In der Niederlage wurde ich namenslos.
Neben den Toten stahl man meine Geschichte.
Keiner erinnert sich der Ehrenlosen,
deren Geister nun rastlos tosen.
Aus einem Klagelied
Das 11 Jahr des Eraz, MAE, in den Bergen bei Asinat
Keine einzige Träne benetzte Mechans Wimpern, als sie Mehiru noch mehr antrieb. Sie hatte nicht geweint, als sie die Nachricht von Shurehms Hinrichtung erhalten hatte und sie weinte auch jetzt nicht, wo der Rauch ihrer in Flammen stehenden Heimatstadt ihr noch immer in der Nase brannte. Der Hengst schnaubte und das Geräusch hallte in den Bergen fort.
Ihr Haar, das sich aufgrund des rasanten Rittes aus ihrer Frisur gelöst hatte, wehte hinter ihr im Wind. Erinnerungen. Ifurehms letzter Blick. Die Mauern der Stadt, die hinter ihr immer wieder kleiner worden. Erinnerungen, nichts konnte schmerzhafter sein.
Als die Nachricht sie erreichte, dass eine große Menge von Feinden in das Innere des äußeren Ringes gelangt war und ihnen den Weg zur Burg abschnitt, reagierte Ifurehm nur mit einem gelassenen Nicken. Shurehm, das wusste Mechan genau, hätte geflucht und sich dann mit einem Lächeln im Gesicht in die Reihen der Feinde geworfen. Aber Shurehm war tot, hingerichtet von Hohepriesterin Anasah im Namen der Gerechtigkeit, und Ifurehm hatte den Befehl über die äußere Mauer inne. Ihr ältester Bruder war schon immer der rationalste der vier Geschwister gewesen und so ließ er sich auf jetzt nicht von seinen Gefühlen übermannen. Nur einen kurzen Schatten sah Mechan über sein Gesicht huschen, doch dann gab er mit ruhiger, aber lauter, Stimme Befehle an die Männer, die ihm unterstellt waren. Es brach keine Hektik oder gar Panik unter den Soldaten aus, stattdessen stellten sie sich mit einer stoischen Ruhe und Disziplin auf ihren Posten auf, die Mechan schon fast übernatürlich erschien. Ihre Gesichter schimmerten stolz im weißen Licht Eandelaths und spiegelten sich als verzerrte Antlitze in den Klingen, die sie vor sich hielten.
Fast konnte man meinen, dass es nur eine Übung war, so perfekt schlossen sich die Reihen. Die wirkliche Gefahr, in der sie schwebten, wurde Mechan erst bewusst, als ihr Bruder den Bogenschützen befahl, sich bereit zu machen. Denn die schmalen, befiederten Holzpfeile, die die Männer vor sich an die Mauer lehnten, waren aufgrund der Rarität des Rohstoffes so teuer, dass man sie nur in Notfällen einsetzte.
Aus der Stadt drangen Schreie zu ihnen hinüber, die Mechans Nackenhaare sich aufstellen ließen. Noch nie hatte sie schrecklichere Laute vernommen, als dieses schrille, von Panik erfüllte Kreischen. Doch noch waren die Urheber dieser Entsetzensschreie nicht zu erblicken.
„Sie müssen durch die neue Abwasserversorgung eingedrungen sein“, stellte sie, an ihren Bruder gewandt, fest, während sich die Fürstentochter fragte, warum ihre Stimme nicht entsetzter klang. Sie war entsetzt ja, aber statt Panik, war sie von einer fast gleichmütigen Akzeptanz erfasst worden. Ihr Vater hatte gehofft, dass sich die Stadt noch Lichttage halten konnte, was angesichts ihrer guten Verteidigunslage auch durchaus glaubhaft gewesen war. Doch nun waren die Feinde in der Stadt – nur einen Tag nachdem die offizielle Kriegserklärung ausgesprochen worden war. Gemeinsam mit der Nachricht vom Tode Shurehms war sie eingetroffen. Ein Bote vom zweifachen Unglück, das sie schon erahnt hatte, als sie am Horizont nur die Andeutung eines Heeres erblickt hatte.
