Kantigark, der erste Nanasathstag des sechsten Lichttages des 11. Schattentages des Eraz, MAE
Wenn die Schatten von Viandavs Antlitz weichen, erkennst du deine wahren Freunde
- Sprichwort aus Kantigark und Asinat-
In dem Haar der Frau war die Nacht gefangen. Einzig winzige Edelsteine glänzten und funkelten dazwischen, teilten die Schwärze und reflektierten sie doch wieder. Lange Wimpern umrahmten zwei leicht ovale Scheiben aus blassem Grau, die verwirrend funkelten. Muster aus Henna umschlangen ihre Glieder und hoben sich in bunten Farben von der Blässe ihrer Haut ab. Farben, deren Namen hier niemand kennen würde.
Ihre Gestalt glich jenen Puppen, die die Händler aus Asinat brachten und die den Töchtern der Adeligen Schreie des Entzückens entlockten. Feine Glieder, zusammengehalten mit metallenen Streben und Rädchen, die ihre Arme und Beine beweglich machten, gehüllt in dünne, prachtvolle Kleider aus feinsten Stoffen, besetzt mit winzigen Edelsteinen. Äußerlich sah sie einer Frau ähnlich, aber ihre Menschlichkeit hatte sie schon lange verloren.
Es war seltsam, sie hier zu erblicken, in den verpesteten Straßen, die nach Schmutz und Armut stanken. Die Tür entglitt Melrams Hand, als ein kräftiger Windstoß durch die Straßen Kantigarks fegte und er zu sehr damit beschäftigt war, ihr nach zu starren. Unwillkürlich blickte er zum Himmel, wo Miandath nicht mehr als ein ferner Schemen war. Viel Zeit blieb ihm nicht mehr...
Doch liebte Melram die Gefahr zu sehr, als dass er ihr jetzt hätte widerstehen können. Dafür war dieses Spiel zu unwiderstehlich und noch hatte er sich zu selten daran verbrannt, um es zu fürchten.
Seine Hand tastete nach dem Messer, das in den Falten seines Gewands verborgen war. Offiziell durften sich die Arbeiterschichten nicht bewaffnen, aber in der Realität scherte sich niemand darum und die wenigsten Soldaten waren gewillt, sich allzu tief in die Gassen der Armenviertel zu wagen, wo ihnen schon lange die Kontrolle entglitten war. Melram dagegen war hier geboren und aufgewachsen und wusste ganz genau, was die Gestalt vor ihm in diesem Sumpf von Armut und Gewalt suchte.
Es war leicht, ihr zu folgen. Die feinen, dünnen Stoffe aus Grün und Blau waren unverwechselbar - abgesehen davon, dass die Gassen sich in den letzten Stunden merklich geleert hatten. Immerhin musste er sich nicht bemühen, unauffällig zu sein. Sie wusste jetzt schon, dass er ihr folgte. Warum sollte er sich dann die Mühe machen, umständlich über die Dächer zu klettern?
Ein Sonnenberger flog ihm fast ins Gesicht, als er ihr nachstolperte. Das Gefieder war von demselben hellen Grau wie die Häuser, doch die hellblauen Sprenkel fanden sich nicht an ihnen wieder.
Für einen Moment blickte er dem kleinen Vogel nach. Es war ein Narr, dass er zu dieser Zeit noch hier herumflatterte, aber es gab so viele von ihnen, dass einer mehr oder weniger nichts ausmachen würde. Ihre Nester waren überall, sie klebten an den Dächern der Häuser, in engen Felsspalten und an den Höhlendecken. Ihr Gefieder brachte Farbe zwischen die grauen Häuser, den Unrat auf den Gassen und biss sich mit den wenigen Blumen, die das bucklige Pflaster der Hauptstraße durchstießen.
Sie musste hören, wie er ihr nachstolperte, den Alkohol verfluchend, dem er in dieser Nacht zugesprochen hatte, doch wandte sie sich kein einziges Mal um. Natürlich, schalt er sich selbst, oder hast du vergessen, wer ihre Opfer sind?
In anderen Nächten hätte er die Jagd abgebrochen, aber in dieser gärten Alkohol und der angestaute Frust zu stark in ihm.
Die Gassen waren längst verlassen, die Türen verrammelt, die Menschen vor der kurz bevorstehenden Tageshitze geflohen.
Nur ein Mädchen kam ihm entgegen, den Kopf zu Boden gerichtet, die Hände umklammerten die Riemen des Korbes, den sie auf dem Rücken trug. Doch bewies das leise Klingeln in ihrem Haar, dass es nur der Wille ihres Besitzers gewesen war, der sie auf die Straße getrieben hatte.
