Es waren kleine Straßen, die sich durch die Wüste schlängelten und so musste Hjorgcai ihr Heer teilen. Doch es war unwahrscheinlich, dass sie Hes-Argan angreifen würde. Er war weit im Osten und kämpfte gegen den großen Stamm Cialgchon und die kleineren, die ihnen verpflichtet waren, aus den Lingial-Steppen. Die Fürsten der Stämme Cialgchon waren schon seit Jahrhunderten unabhängig und dienten weder dem Khan noch dem Taidschie, aber sie waren mächtig. Wenn Hes-Argan die Siljovs-Wälder wollte, dann musste er diesen Stamm besiegen. Und es war ein mächtiger Stamm mit einem großen Heer.
Hjorgcai selbst hatte Männer aus den Stämmen der Norag-Steppen, aus dem Lyndimur-Gebirge, Saruuls Männer aus den Naolak-Wüsten, Reynchers Stamm vom Dzengin und die Männer des Khans aus den Norekjer-Wäldern.
Es hörte sich nach viel an, aber die wirklich einflussreichen und großen Stämme hatte sie nicht unter der Kontrolle. Zwar stand der Stamm Asilnocharg, der Stamm des Khans, der zu den größten Stämmen zählte, treu hinter ihr, doch die restlichen nicht.
Die beiden Stämme Aratjeg und Sagilochos waren fest unter der Hand Hes-Argans und der Stamm Cialgchon war unabhängig und wollte das auch bleiben.
Hjorgcai stand mit dem Khan, Saruul, Reyncher, Kherosgo und einigen weiteren Generälen zusammen. Um sie herum erhob sich eine Ruinenstadt aus der Zeit, als dieser Teil des Landes noch zu Niyes gehört hatte. Die einstigen Plantagen, die sich an dem Nebenfluss des Milazil erhoben, waren längst verwildert und die Gebäude verfallen. Olivenbäume hatten sich das zurückgeholt, was die Menschen der Natur einst abgerungen hatten und nur noch teilweise konnte man die Funktion der Gebäude erkennen. Einige Gebäude waren gewölbte Speicherkammern, wie sie die Völker aus Niyes und Radehles heute noch nutzen und die übereinander gebaut wurden, andere aus Lehm gefertigte, flache Wohnhäuser, deren Dächer eingestürzt waren. Die Türme der Stadtmauern erhoben sich wie abgebrochene und schiefe Finger in die Höhe und schienen die Wüste zu überwachen, obwohl es nichts gab, was zu bewachen war. Die Stadt war verlassen. Es waren nur Wölfe und Schakale, die des Nachts aus ihren Verstecken krochen, um zu jagen. Nun war es Lager für einen Teil ihres Heeres geworden und der Fluss bot Wasser und Fische als Nahrung.
„Wenn wir den Milazil überschreiten, überqueren wir auch die Grenze.“.
„Die Menschen Niyes werden sich nicht wehren, sie sind kein Volk von Kriegern. Allerdings liegt es mir fern, sie mir zu Feinden zu machen. Wir haben sowieso keine Verwendung für Sklaven.“. Hjorgcai strich sich eine Haarsträhne aus der Stirn.
„Seid ihr sicher? Man könnte sie zu Soldaten ausbilden, verkaufen oder versuchen durch sie Verbündete zu gewinnen.“, meinte ein General.
„Nein. Sklaven halten uns nur auf.“. Es war nicht so, dass Hjorgcai etwas gegen Sklaven hatte, sie war es gewöhnt gewesen, dass ihr Vater auf Kriegszüge nach Niyes geritten war und Sklaven zurückgebracht hatte. Die Aweynche handelten ebenso wie die Gandijol mit Sklaven und verkauften sie nach Sahres, die mit ihnen unter anderen ihre Armeen füllten.
„Seid Ihr sicher?“, hakte der General nach, „Wir brauchen Verbündete und damit könnte man sich welche erkaufen.“.
Hjorgcai schüttelte nur den Kopf. Sie wollte Niyes schnell durchqueren und sich nicht mit der Plünderung von Dörfern aufhalten.