„Mechan!“ Ihr Bruder wandte sich zu ihr um, als würde er sie erst jetzt bemerken. „Was machst du hier noch?“
„Dir beistehen?“ Kaum hatte sie die Worte ausgesprochen, wusste sie, wie idiotisch sie waren. Was sollte sie schon ausrichten? Eine Fürstentochter von sechzehn Schattentagen zwischen sich tötenden Soldaten.
„Warum habt ihr sie nicht fortgebracht?“, wandte Ifurehm sich, ohne auf sie einzugehen, an ihre Eunnuchenwache.
Ein Eunuch wollte etwas erklären, zweifelsohne, dass sie sich nicht in die Burg flüchten konnten oder, dass auch der Weg durch die Geheimgänge ihnen durch die feindlichen Soldaten verwehrt war, aber Liub schnitt ihm das Wort ab.
„Wohin sollen wir sie bringen?“, fragte der Anführer ihrer Eunnuchenwache in knappen Worten.
Mit ebenso knappen Worten gab Ifurehm einige Befehle an den Befehlshaber dieses Mauerabschnittes weiter und schob sich an den Reihen seiner Männer vorbei. Gefolgt von seiner Schwester, ihrer Wache und ihrem Ehrenmund Karassub eilte er auf dem Wehrgang bis zu dem östlichsten Turm, der an die Felswand der Schlucht stieß. Dann lief er die Treppe hinab.
Auch hier standen Soldaten, doch noch war dieser Teil der Stadt von Schmerzensschreien verschont worden. Jemand, ein General, rief Ifurehm eine Frage zu, die er im Laufschritt beantwortete.
„Hör mir zu“, erklärte er im Gehen, „Vater will, dass du in Sicherheit bist. Du kannst nicht zur Burg oder durch die Geheimgänge, denn die Stadtteile haben die Hochtempel schon unter Kontrolle. Also musst du durch die Mauer.“
Einer ihrer Eunuchen murmelte etwas, aber Mechan ignorierte es. Ihr Vater befehligte die Burg und sie konnte nicht zu ihm, also war es jetzt die Aufgabe ihres Bruders, für ihre Sicherheit zu sorgen.
„Dort draußen sind überall feindliche Soldaten und du musst durch ihr Lager.“ Er warf ihr einen Mantel zu.
„Aber ein einzelner Bote oder Soldat, der hineinkommt, fällt nicht auf“, schlussfolgerte sie seinen Plan.
Ifurehm nickte. „Vor allem, wenn er verletzt ist und scheinbar wichtige Botschaften vom Kampf bringt, wird man ihn kaum davon abhalten, das Feldlager vor unseren Toren zu betreten. Das Problem ist es, wieder hinaus zu kommen. Du kannst natürlich behaupten, Nachrichten zu ihrem Höhlenlager bringen zu wollen. Aber dann musst du immer noch durch den Ring, den – meinen Beobachtern zufolge – Soldaten des Götterschildes aufgespannt haben. Sie lassen niemanden unkontrolliert hindurch.“
Mechan nickte grimmig. „Ich habe die Problematik verstanden und ich weiß auch schon, wie ich sie überwinden kann.“
Ihr Bruder half ihr, den Überwurf so zu drapieren, dass ihre weibliche Gestalt verborgen wurde. Der Stoff stank nach Blut und Schmutz. Es war wahrscheinlich, dass er vor noch nicht allzu langer Zeit einem echten Boten gehört hatte. Dann trat einer ihrer Wachen namens Heriub auf sie zu, zückte ein Messer und zog die blanke Klinge über seinen Arm. Das Blut ließ er über den beigefarbenen Stoff laufen. Er wagte es nicht, sie zu berühren, doch sie verschmierte zusätzlich Blut auf ihren Unterarmen. Der metallische Geruch ekelte sie, aber verstand sie die Notwendigkeit.