Melram hastete jetzt durch die Gassen, vergessen war der Alkohol und die Bequemlichkeit, die ihn in der Taverne beherrscht hatten, und hoffte, dass die Niasla das Spiel bald zu Ende bringen würde, sonst müsste auch er abbrechen, um sich hinter steinernen Mauern zu verbergen.
Doch schließlich schien auch sie der Jagd müde zu werden und als er das nächste Mal um die Ecke kam, erwartete sie ihn in einer Sackgasse. Sie stand einfach nur da und blickte ihm entgegen.
Das dunkle Haar, für das Adelige Unmengen bezahlen würden, weil es so selten war, glänzte im Licht Miandaths. Die helle Haut schien aus Eandelaths Licht gegossen, jener erster Mond, der schon vor Stunden von diesen Gefilden geschieden war. Doch selbst von der dritten Himmelskönigin war nichts mehr zu sehen, stattdessen zeigte sich zwischen den fernen Berggipfeln der erste Schimmer von Viandavs Blick.
Beeilung, Melram, flüsterte es in ihm, oder hast du vergessen, wie leidenschaftlich die Liebe dieses Gottes ist?
Unwillkürlich fasste er an das Narbengeflecht, das die Haut seiner rechten Gesichtsseite gleich Dornenranken überwucherte. In jener Nacht wäre er fast gestorben, doch schwor er sich, dass er auch diese Jagd überleben würde.
Seine Hand wanderte nun zu dem Messer und er befreite den funkelnden Stahl aus seinem Gefängnis.
Mit der Waffe in der Hand ging er vorwärts, stieg über Unrat und hinab gefallene Ziegel, bis zu der Stelle, wo sie ihn erwartete.
Ihr Geruch überdeckte den Schmutz und die Exkremente und für einen Moment genoss er, dass dieser alles wegtrug. All den Schmerz, die Verletzungen, die Enttäuschung und den Frust, die längst ein Teil von ihm geworden waren. Wie viel leichter es wäre, alles zu vergessen und hier zu bleiben, an diesem Ort, im Arm dieser vollkommenen Schönheit. Ihre Berührung war kalt und ihr Griff fest, doch erwehrte Melram sich ihrer nicht. Noch blieb Zeit, diesen Zauber zu genießen.
In der Ferne schrien einige Katzen, doch das Klirren ihrer Armreife übertönte selbst diesen letzten Rest einer fernen Wirklichkeit, die er schon fast vergessen hatte.
Er wusste, dass jetzt die Zeit gekommen wäre, das Messer zu erheben.Doch statt ihr Gesicht mit der Waffe zu liebkosen, ertasteten seine Finger ihre Züge.
Ihre Haut war glatt und als sie die roten Lippen ein wenig öffnete, waren ihre Zähne weiß. Sein Blick war nur noch auf ihr Gesicht beschränkt, die dunklen Locken, die feinen Züge und die blendend weißen Zähne.
Dass ihre Hand ihm sanft das Messer entwendete, bemerkte er kaum. Selbst als der Stahl scheppernd auf den Boden traf, wandte er den Blick nur unendlich träge zu der Waffe, mit der er sie hatte töten wollen.
Warum gab er nicht einfach auf? Wofür lohnte es sich, denn noch zu kämpfen? Wohl kaum für die Schmach seine Familie nicht ernähren zu können.
Ihre Hand umfasste sein Kinn und alle anderen Gedanken waren vergessen. Er verlor sich in ihrem Blick, in dem dunklen Haar, das in diesem Land zusammen mit heller Haut eine allzu seltene Gabe war. Sein Kopf hob sich in dem unbeschreiblichen Verlangen, sie zu küssen. Ihre Lippen näherten sich einander und sein Herz pochte gegen die Wand aus Rippen.
Urplötzlich wandelte sich ihr Gesicht in eine Maske des Grauens, ihre Schönheit zerfloss zu Schrecken und noch immer war Melram gefangen in ihrem Antlitz.
Doch dann erschütterte ihr Körper, das Gesicht zerbarst in Staub, ihre Schönheit wurde eins mit dem Schmutz der Straßen.
Er unterdrückte den Hustenreiz, hob nur verwirrt den Kopf von dem Staub zu seinen Füßen und blinzelte nicht einmal, als er die Welle des Zorns bemerkte, die ihm entgegenschlug.