„Ich wüsste da etwas, wie wir den Stamm Sagilochos auf unsere Seite ziehen könnten.“, erklärte Saruul geheimnisvoll.
„Wie?“. Überrascht sah die Khatun die Fürstin an. Wenn es etwas gab mit dem sie diesen Stamm Hes-Argan abnehmen könnte…
„Ihr Stammesfürst Yalitchon sucht schon seit Jahren nach einem Sklaven, der seinen jüngsten Sohn und Erben getötet hat.“.
„Ein Sklave, der den Sohn eines Stammesfürsten erschlagen hat?!“. Sie hatte nicht gedacht, dass so etwas überhaupt möglich war.
Saruul aber zuckte nur die Schultern. „Dieser Sohn war ein Schwein. Egyran in Schlimmer. Er hat verkünden lassen, dass der Sklave, der ihn im Zweikampf besiegt, seine Freiheit bekommt. Dieser Sklave hat es geschafft, der Sohn hat ihn nur ausgelacht und dann geschah das Unglück, bei dem der Sklave fliehen konnte. Jedenfalls will er diesen Sklaven haben, Hes-Argan hat ihm aber untersagt, Männer wegzuschicken. Denn er soll nahe der Grenze gesichtet worden sein, hier in der Bergstadt Akeel.“.
„Und woher weißt du das?“, fragte Reyncher skeptisch.
„Was meinst du wie lange Yalitchon schon um meine Hand anhält? Ich habe ihm eine Abfuhr erteilt, als ich einen anderen heiratete, aber nach dem Tod meines Mannes hat er erneut damit angefangen. Wenn ich Töchter hätte, dann wären sie schon längst mit einem seiner Söhne verheiratet.“.
„Was ergibt das für einen Sinn?“, fragte Hjorgcai leise, „Es sind viele Pferdelängen von den Naolak-Wüsten zu den Nalidschin-Ebenen, es ist kein zusammenhängendes Gelände und deshalb schwer zu beherrschen.“.
„Was meinst du, warum er sich Hes-Argan angeschlossen hat? Bestimmt nicht weil er so schön lächelt, Hes-Argan sah aus wie der Sieger und er hofft das die nördlichen Gebiete an ihn fallen. Wenn er mich dagegen heiratet, fallen diese sowieso an ihn und er müsste sich nur noch bemühen, eine Verbindung zwischen ihnen herzustellen.“.
„Ein größenwahnsinniger Stammesfürst.“, stellte Kherosgo fest. „Ich schätze, wenn wir Hes-Argan besiegt haben, müssten wir gegen Yalitchon Taidschie kämpfen. Aber besser ein größenwahnsinniger Verbündeter als keiner.“.
„Ist sein jetziger jüngster Sohn vernünftiger als der erste?“, fragte Hjorgcai. Sie erinnerte sich an Yalitchon, als er mit ihrem Vater verbündet gewesen war, war er bei ihnen im Lager gewesen, doch damals war sie noch jung gewesen. Und Bündnisse bei ihrem Volk verwehten so schnell wie der Wind Sand davon blies. Ihr Vater mochte mit Yalitchon verbündet gewesen sein, doch ebenso oft hatte er gegen ihn gekämpft. Nichts war auf Dauer und Aweynche verstanden so etwas wie die Sebetjh mit ihren Lehnseiden nicht. Stämme wurden von anderen besiegt und mussten Tribute geben oder eine Zeit lang an der Seite des Siegers in den Kampf ziehen. Doch die wenigsten solcher erzwungenen Bündnisse dauerten länger als ein Jahr.
„Besser als sein Bruder und vernünftiger als der Vater. Ich denke mit ihm könnten wir arbeiten.“.
„Gut. Saruul wird also zu Yalitchon reiten, ihm ihre Hand anbieten, als Preis für seine Mitarbeit. Und gleichzeitig werden wir ihm seinen Sklaven fangen und ihm ihn zurück bringen.“.
„Ich werde ihm keine Söhne schenken und damit das Erbe meiner vorherigen gefährden.“, stellte Saruul fest, während sie aufstand.