Als er fertig war, trat der Soldat zurück und ließ sich von einem Kameraden den Arm verbinden.
„Was ist mit uns, Tochter Dirasrehms?“, fragte Liub, ihr treuer Beschützer.
Sie trat zu ihm und erklärte ihm ihren Plan.
Nur wenig später reichte Ifurehm ihr einen Beutel und als sie ihn in die Hand nahm, ertastete sie darin die harten Buchrücken.
„Vater meinte, dass ich sie dir geben soll. Er meinte auch, dass du wissen wirst, was du tun sollst.“ Mit der Hand fuhr sie in den Beutel und wusste sogleich, um welche Bände aus der Bibliothek ihres Vaters es sich handelte. Doch es war ein großes Risiko, die Bücher in ihrer Verkleidung als Bote mit sich zu tragen. Sie entschied sich nur einen Band, den Kostbarsten, den ihr Vater selber verfasst hatte, bei sich zu tragen und die anderen Liub anzuvertrauen. Er würde den Beutel nicht öffnen, sofern ihr nichts geschah, das wusste sie. Wenn sie die Bücher gut genug polsterte, würde er sie auch nicht ertasten können.
Als das getan war, reichte sie Liub die Bücher mit der Bitte, sie ihr am vereinbarten Treffpunkt wiederzugeben.
Dann verließen sie die Eunuchen und die beiden Geschwister blieben zurück.
„Pass auf dich auf, Mechan.“ Ihr Bruder sah sie ernst an und strich sich eine Haarsträhne aus dem Gesicht.
„Willst du nicht wenigstens jetzt meinen Spitznamen benutzen?“, versuchte sie sich an einem Scherz, auch wenn ihr zum Weinen zu Mute war. Sie wusste, dass sie ihren ältesten Bruder nun zum letzten Mal sah. Immerhin konnte sie sich von ihm verabschieden. Auch mit Djurehm und ihrem Vater hatte sie Abschiedsworte getauscht, doch hatte sie gedacht, dass sie nach dem Besuch auf der Mauer zur Burg zurückkehren würde. Es war keine richtige Verabschiedung gewesen. Zumindest war sie nicht darauf vorbereitet, ihren jüngsten Bruder und ihren Vater nie mehr wieder zusehen.
„Nein“, verneinte Ifurehm immer noch mit jener ernsten Miene, die er nie ablegte. Als Kind hatte sich Mechan einmal in sein Gemach geschlichen, um festzustellen, ob er sie auch im Schlaf trug. Es war tatsächlich so gewesen.
„Du bist eine Fürstentochter von altem Blute Asinats und Mechan ist der Name, unter dem du geboren wurdest. Er hat die Endung einer Fürstin, nicht dein alberner Spitzname. Von dem Namen Mechan wissen die Menschen, dass es der Name einer Hochadeligen ist, aber Jael ist eine anonyme Bezeichnung, ohne Bedeutung, ohne Ruhm. Vergiss deine Herkunft nicht, Mechan.“
„Das werde ich nicht“, entgegnete sie und sah ihm in die Augen. Sie war kleiner als er und musste zu ihm hochsehen, aber sie wollte diesen letzten Blick nicht missen.
„Ich…“, begann sie, während sie sich gegenüber standen. „Ich hatte einen Traum. Ich sah Asinat brennen, doch das Wappen stand noch, ebenso wie meine Hoffnung. Dann fing auch unser Banner Feuer.“ Ihre Stimme war mit jedem Wort leiser geworden und die letzten Silben waren kaum zu vernehmen. „Was ist, wenn es Wirklichkeit wird?“
Ihr Bruder presste seine Hand auf ihr Herz.
