Der Schuppenpanzer widerstand der Wucht des Pfeils nicht. Einzelne bronzene Schuppen zersprangen, während der Pfeil sich in Fandorics Brust bohrte.
Seine Unachtsamkeit verfluchend, hob der Fürst seinen Schild mit der linken Hand noch ein Stück höher. Besorgt spuckte er in seine Hand, doch erschien es ihm, als hätte er Glück gehabt, denn es war kein Blut zu erkennen. Mit der Rechten umfasste er den Pfeilschaft und zog ihn mit einem starken Ruck heraus. Das hellgrüne Wams verfärbte sich sogleich rot. Fandoric blieb jedoch keine Zeit, die Wunde näher zu betrachten.
Ein weiterer Pfeil prallte harmlos von seinem Schild ab, aber an anderen Stellen auf der Mauer ertönten laute Schmerzensschreie, die sich mit dem Sirren der Bogensehnen mischten.
Grimmig senkte Fandoric seinen Schild ein Stück und blickte zwischen den Mauerkronen hindurch auf den Teil seiner Stadt, der nun dem Feind gehörte. Soldaten in allen Farben der unterschiedlichen Fürsten und der Tempel patrouillierten durch die Straßen und wachten auf den Flachdächern. Vor acht Tagen war der äußere Mauerring gefallen und der Fürst konnte nur hoffen, dass die Zivilisten, die nicht hatten fliehen können, nicht unter dem Zorn ihrer Besatzer leiden mussten. Was im Rest seines Fürstentums vor sich ging, konnte er nur ahnen. Nachrichten hatten ihn schon seit Tagen nicht mehr erreicht. Die wenigen Boten, denen es gelungen war, durch die feindlichen Wachen zu schlüpfen, waren ebenfalls nicht zurückgekehrt.
In diesem Moment ertönte ein lautes Krachen, während die Mauer unter seinen Füßen erbebte.
„Das Tor!“, schrie ein Mann und Fandoric richtete sich auf.
Dieser Teil der Mauer war fest in der Hand seiner Männer. Allein die Leichen zeugten von den Versuchen der Feinde, diesen Abschnitt einzunehmen, und von der Bemühung seiner Männer, sie zu verteidigen. Blut und Schweiß mehrerer Tage hatten den Wehrgang beschmiert und glatt werden lassen, sowie die Luft mit einem fast unerträglichen Gestank getränkt.
Fandoric stieg über Leichen, die man nur notdürftig zur Seite gezerrt hatte und eilte gefolgt von einigen Soldaten seiner Leibwache, so schnell es ihm mit seiner Wunde möglich war, die Treppe hinab.
Sie überquerten mit schnellen Schritten den Platz vor der Mauer und folgten dem Verlauf einiger Straßen als Abkürzung. Kleine Truppen von Soldaten marschierten ihnen entgegen, teilweise in dieselbe Richtung, aber auch zu anderen Orten, wo Hilfe benötigt wurde. An einer Ecke stießen sie fast mit einer Gruppe Zivilisten zusammen, die eine Eimerkette von den Wasserbecken zu Brandorten bildete. Kurz öffnete sich die Reihe, um ihrem Fürsten Platz zu machen, dann wurde das kostbare Gut mit schnellen Handgriffen weitergereicht, um das Ausbreiten der Flammen zu verhindern. Andere räumten die Trümmer dessen weg, was einst prachtvolle Gebäude gewesen waren, die den mächtigen Bliden vor den Toren ihrer Stadt nicht hatten standhalten können. Zu ihrem Glück war es ihren Angreifern scheinbar unmöglich gewesen, die Bliden auch in die Stadt hinein zu transportieren, so dass die Treffer zwar gefährlich, aber ungenau waren.
Endlich erreichten sie das Tor, wo ein verzweifelter Kampf entbrannt war. Das Tor war zwar verschlossen, aber eine gewaltige Menge Feinde hatte sich dennoch Eintritt verschafft. Verstärkung erhielten sie ab und an von einzelnen Soldaten, die es vermochten, die Reihen von Fandorics Männern auf dem Wehrgang durch Sturmleitern zu überwinden.
Der Fürst griff nach dem Horn, das er an der Seite trug, und blies hinein. Das war das Zeichen für seine Männer, sich um ihn zu sammeln.
