Oh Kantigark,
meine Liebe hat dir geraubt,
was die Väter haben erbaut
Oh Kantigark
Verzeih mir doch meine Tat,
lass wachsen der Hoffnung Saat
Oh Kantigark
Aus der verschollenen Tragödie „Der Fall des Nisirehm“, der Vierte Monolog des Nisirehm
Schon bevor die Mauern Kantigarks in Sicht kamen, wusste Anasah, dass die Stadt ihr gehörte. Es brauchte keine Boten, die ihr die Nachricht überbrachten, nur ihren Verstand und ihre Kombinationsfähigkeit.
Mit einem Lächeln auf den Lippen trieb sie ihre Stute an, ließ Eraz’ Jubelschreie hinter sich und ritt an den Soldaten vorbei, deren Reihen sich gleich einer metallischen Schlange durch das Gebirge zogen. Aus den Augenwinkeln nahm sie wahr, wie die Männer sich aufrichteten, nach vorne blickten und darauf achteten, die Füße anzuheben. Offiziere und Kundschafter lenkten ihre Pferde beiseite, um ihr und dem ihr folgenden Bannerträger Platz zu machen. Es war wenig Platz auf der Straße, die sich durch die Schatten von Asinat bis nach Kantigark wand. Ein Feld von Rot floss – getragen von ihrem Bannerträger - hinter ihr durch die Luft, wellte sich und kündigte von der Ankunft der Hohepriesterin. Ihre Begleitmusik war das Trommeln von Hufen und Hunderter Füße, das Klirren der Waffen und das Rufen von Befehlen. All dies war Ausdruck des Triumphes, den Anasah empfand. Schon so viele hatten vergeblich vor den Mauern des mächtigen Kantigarks gestanden, mit hoch gereckten Köpfen zu den Zinnen aufgeblickt, über dem die Wappen von Salz und Schwert stolz im Lichte der Monde glänzten und ihr war die Stadt ohne Kämpfe in die Hände gefallen. Noch standen Schwert und Salz auf dunkelrotem Grund, aber allzu bald würden sie von dem Gelb des Viandav-Tempels vertrieben werden.
Auf einer Anhöhe, auf der sie die Geschehnisse im Blick hatte, hielt sie inne, während die Soldaten an ihr vorbei auf die Stadt zuzogen. Eraz ritt zu ihr, den Blick besorgt zur Stadt gewandt.
„Sie ist gut befestigt“, stellte er fest, „Aber sie wird fallen. So hat Viandav es gewollt.“ In letzter Zeit überraschte Eraz sie immer mehr, eine Tatsache, die sie zu Beginn geschätzt hatte, besorgte sie zunehmend. Es war leichter gewesen, als er meinte, sich nur mit Frauen und Pferden beschäftigen zu müssen.
„So hat Viandav es gewollt“, bestätigte sie und beobachtete, wie ihre Soldaten sich vor den Toren aufstellten.
Hinter ihr ritten ihre Befehlshaber heran, riefen mit respektvollen Stimmen nach Plänen und strategischen Überlegungen, die sie bisher noch nicht gegeben hatte. Anasah gab dem Götterschild, der sie ebenfalls erreichte, die Aufgabe, sie alle von ihr abzuschirmen. Heute war der Tag ihres Triumphes und sie würde diesen nicht teilen.
„Wie wollen wir vorgehen?“, fragte ihr Gelieber.
„Wir lassen vorgehen“, berichtigte sie ihn und forderte, „Sieh!“
Zwischen den Zinnen der Mauern standen als stille Wächter die Soldaten Kantigarks. Der Wind, der vom Osten kam, trieb die Gesprächsfetzen bis zu ihnen hinauf und ließ Anasah die Unruhe erkennen, die dort vorherrschte. Meldegänger liefen hin und her, Offiziere brüllten Befehle, Männer stellten sich auf, um nur wenige Augenblicke später neue Befehle zu bekommen und andere Positionen einzunehmen.
„Sie haben Angst“, erklärte die Hohepriesterin, „und Angst ermöglicht mehr Siege als Tausende von Männern.“
Sie trieb ihre Stute an, ließ sie den Hang hinabpreschen und ritt durch die Reihen der Soldaten hinweg. Ihr offenes Haar flatterte hinter ihr im Wind. Später würden ihre Sklavinnen ihre Mühe mit den Knoten haben, aber in diesem Moment war es ein Zeichen ihres Standes und Triumphes.
Vor den Toren Kantigarks und in Hörweite parierte sie das Pferd durch. Ihre Leibwache, die ihr nur mit Schwierigkeiten hatte folgen konnte, schloss sich um sie.
„Volk von Kantigark“, rief sie zu den Zinnen. „Öffnet die Tore für den Hohepriester Eraz, den höchsten Diener der Götter, der mit ihrer Stimme spricht und ihr Recht verkündet. So verlange ich, Hohepriesterin Anasah, wie es mein Recht ist.“
Eraz erreichte sie, lenkte sein Pferd neben sie, das Gesicht voller Anspannung und Zweifel. Im Laufe ihres Lebens hatten so viele Menschen in sie gezweifelt und sich letztendlich in ihren Fähigkeiten geirrt. Ihnen allen hatte Anasah bewiesen, dass sie fähig war, den Namen einer Götterdienerin zu tragen.