„Wenn du anfängst, zu zweifeln, hast du schon verloren. Deine Niederlage beginnt hier, nicht in den Ressourcen, die du hast. Sondern in deinen Zweifeln.“ Er drückte ihr etwas in die Hand und ohne den Blick zu senken, ertasteten ihre Finger das aufgestickte Wappen auf dem Stoff. Es fühlte sich nach Heimat an.
„Es mag sein, dass Asinat vernichtet wird, aber solange es jemanden gibt, der das Andenken bewahrt und sich unser erinnert, wird die Stadt nicht untergehen.“ Er sah ihr tief in die Augen. „Solange du lebst, wird unsere Familie nicht untergehen und solange du lebst, wird Anasah nie sicher sein. Denn du wirst unseren Worten alle Ehre machen.“
„Durch Wahrheit zu Ehre“, wisperte sie und verstand.
„Ja.“ Er nickte. „Du weißt es.“
Ohne ein weiteres Wort verschwand er, nur um kurz darauf mit einem – seinem – Pferd am Zügel wieder zu kommen.
„Oh, Ifurehm!“ Sie legte den Kopf zur Seite und schenkte ihm ein Lächeln, in das sie all die Liebe hineinlegte, die sie für ihn empfand.
„Hast du wirklich geglaubt, dass Shurehm eure Ritte hat verbergen können? Manchmal hatte er mehr Herz als Verstand.“ Kurz musterte er sie, dann fügte er hinzu. „Im Gegensatz zu dir.“
Für einen Moment wusste sie nicht, was sie entgegnen soll. Ohne ein weiteres Wort half ihr Bruder ihr in Mehirus Sattel. Das Wappen verstaute sie unter ihrem Umhang.
„Leb wohl, Mechan.“
„Ifurehm!“ Sie warf ihm einen langen, sehnsüchtigen Blick zu.
„Es die Aufgabe der Männer, ihre Familie zu verteidigen und die Pflicht der Frauen, die Familie weiter zu erhalten“, entgegnete er.
Es waren Kleinigkeiten, die sie wahrnahm, als sie ihn betrachtete. Winzige Hautfetzen, die von seinen immer spröden Lippen hingen. Ein eingerissener Fingernagel, unter dem sich angetrocknetes Blut angesammelt hat. Das Muttermal unter seinem Kinn, über das sie und Shurehm sich als Kinder häufig lustig gemacht haben, weil es die Form eines Pferdes hat. Jene Stelle an der Nase, wo die Haut ein wenig dunkler gefärbt war. Sie versuchte, all das aufzusaugen, es festzuhalten, um nicht zu vergessen. Sie wollte etwas sagen, die Stille durchbrechen, ihm all das sagen, was sie nie ausgesprochen hatte. Doch zugleich hatte sie das Gefühl, dass ihr Bruder in der kostbaren Stille, die zwischen ihnen entstanden war, schon alles verstanden hatte.
Ein letztes Mal legte er ihr die Hand auf den Arm, dann öffnete er die Seitenpforte und gab dem Hengst einen Klaps auf das Hinterteil. Für einen Moment sah sie sein schmales Gesicht noch im Halbschatten, beschienen von Eandelaths Licht, doch dann fiel das Tor zu und mit ihm die Verbindung zu ihrer Familie.
Für einen Moment parierte Mechan den Rappen und blieb auf einem Hügel stehen. Von hier konnte sie Asinat nicht sehen, doch roch sie den Rauch und des Gestank verbrannten Fleisches bis hier. Er setzte sich in ihrer Nase fest und verursachte einen Würgereiz.
Ohne an die Gefahr zu denken, ließ sie sich aus dem Sattel gleiten und kauerte sich auf die Erde. Beide Hände presste sie darauf, fühlte die Steine, die sich in ihre Handfläche bohren. Einen runden Stein nahm sie in die Hand. Er war schwarz, durchzogen von einzelnen weißen Linien. Kühl lag er in der Hand und sie steckte ihn zu den restlichen Steinen in ihren Byeros, den sie unter dem Überwurf trug.