Als die Soldaten erkannten, dass ihr Fürst bei ihnen war, legte sich Erleichterung auf ihre Züge und sie begannen durch den Tod von Offizieren und zu vielen Toten aufgebrochene Formationen wieder einzunehmen. Um sich zu sammeln, zogen sich die Soldaten ein Stück weit zurück und erst jetzt erkannte Fandoric überhaupt die Menge der eingedrungenen Feinde.
„Wie konnte das geschehen?“, schrie er einem Offizier namens Gijar zu.
„Irgendein Idiot meinte die Tore öffnen zu müssen, als einige unserer Soldaten um Einlass baten.“
„Verdammt!“, fluchte Fandoric in Ermangelung eines anderen Fluches, denn bei den Göttern fluchte er nicht länger, wo sie ihm und seinen Männern doch ihren Schutz versagten. Immerhin war es gelungen, das Tor wieder zu schließen. Er hob erneut sein Horn, um Verstärkung anzufordern und schickte mehrere Jungen los, um diese herzuführen.
Angreifer unterbrachen ihn in dieser Tätigkeit und der Fürst parierte einen Schlag. Mit einem Klirren traf der Stahl aufeinander, dann wurden sie wieder auseinandergetrieben und Fandoric wechselte einige Schläge mit einem anderen Soldaten. Es gelang ihm die Deckung seines Gegners zu durchbrechen, als dieser seinen Schild zu langsam hob, und ihm die Hand aufzuschlitzen, dann verlor er ihn wieder aus den Augen.
Jegliche Art von ausgefeilten Schlagtechniken war an diesem Ort Fehl an Platz, dafür kämpften viel zu viele Leute auf einem zu engen Raum. Vielmehr ging es darum, die jeweiligen Feinde in einem Moment der Ablenkung von hinten zu erwischen, die Lücken in seiner Rüstung zu finden und den Säbel dann geschickt einzusetzen.
Schon bald war Fandorics Schuppenpanzer blutbeschmiert und zu dem bereits bestehenden Loch gesellten sich zu seinem Leidwesen noch einige andere hinzu. Seine Leibwache versuchte ihn zu schützen, aber auch sie konnten nicht alles sehen. Schweiß rann ihm in Bächen über die Stirn und durchtränkte sein Wams unter dem Kettenhemd.
Ein Gegner, dessen Haar sich schon grau färbte, fügte ihm eine klaffende Wunde an der rechten Wange zu. Einem jungen Heißsporn gelang es einen fiesen Treffer an seinem Unterschenkel zu landen, der ihn so übermütig werden ließ, dass Fandoric ihn mit einigen schnellen, kraftvollen Schlägen fällen konnte. Es war nur eine oberflächliche Fleischwunde, die allerdings stark schmerzte und seine Verteidigung schwächer werden ließ. Als er schließlich bei einem schlechten Versuch den Schlag eines wahren Hünen abzuwehren, den vorderen Teil seines rechten kleinen Fingers einbüßte, verstand er, dass es mitten in diesem Getümmel sogar den besten Kämpfer treffen konnte. Seine Soldaten mochten gut ausgebildet war, aber hier war es die Übermacht der Gegner, die zählte. Fandoric hielt es wie die Meisten seiner Männer: Er blieb auf der Hut, biss die Zähne zusammen und richtete seine ganze Aufmerksamkeit auf das Ächzen des Tores und die Stärke ihrer Gegner.
Zum wiederholten Mal hob er in einer kurzen Atempause das Horn an die Lippen, um nach Verstärkung zu rufen, die einfach nicht kommen wollte.
Nach einer Ewigkeit des Kampfes, in der beide Seiten sich gegenseitig dezimierten, erschallte endlich der Ruf: „Mein Herr, seht nur!“
Erschöpft ließ Fandoric seinen Säbel ein Stück weit sinken und blickte auf und erkannte, was der Soldat meinte. Soeben warf sich Verstärkung in den Kampf – und geführt wurden sie von keiner Geringeren als seiner Frau.
Zornig bahnte sich der Fürst einen Weg durch die Menge, entgegnete Hiebe und hob seinen Schild zur Abwehr. Seine Soldaten dagegen wichen zurück und hielten ihm einen großen Teil der Feinde vom Leib.
