiere zurück, jetzt war ihr die Länge der Waffe von Vorteil. Dann lief sie den Hügel herunter und folgte der Stimme der Hersora zu einem Gang, der unter den Hügel zu führen schien. Sie kroch hinein und winkte den anderen zu, es ihr und Narichre gleich zu tun. Der Gang würde ihr Schutz von den Tieren bieten, deren Körper zu stämmig für den schmalen Gang waren, durch den man noch nicht einmal krabbeln konnte. Sjavkonhkar folgte ihr und zuletzt kroch Schattenklinge hinein. Langsam robbte Tabita rückwärts, Erde beschmutzte ihre Kleidung und hing in ihren Haaren. Endlich wurde der Gang breiter und Tabita fiel in die Leere. Sie landete auf dem Erdboden und richtete sich auf. Und das was sie sah, erschreckte und erstaunte sie zugleich. Das wenige Licht, das von oben den Weg in die Finsternis fand, ließ sie eine neue Welt, eine fremde Welt erblicken und ein Wunder, von dem sie alle gedacht hatten, das es verloren wäre.
"Das ist ein Grab.", erkannte Narichre als erster. Ein Grab, aber ein Grab, das nichts mit den Gräbern, die sie kannte, zu tun hatte. Die ganze Höhle war von dicken Wurzeln ausgefüllt, die sich wie Schlangen von einem Ort zum nächsten schlängelten. Dicke Baumwurzeln, die alle von einem Punkt ausgingen. Es war eine Frau, eine Frau, die in einem Geflecht von Wurzeln hing und doch schienen alle Wurzeln aus ihrem Körper zu kommen. Blondes Haar umrahmte ihre Gestalt wie eine Wolke, ihr Gesicht war fein gezeichnet, wie dünne Federstriche wirkten ihre gesamten Züge. Hellbraune Augen sahen Tabita an, als ob sie lebten und doch wusste sie, dass diese Frau schon lange nicht mehr lebte und doch lebte sie noch durch den Baum, der ihr entsprang. Tabita verstand nicht wie das möglich war. Diese Frau lebte und war doch tot. Was sie aber noch mehr beunruhigte, war die Ähnlichkeit dieser Frau zu einem Menschen, den sie kannte und der in diesem Moment mit ihr an einem Ort war. Darl trug das gleiche Haar und seine Augen besaßen die gleiche Farbe wie die ihren. Wie war das möglich? Sie sah zu ihm hinüber. Er stand nahe den Loches und starrte die Frau an. Seine Augen glänzten und es war Liebe. Liebe, die sie in seinen Augen las. Liebe, die wie eine gewaltige Welle über sie hinweg spülte.
"Dies ist das Grab von Nerileni Karyndo und es wird auch das eure sein.".
Seine Worte wollten so gar nicht zu seinen Gefühlen passen und doch taten sie es. Denn dies war die Frau, von der er ihr einst gesagt hatte, dass er sie liebte. Nerileni Karyndo.
Aber wie konnte er das sagen, wie konnte er sie, seine Gemeinschaft, zurücklassen? Sein Verrat schmerzte wie eine scharfe Klinge, es tat weh seinen Hass zu spüren und die Liebe und Freundschaft, die er für diese Frau empfand, die wichtiger war als seine Gefährten. Tabita wollte weinen, schreien, aber sie sah nur stumm zu wie er sich abwandte und verschwand. Es war schlimmer, ihn zu verlieren als Joshua, denn Joshua hatte sie geschätzt und geliebt und sie hatte ihn gekannt, während der Mann, der davon schritt, ein Fremder war Und als er ging blieb nur Leere.
Die Baumwurzeln verdeckten das Loch wieder und es war Finsternis, die blieb. Keiner sprach, eine angespannte Stille herrschte und keiner wollte sie brechen. Sie alle hatten Schattenklinge gekannt und ihn einen Freund genannt und doch war er ein Fremder für sie alle.
Tabita ließ sich zu Boden sinken, ihre verkrampfte Hand ließ die Partisane los. Die Waffe bohrte sich in den Boden, sie wurde nicht gebraucht. Denn es war ein Schmerz, der nicht mit einer Waffe zu bekämpfen war. Schmerz, tiefer Schmerz, hervorgerufen durch seinen Verrat.
Sie hetzen durch den Wald, bald schmerzten Hjorgcais Muskeln, aber es war unwichtig. Ihre Beine, die sie bald nicht mehr spürte, die Schmerzen, die in ihrem Kopf wüteten. Wichtig war es nur, rechtzeitig anzukommen.
"Könnt ihr keine Wege verkürzen?", fragte Joshua Felsenfaust keuchend.
Dieser schnaubte: "Dies mag eine Gabe der Vendirell sein, die auf den Winden reiten, aber es ist keine, auf die ich Zugriff habe.".
Dan schwiegen sie wieder und das Einzige, was zu hören war, war das Fluchen, wenn die Dornenbüsche ihnen die Beine aufrissen, das Rauschen der Gewässer und das Rascheln der Wälder. Geräusche einer Welt, die von außen so friedlich wirkte und in Wirklichkeit so grausam war.