Immer noch blickte sie nach Süden, zu ihrer Heimat. Ohne es vorher geplant zu haben, beugte sie sich nieder und küsste die heimatliche Erde. Ihre Hände zu Fäusten geballt, stand sie auf. Mechan schwor sich, das sie wiederkommen würde.
Sie trat zu Mehiru und schwang sich erneut in den Sattel. Es lag noch ein langer Tag vor ihr.
Die anderen erwarteten sie schon. Mechan hatte einen weiten Umweg nehmen müssen, um ihren jungen Verfolger abzuschütteln. Erleichterung malte sich auf Liubs Gesicht, auch wenn der Anführer ihrer Wache es zu verbergen versuchte.
Er nickte, einem der ihm Untergebenen zu, der aus dem Sattel sprang und Mehirus Zügel nahm und den Hengst zu der Gruppe führte.
„Ist Euch etwas zugestoßen?“ Er war ein Eunuch, also war es ihr erlaubt, ihm direkt zu antworten.
„Nein“, erwiderte sie, „Ein einzelner Reiter hat mich verfolgt, doch ich konnte ihn abschütteln.“ Sie zögerte, dann fügte sie hinzu: „Ich glaube, dass es Fürst Antirehms Bastardsohn war. Er sah so aus, wie er.“
„Kann er Eurer Spur gefolgt sein?“
„Nein“, verneinte die Fürstentochter, „Sein Pferd hat gelahmt. Er war alleine und ist umgekehrt. Bis sie meine Spur wieder gefunden haben, kann das dauern. Der Plan hat funktioniert“ Sie sah sich unter den Versammelten um. Elf waren es ohne sie gewesen, die aus Asinat aufgebrochen waren. Jetzt waren es nur noch sieben.
„Was ist mit den anderen?“, fragte sie, um der Höflichkeit Genüge zu tun. Sie wusste längst, dass sie für diejenigen, die es nicht bis hierher geschafft hatten, nichts tun konnten.
„Heriub und Darub haben sie aus dem Sattel geschossen“, entgegnete Liub grimmig, „Ob sie noch leben, weiß ich nicht. Rusarub und Fladuf dagegen wurden bei der Verfolgungsjagd von uns getrennt. Keiner weiß, was aus ihnen geworden ist. Vermutlich sind sie in Gefangenschaft geraten.“ Er warf ihr einen kurzen Blick zu, den sie nicht entgegnete. Mochte er auch deutlich älter sein als sie, so war sie nicht in der Position, Ratschläge von ihm annehmen zu müssen – egal ob gesprochen oder nicht. Die Männer hatten ihre Aufgabe erfüllt, ihr Leben geschützt, und sie war ihnen deswegen dankbar, doch galt es, nach vorne zu sehen. Jetzt war keine Zeit für Trauer und Tränen, denn es war Krieg.
Dennoch wandte sie sich kurz ihren Männern zu und erklärte: „Sie haben ihre Aufgabe erfüllt und mir mit ihrem Leben gedient, möge Hicurath ihre weiteren Wege leiten und beschützen.“
„Hicurath!“ Der Name der Göttin schallte durch das Gebirge und ließ Mechan einen Schauer über den Rücken jagen. Es war die einzige Schwäche, die sie sich zugestand.
„Fürstin? Was gedenkt Ihr jetzt zu tun?“ Liub trieb sein Pferd weiter neben ihres. Es war das erste Mal, dass er sie mit dem Titel einer Fürstin ansprach. Seit dem Tod ihrer Mutter war dieser Titel nicht mehr ausgesprochen worden und Mechan hatte und durfte eigentlich auch jetzt nicht so genannt werden. Nur als Ehefrau eines Fürsten stand ihr diese Bezeichnung zu, nicht als Tochter. Das Liub sie dennoch verwendete, zeigte eigentlich, dass er ihren Vater und ihre Brüder jetzt schon für tot hielt und sie damit als Oberhaupt der Familie anerkannte. Es war ungewöhnlich, doch hatte sie von ihm nichts anderes erwartet. Er musste sie als Autorität anerkennen. Ein Eunuch lebte und starb mit der Frau, der er diente. Sie war sein Souverän und er war ihr verpflichtet. Diese Aussage war nichts mehr als ein Ausdruck seiner Loyalität.