Immerhin mischte sich Zavitja nicht direkt ins Kampfgeschehen ein, sondern wartete, von einigen Soldaten bewacht, abseits.
„Was soll das?“, fuhr er sie an. Mit ihrem Handeln untergrub sie die Autorität ihres Mannes auf dem Schlachtfeld. Ein Fürst durfte jedoch keine Schwäche zeigen und gerade in diesem Moment, wo seine Position geschwächter denn je war, konnte sich Fandoric keine Schwäche erlauben.
Sie wendete ihr Pferd und nun erkannte er auch Diric, ihren fünf Schattentage alten Sohn, der vor ihr im Sattel saß. Mit großen Augen blickte er seinen Vater an, zu verwirrt, um die Fragen zu stellen, die ihn quälten.
„Danke, dass du mir Verstärkung herangeführt hast“, entgegnete sie zynisch und ein bitteres Lächeln, dem jegliche Freude fehlte, umspielte ihre Mundwinkel.
Sein Zorn darüber, dass sie sich und ihrem Sohn einer solchen Gefahr ausgesetzt hatte, war noch nicht verglüht, aber unerheblich in diesem Moment.
Der Fürst trat vor und griff in die Zügel des Braunen.
„Ihr müsst fort von hier“, erklärte er leise und warf einen besorgten Blick zum Tor, das zwar wieder geschlossen war, jedoch bedrohlich knarrte.
„Was ist mit dir?“, fragte Zavitja leise, die Stimme voller Angst und doch voller Bereitschaft das zu tun, was nötig war.
„Ich bin für den Untergang meines Volkes verantwortlich, also ist es auch meine Pflicht, sie so lange zu verteidigen, bis meine Kraft versiegt oder ich dieses Schicksal doch noch abwenden konnte.“
Sie nickte nur und Fandoric liebte sie dafür, dass sie die Kraft besaß, nicht zu weinen und ihre Aufgabe als Fürstin bis zum Schluss zu wahren, auch wenn es kein Land mehr gab, das sie regieren konnte.
„Nehmt den unterirdischen Gang, der durch das Staunen der Welt führt. Er geht zwar in die Wüste, aber dort werdet ihr sicherlich nicht verfolgt werden. Rette so viele von unserem Volk, wie es dir möglich ist.“
Er griff nach der Hand seines Sohnes und sah Diric tief in die Augen.
„Mein Sohn. Egal was geschieht, vergesse nie, woher du stammst und noch wichtiger, erinnere dich immer an die Wahrheit. Wahre sie und vererbe sie weiter an deine Kinder, damit sie auf immer von dem Blut unserer Familie geschützt wird.“
Der Fürst sah seine Frau an.
„Erinnere ihn daran. Die Wahrheit darf nicht verloren gehen, nicht nach all dem Blut, was ihretwillen vergossen worden ist.“
Ihre Hand legte sich auf die seine.
„War sie das wert?“, fragte sie, „Die Wahrheit, deretwillen der Tempel und die Fürsten uns den Krieg erklärt haben.“
„Ja“, erwiderte Fandoric und er würde diese Antwort immer geben, egal wie viele noch für sie sterben mochten.
„Gut“, entgegnete sie und dann beugte sie sich herab. Ein letztes Mal vereinigten sich ihre Lippen und nie hatte Fandoric die Zukunft, die ihnen verloren ging, so deutlich empfunden wie in diesem Moment. Er nahm ihren Duft auf, um ihn auch für den Rest seines Lebens, zu bewahren.
Dann, viel zu schnell, löste er sich von ihr.
„Reitet“, flüsterte er, nahm die Hand von den Zügeln und versetzte dem Wallach einen Hieb.
Er blickte seiner Frau und seinem Sohn nach, bis sie nicht mehr zu sehen waren und das Tor mit einem lauten Krachen zerbrach und ihre Feinde sich den Weg durch die Reihen seiner Männer bahnten.
Mit erhobenem Säbel wandte der Fürst sich um und stellte sich den Truppen, die der Hochtempel mit Hilfe der Fürsten gegen ihn aufgestellt hatte, weil er es gewagt hatte, die Wahrheit auszusprechen.