Hjorgcai nickte. Das hatte sie auch nicht erwartet. Bei ihrem Volk war meistens der jüngste Sohn der Erbe. Er war der Prinz des Feuers und war seinem Vater am nächsten, während die älteren Söhne im Dienste fremder Fürsten ausgebildet wurden oder in den Krieg zogen. Würde Saruul Yalitchon einen Sohn gebären, wäre es wahrscheinlich, dass dieser ihr Land und das von Yalitchon erbte, anstatt der Söhne ihres ersten Mannes. Doch es gab Wege und Mittel Kinder zu verhindern und Saruul würde nicht scheuen, davon Gebrauch zu machen.
„Gut. Ich schätze, dass du sofort aufbrechen musst. Ich gebe dir ein Djaghun mit.“.
Saruul nickte und ging davon. Stumm sah Hjorgcai ihr hinterher. Es war merkwürdig, die Stammesfürstin davon gehen zu sehen. Sie war immer eine Größe gewesen, an der sich die Khatun hatte festhalten können und jetzt ging sie davon…
„Kommt.“, meinte sie, „Wir haben einen Krieg zu gewinnen. Wir brechen noch heute auf.“.
Die Tage zogen wie das Emudschin-Gebirge an ihnen vorbei. Niyes war ein armes Land, das keine nennenswerten Rohstoffe besaß und dessen ohnehin schon karge Ernten und Viehherden zu häufig von Sandstürmen vernichtet worden. Dieses Land war viel trockener als Sehjoldon und erst im Süden erstreckten sich Savannen, bis sich die gewaltigen und wilden Urwälder bildeten, die ebenfalls den größten Teil von Radehles bedeckten. Ein wildes und unberechenbares Land, das selbst den Aweynche nicht geheuer war. Aus dem Gebirge strömten einige Flüsse ins Landesinnere, weshalb es ihnen an Wasser vorerst nicht mangelte. Die wenigen Menschen, denen sie begegneten, wichen ihnen aus und nahmen es in Kauf, dass ihre Tiere im Süden verdursteten, anstatt dass ihr Heer damit gefüttert wurde.
Auch sie selbst führten große Herden mit sich, um ihr Heer zu versorgen. Über den nächtlichen Lagerfeuern brieten die Ziegen und der Geruch von Airag füllte die Luft.
Es dauerte Wochen, in denen das Heer dahin marschierte und nur vereinzelte Kämpfe mit einigen Bauern austrug, bis sie die Bergstadt Akeel erreichten. Diese Stadt war winzig im Vergleich zu Cesing, doch sie war eine gute Festung und bot den Menschen der umliegenden Dörfer Zuflucht. Auch jetzt waren es einfache Bauern und Handwerker, die auf den Mauern standen und die Aweynche vor ihren Toren ängstlich beobachteten. Es waren keine Gegner und nur ein Teil des Heeres würde sich mit der Einnahme dieser Stadt beschäftigen, während der Rest weitermarschierte.
Mauern aus Lehm und Sandstein, die sich in einem Tal an die Berge klammerten und deren hölzerne Tore fest verrammelt waren.
„Ich suche einen gewissen Jarole.“, rief sie und wendete ihr Pferd, sodass die Verteidiger ihr Gesicht sehen konnten. „Gebt ihn mir und euer Stadt und ihren Bewohnern wird kein Leid geschehen. Gebt ihn mir nicht und eure Stadt wird brennen und mit ihr werde ich jeden einzelnen Bewohner töten lassen, bis zum letzten Kind.“. Bei den letzten Worten zog sie einen Pfeil aus ihrem Köcher, legte ihn in die Sehen ein und er bohrte sich neben einen der Verteidiger in das Holz eines Wachturmes. „So schwöre ich, Hjorgcai Khatun.“.
Aufgeregte Stimmen klangen zu ihr herüber, während sie und ihre Begleiter wartend dastanden.
Schließlich öffneten sich die Tore und ein einzelner Mann schritt heraus. Langsam kam er auf sie zu und Hjorgcai wusste, dass es der Mann war, den sie suchten. Es war die stolze Haltung seines Kopfes, die Ohrlöcher, die ihn als Sklaven auswiesen und die Art wie er ging. Er hielt seine Hände vor sich zum Zeichen der Unterwerfung und doch kam ihr der spöttische Blick nicht besonders unterwürfig vor.