„Es gibt noch etwas, das ich erledigen muss.“
Liub nickte nur und sie erkannte, dass er die ganze Zeit gewusst hatte, was sie nun tun musste.
„Ich brauche ein anderes Pferd. Man darf es nicht wieder erkennen.“ Sie ließ sich aus dem Sattel des Pferdes ihres Bruders gleiten.
Ihr Ehrenmund Karassub stieg ab und reichte ihr die Zügel seiner Stute, während er Mehirus ergriff.
„Er ist verwundet“, stellte der Eunuch fest und strich über die Flanke des Hengstes.
„Stimmt.“ Mechan runzelte die Stirn, als erinnere sie sich erst jetzt. „Ich nahm an, dass unser Verfolger nur das Sattelleder getroffen hat und er zeigte keine Anzeichen einer Verletzung.“ Sie konnte es sich nicht leisten, ein Pferd zu verlieren. Jetzt galt es, schnell vorwärts zu kommen. Eine Verletzung – egal von Mensch oder Tier- würde sie nur aufhalten und galt es um jeden Preis zu vermeiden.
Keiner von ihren Eunuchen sprach ein Wort, während sie die Taschen des Byeros, den sie unter ihrem Botenüberwurf trug, leerte und all die gesammelten Kostbarkeiten sorgsam verstaute. Die wenigsten von ihnen mochten von außen wertvoll erscheinen. Es war die Erinnerung, die sie mit sich trugen und die in ihnen gebannt war.
Als das getan war, trat auf die Braune zu und schwang sich in den Sattel. Falls ihre Begleiter sich wunderten, wie sicher sie im Sattel saß oder Bedenken wegen des kulturellen Verbots dieser Tätigkeit für sie hatten, ließen sie es sich nicht anmerken. Sie konnten auch nichts dagegen einwenden. Ihr Leben hing an dem Ihren. Starb sie, würden auch sie sterben. Kein Mensch nahm einen Eunuchen in seine Dienste auf, der seiner Herrin nicht bis zum letzen Moment Loyalität gezeigt hatte. Griff man einen Eunuchen ohne Herrin auf, so tötete man ihn. Das war Gesetz.
Es würde anders sein, wenn sie auf andere Menschen treffen würde. Dann musste sie einen Esel auftreiben oder bei einem ihrer Eunuchen mit im Sattel sitzen.
Mechan richtete noch einmal ihren Aufzug, dann nahm sie die Zügel auf und trieb die Stute an.
Erst als sie an Liub vorbei ritt, sprach er zu ihr: „Ihr seid wahrlich die Tochter Eures Vaters.“
Er hätte ihr kein größeres Lob geben können, doch sie nickte nur.
Dann ließ sie ihn und die Anderen zurück, um das zu tun, was getan werden musste. Es war egal, welches Risiko sie dabei eingehen würde – sie musste es tun. Es gab keinen anderen Weg.
Als sie zurückkam, hatte sie ihren Byeros nicht länger bei sich.
Ohne auf ihren Ausflug einzugehen, fragte Liub sie nur ein Wort: „Wohin?“
Sie warf einen Blick zum Himmel, wo Miandaths silberne Scheibe sich allmählich dem Horizont entgegenneigte.
„Erst einmal einen Unterschlupf suchen. Bis zu Viandavs Aufgang dauert es nicht mehr lange“, sprach sie das Offensichtliche aus. Am Liebsten würde sie so schnell wie möglich fern von hier sein, fern von der brennenden Stadt in ihrem Rücken, die sie noch lange in ihren Träumen verfolgen würde. Doch Viandavs Blick war tödlich und sie war nicht willig, ihr Leben mutwillig aufs Spiel zu setzen. Immerhin würden auch ihre Verfolger sich in der Nacht zurückziehen müssen. Der Blick des höchsten Gottes vertrieb sie alle, egal, welchem Bündnis sie angehörten.