Mit einem Knarren schwangen die mächtigen Tore auf, als protestiere das Holz selbst gegen die Öffnung. Eine kleine Gruppe von Reitern näherte sich ihnen.
Anasah spürte die Verwunderung auf Eraz’ Gesicht, aber sie sah sich nicht nach ihm um. Stumm saß sie ihm Sattel ihrer Stute und wartete. Irgendwo hinten im Tross führte man Antirehm bewacht von Männern des Götterschildes mit sich. Ob er schon nahe genug heran war, um die Stadt zu sehen und sich zu fragen, wie sie gegen die Mauern vorgehen wollte? Nun, letztendlich hatte es nicht mehr als einiger Briefe und falscher Boten gebraucht, die sie in Antirehms Namen ausgesandt hatte. Die Männer schwangen ihre Schwerter und glaubten mit ihnen die Welt beherrschen zu können. Anasah hatte längst gemerkt, dass Wörter so viel mächtiger waren. Was interessierte sie geschmiedeter Stahl, wenn sie eine als uneinnehmbar geltende Stadt auch durch ein paar Federstriche und Versprechungen einnehmen konnte? Gut, Asinat war nicht so leicht gefallen, aber dort hatte ihr der Fürst auch nicht den Gefallen getan, sich in ihre Gewalt zu begeben. Antirehm mochte noch so viel auf die von ihm eingesetzten Gerichte und Räte schwören, ohne einen starken Anführer, der ihnen vor Ort sagte, was sie zu tun hatten, waren sie nutzlos. Sie hatte nur dafür sorgen müssen, dass die richtigen Männer zur richtigen Zeit die Macht ergriffen. Schon bald würde sie sowohl Antirehms Gerichten als auch den Männern, die ihr zur Einnahme der Stadt verholfen hatte, die Macht entziehen und das einzige Recht einführen, das Gültigkeit haben sollte: das der Götter.
Die Gruppe von Reitern erreichte sie, wobei einige sich erkennbar im Hintergrund halten wollten und in sicherer Entfernung anhielten. Angst. Das war gut.
Nur der alte Priester, mit dem sie früher viel zusammengearbeitet hatte, ritt näher heran. Mit der Zeit hatten sie sich in ihren Zielen aus den Augen verloren, aber ihre Grundsätze waren stets dieselben geblieben.
„Swerolas“, begrüßte sie den Diener Viandavs, der als Kanzler im Rat des Fürsten Antirehm diente und ihm in seiner Abwesenheit vorstand. Zusammengebeugt saß der Mann im Sattel, die fleckigen Hände in die Zügel geschlungen, der Körper zitternd vor Anspannung, nicht vom Pferd zu fallen. Was für ein armseliges Wesen, dachte Anasah.
„Die Stadt ist Euer, Demütigster, Demütigste.“
„So sei es.“ Anasah winkte Swerolas davon und ihren Götterschildler Hajad zu sich.
„Demütige?“ Aufmerksam blickte er zu ihr.
„Lasst den Triumphzug vorbereiten.“
Hajad verneigte sich und trieb sein Pferd davon, um ihre Anweisungen auszuführen.
Erst jetzt wandte sie sich Eraz zu.
Sie genoss die Verwunderung auf seinem Gesicht.
„Ich übergebe dir Kantigark, Geliebter.“
„Wie…“ Es war selten, dass ihm die Worte fehlten. Zumeist begann er Sätze nicht, wenn er deren Ende nicht bereits kannte. Ihn jetzt überrascht zu sehen, befriedigte Anasah.
Sie trieb ihre Stute ein wenig näher, sodass sie ihm die Hand auf den Arm legen konnte. „Genieße den Triumphzug, Geliebter.“
Sie lächelte.
Gefolgt von ihrem Bannerträger, neben Eraz und flankiert von ihrer Leibgarde ritt Anasah in die Stadt. Die Bewohner säumten die Straßen, zurückgehalten von Soldaten, damit sie den Zug nicht aufhalten oder stören konnten. Jubelschreie erklangen, Blumen wurden vor die Hufe der Reiter geworfen und Priester leiteten Gesänge zu Ehren der Götter an. Es war gleichgültig, dass die Mehrheit es aus reiner Angst ihren Nachbarn gleichtat. Nur vereinzelte verweigerten die Lobbringung, Münder zornig verkniffen, die Hände geballt und Flüche murmelnd standen sie inmitten der Menge. Sollten sie es tun. Anasah amüsierte sich über ihren Hass, der nichts ändern würde. Ihr Zorn zählte nichts in der Symphonie ihres Sieges.
Ihr Sieg. Von allen anderen unerwartet.
Anasahs alleiniger Triumph.
Bis sie erfuhr, dass Antirehms Sohn verschwunden war.