Er redete in der schnellen Sprache Niyes und Hjorgcai winkte eilig ihren Übersetzer, einen Sklaven, heran. Kein Aweynche hätte sich die Mühe gemacht, die Sprache dieses Volkes zu lernen.
„Er fragt, warum die Khatun sich auf einmal für die Interessen einzelner Stammesfürsten einsetzt.“.
„Sag ihm, dass ich die Khatun meines Volkes bin und mich um meine Untertanen kümmere.“.
Der Mann lachte auf, als er ihre Worte hörte.
„Sagt, kümmert Ihr Euch auch darum, dass Eure Untertanen ihre Versprechungen halten.“. Jedes Wort war voller Spott und Verachtung und das schmerzte Hjorgcai.
„Ich werde dafür sorgen, dass allen das Recht zukommt, das ihnen gebührt, sobald ich Khatun von ganz Sehjoldon bin.“, entgegnete sie, „Doch zuvor muss ich den Taidschie besiegen und du bist Preis, der bezahlt werden muss, um Frieden zu stiften.“.
„Frieden in deinem Land und was ist mit diesem hier?“, fragte der Sklave zornig, „Ihr wart es doch, der mein Land zerstört habt. Warum sollte ich euch jetzt helfen, euer Land aufzubauen, wenn dies mein Land nur noch mehr gefährden würde?“.
„Weil du keine andere Wahl hast.“, unterbrach Hjorgcai ihn hart, „Und dein Volk hat mein Wort, dass unter meiner Herrschaft keine Raubzüge mehr nach Niyes unternommen werden und ansonsten die Verantwortlichen zur Rechenschaft gezogen werden.“. Wenn sie ihr Land einen konnte, war sie sogar bereit das recht einträgliche Geschäft mit Sklaven aus Niyes zu beenden und ansonsten gab es immer noch Radehles…
Jarole nickte und Hjorgcai bewunderte ihn. Obwohl er mit dem Rücken zur Wand stand, wagte er es immer noch mit ihr zu verhandeln und für sein Volk zu kämpfen.
Er würde sterben, Yalitchon würde den Mörder seines Sohnes bestimmt nicht ungestraft davon kommen lassen, doch er hatte seinem Volk eine Zeit lang Frieden ermöglicht. So war Politik. Opfer mussten gegeben werden, um andere zu retten.
Hjorgcai wandte sich von der Stadt ab und ritt davon. Es lag noch ein langer Weg vor ihr.
Zwei Wochen später erreichte das Heer das Meer, das im Osten Niyes gegen die Klippen schlug. Hjorgcai betrachtete die hohen Berge des Gebirges, das sich nun gen Süden wandte und zwischen deren engen Pässen und Tälern sich die Siljovs-Wälder erstreckten.
Nach den heißen Wüsten war die kühle Luft des Gebirges angenehm.
Es war so ein Tag als sie die Nachricht erreichte, das Hes-Argan vom Stamm Cialgchon besiegt worden war und in die Sijovs-Wälder geflüchtet war.
Die Sebetjh und Elben waren nicht die einzigen Völker, die das kleine Tal beobachteten, in dem sich die Armeen sammelten. Es gab noch ein Weiteres, das sich in den Hügeln verbarg, sich zwischen Elben und Sebetjh mischte und den morgigen Tag gespannt erwartete. Ihre Schritte waren leise und vor ihren Augen und Ohren blieb nichts verborgen.
Sie sprachen nicht ein Wort, während sich ihre Augen auf die verschiedensten Leute hefteten.
Darl Schattenklinge lächelte. Jetzt war der Zeitpunkt gekommen, um zu handeln und Rache zu nehmen, für das was vor sechzigtausend Jahren geschehen war. Und er würde diese Chance ergreifen. Jetzt war der Moment gekommen, den er so lange ersehnt hatte. Morgen und an keinem anderen Tag würde er handeln. Eine Zeit des Sturms brach an.