„Und danach?“
Ja, wohin? Hier war ihre Heimat. Hier, wo der süße Duft des Sao-Baums in der Luft hing und die Berge Zuflucht vor der Hitze des Tages boten. Sie war in ihren Schatten geboren und aufgewachsen und all in ihr sehnte sich danach, hier zu bleiben, um ihr Fürstentum mit Gewalt zu erobern. Rache zu nehmen, an jenen, die ihr die Familie und ihre Heimat geraubt hatten. Sie ließ ihren Blick über ihre Begleiter schweifen. Es waren so wenige. Sie brauchte Männer. Wohin sollte sie sich wenden? Wer war ihrer Familie, ihr, loyal gegenüber und würde es bleiben, wenn Anasah im ganzen Fürstentum nach ihr suchen würde? Die Banner derer, die ihrem Vater schon jetzt den Rücken gekehrt und Zuflucht in den Reihen der Hohepriesterin gesucht hatten, waren ihr bekannt. Von den Zinnen Asinats hatte sie hinab gesehen und nichts als Scham empfunden, als sie Djiregs Farben und die vieler weiterer eigentlich ihrem Vater untergebenden Adeligen neben ihren Feinden erblickt hatte. Es hatte keinen bedeutenden Adeligen des Nordens oder Westens Asinats gegeben, der nicht zu Anasah übergetreten war. Auf sie konnte sie nicht zählen. Wohin also?
Es widerstrebte ihr zutiefst, sich in einer der Bergfesten zu verschanzen, auch wenn deren Befehlshaber ihr wohl noch am ehesten loyal waren. In einer Festung würde nur erneut eine Belagerung auf sie warten, der sie auf lange Zeit nicht würde standhalten können. Sie aber wollte unberechenbar bleiben und dass Anasah ihr Aufenthaltsort nicht bekannt war.
In ganz Asinat würde sie nicht die Männer finden, die sie benötigte. Es hatte nie mehr Soldaten gegeben, als die das Fürstentum zu seiner Verteidigung benötigte. Gegen Anasah und ihre Verbündeten hatten selbst die nicht genügt. Wie sollte Asinat ihr also die Männer geben, die sie brauchte, um ihr Fürstentum zurückzuerobern?
Sie würde ihre Heimat verlassen müssen. Den Wunsch ihres Vaters nach Sandele zu gehen, hatte sie nicht vergessen. Doch war es ein weiter Weg und noch gedachte sie nicht, ihn anzutreten. Lieber verließ sie sich auf das Land, dessen Bewohner und Gesetzmäßigkeiten ihr bekannt waren, ihr eigenes: Eletak. Erst, wenn das scheiterte, würde sie den Versuch wagen, nach Sandele zu gelangen.
Sie hob ihren Blick und sah Liub an: „Adlersicht. Ich brauche Nochrehm“
Es würde nur ein kurzer Aufenthalt sein, denn plante sie nicht, sich in der Festung an der Küste Asinats länger aufzuhalten. Es würde nicht lange dauern, bis die feindlichen Truppen auch den letzten Rest ihres Fürstentums einnehmen würden. Bis dahin gedachte sie, außer Anasahs Reichweite zu sein. Doch zuvor würden sich ihr Oheim und dessen Familie ihr anschließen. Sie vertraute auf die Loyalität des Befehlshabers von Adlersicht und sie benötigte dessen Autorität und Wissen, um ihren Plan durchzuführen.
Ohne ein weiteres Wort zu verlieren, trieb sie die Stute an.
Sie würde ihr Fürstentum zurückerobern, egal, wie lange es dauern mochte.