Endlich hielt Felsenfaust an und deutete auf die Lichtung. Ein Hügel, auf dem sich ein Baum in den Himmel erhob, ein Baum der Nalinow. Hjorgcai wollte vorwärts stürzen, aber Felsenfaust hielt sie fest.
"Hier sind Wächter, die Wächter des Baumes.", erklärte er und sah sich um, "Um sie zu besiegen, muss man den Namen der Nalinow kennen, die hier unter der Erde ruht.".
"Kennst du ihn denn?".
"Nein.", erwiderte er leise, "Aber vielleicht wissen die anderen etwas, denn Schattenklinge kennt den Namen.".
"Und du meinst, er hat es ihnen gesagt?". Joshua wollte seine Stimme spöttisch klingen lassen, aber es war nackte Angst, die er ausdrückte.
"Er hat sie vor Arygan beschützt, er scheint sie also nicht töten oder verletzen zu wollen.".
"Wo sind sie?", fragte Hjorgcai und sah sich um. Auf der Lichtung lang Feuerholz und eine Wasserflasche, aber ansonsten war sie verlassen, bis auf das Gras, das sich im Wind wiegte und die Käfer, die durch die Luft schwirrten.
"In dem Hügel, unter dem Hioskondy, dem Baum meines Volkes.", erklärte er leise.
"Joshua, suche irgendeine Möglichkeit in Kontakt mit deiner Schwester zu treten und finde den Namen heraus, ansonsten haben wir keine Möglichkeit, sie zu befreien.", befahl Felsenfaust, er umfasste einen Dolch, "Und wir lenken die Wächter ab.". Hjorgcai legte einen Pfeil in ihren Bogen und nickte. Dann liefen sie los.
Joshua stürmte vorwärts, auf den Hügel zu. Er sprang hinauf, während er fieberhaft überlegte, wie er den Namen heraus finden sollte.
"Tabita?", rief er, doch das einzige was er hörte, waren Raubtierknurren. Er wandte sich nicht um, aber das Sirren der Bogensehne und das Klirren von Metall sagten ihm, dass der Kampf begonnen hatte. Eine Idee entstieg seinem Kopf und er fing an gegen den Baum zu klopfen. Wenn sie unter dem Baum waren, müsste der Schall doch weitergetragen werden. Joshua wusste nicht, ob ein Baum Schall weiter trug, aber dieser war doch ein besonderer Baum, oder? Da, ein dumpfen Pochen erklang in seinem Ohr. Sie verstanden ihn! Es war eine Sprache, die die drei Geschwister erfunden hatten, um sich unbemerkt austauschen zu können, eine Sprache, die aus Klopfzeichen bestand.
"Hat Schattenklinge einen Namen gesagt?", fragte er.
"Nerileni Karyndo.", kam es zurück.
"Wir holen euch da raus.", versprach er.
"Nerileni Karyndo.", schrie er, aber es geschah nichts. Hoffnung erlosch, die eben noch wie glühendes Feuer gebrannt hatte. Der falsche Name. Es war nicht der richtige.
"Nerileni Karyndo.", rief jetzt auch Felsenfaust. Und nun geschah etwas, die Tiere wichen zurück und in dem Hügel öffnete sich ein Loch, das in die Finsternis führte.
Joshua atmete auf, ein Schrei der Erleichterung entwich seinen Lungen.
"Die Macht des Namens kann nur von einem Nalinow angewendet werden.", meinte Felsenfaust, aber Joshua beachtete ihn nicht.
Er stürzte auf das Loch zu und kroch hinein. Endlich kam er unten an.
"Alles in Ordnung?", fragte er und betrachtete Narichre, Tabita und Sjavkonhkar.
Tabita nickte.
"Kommt.". Joshua betrachtete die Wurzeln und den Körper von Nerileni Karyndo.
Felsenfaust und Hjorgcai kamen durch das Loch. Felsenfaust verneigte sich vor der Frau, die zwischen den Wurzeln hing.
"Weibliche Nalinow sind unsterblich. Sie werden von einem Baum genährt, ohne den sie nicht überleben können und ernähren einen Baum, der einer neuen Nalinow Heimat und Schutz bieten kann, wenn sie in ihrer Gestalt gestorben sind. Ein ewiger Kreislauf.", erklärte Felsenfaust ehrfürchtig.
"Kommt.", bat Joshua erneut. Er wollte nicht hier bleiben, bei dieser Frau, die Schattenklinge so ähnlich war und deren Grab beinahe zu dem seiner Schwester geworden wäre.
"Warte.". Tabita kletterte über Baumwurzeln und zu Nerileni Karyndo. Sie nahm etwas von der Nalinow.
Es war der Köcher, gefüllt mit Pfeilen, die zu den Bogen gehörten, den sie in Cesing verloren hatten und sie waren aus dem selben Holz geschnitzt, wie das des Baumes, der sich über ihnen im Wind wiegte.
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