Sie hatte das Messer, das der Schönheit ein Ende bereitet hatte, immer noch in der Hand. Ihr Gesicht war ein einzelnes Bild der Wut.
„Bist du wahnsinnig geworden?“, fauchte Hiratja und hob wie im Zorn die Hand, doch ließ sie dann wieder sinken. „Wolltest du dich umbringen? Sie war zu stark – selbst für dich.“
Er wusste immer noch nicht, ob er zornig oder erleichtert sein sollte, dass er noch lebte.
„Es war ein guter Wurf“, entgegnete er schwach, nicht genau wissend, was er sagen sollte. Jetzt verstand er, dass es idiotisch gewesen war. Nur war Schwäche kein Privileg, das er sich gerne eingestand. Und vor allem ihr nicht gegenüber. Niemals vor Hiratja.
In ihren dunklen Augen lag nur Zorn.
„Eine sehr schöne Wertschätzung meiner Fähigkeiten. Hast du mir die Aufgabe zugedacht, deiner Familie die Nachricht deines Todes zu bringen? Stell dir die Tränen deiner Schwestern vor, den Zorn und Unverständnis deiner Brüder, die Schuldgefühle deiner Mutter. Wolltest du das tatsächlich?“
„Ich glaube, ich habe nicht viel darüber nachgedacht, was ich wollte“, entgegnete Melram leise, doch innerlich erbebte er durch die Schuldgefühle. Hatte er tatsächlich für einen Moment geglaubt, Hisiam die Bürde des Familienältesten auferlegen zu können? Sein jüngerer Bruder wäre daran gescheitert und der Rest hätte darunter leiden müssen. Nein, seine Familie brauchte ihn und wenn er doch genau darüber nachdachte, hing er noch am Leben.
„Ja. Ich wollte sterben“, erklärte er schließlich, „Aber jetzt nicht mehr.“
Verächtlich schnaubte sie: „Sehr schöne Erkenntnis“
Sie hockte sich im Schnaub nieder und begann ihn zu durchwühlen. „Wenn dich das nächste Mal wieder eine Todessehnsucht überfällt, such dir wenigstens eine schönere Art zu sterben, anstatt des Zaubers einer Niasla.“
Hiratja besaß nichts von der Schönheit des Wesens, das sie getötet hatte. Sie war fast zwei Kopf kleiner als Melram und in dem zu großen, weiten Kleid, unter dem sie eine dunkle Pluderhose trug, war man geneigt, sie zu unterschätzen. Schwarzes, krauses Haar hing ihr verfilzt und in viele kleine Zöpfe geflochten über die Schulter und den Schmutz konnte man nur nicht sehen, weil ihre Haut selber so schwarz wie Kohlenstaub war. Ihre Arme waren bloß, so dass man die lange, schlecht verheilte Narbe sehen konnte, die ihren rechten Unterarm zeichnete und offenbarte, wie viel sie schon erlebt hatte. Wenn sie diese dagegen unter Stoff verbarg, wirkte Hiratja jünger als sechzehn, mehr ein Kind, als wie die Frau, die sie war. Aber Hiratja war schon lange erwachsen, reifer und weiser als manch anderer in ihrem Alter. Die Narbe an ihrem Arm war sichtbar, doch besaß sie viel mehr von ihnen. Dunkle Zeichen, in ihre Seele eingebrannt von Ereignissen, über die sie selbst mit Melram nie sprach. Viel munkelte man in den Straßen und hinter den Tresen der Arbeiter über die Tiakar, die eines Tages aufgetaucht war, ohne zu den Händlern zu gehören, die sich zeitweise in Kantigark niederließen. Freilich fragte sie niemand. Ebenso wie sich die Wenigsten freiwillig mit der Tiakar anlegen. Sie warf ihre Messer schneller als jeder Andere dieses Viertels und kannte Abkürzungen und Pfade, sowohl auf dem Boden als auch auf den Dächern, die niemand mehr ging. Sie hörte und sah viel und erhielt klingende Münzen für die Geheimnisse, die sie in Bordellen und auf den Dächern sammelte. Auf dem Markt mochte sie die Kinder mit ihren Kunststücken verzaubern, doch man wollte ihr nicht in einer dunklen Gasse begegnen.
Sie sah zu ihm auf. „Eins ist sicher: Ich hätte dich nicht wieder langsam mit Erinnerungen gefüttert.“
„Du hattest kein Recht, mich zu retten“, entgegnete er und nun erreichte der Zorn auch seine Stimme.
„Hatte ich das nicht?“ Wie sie da mit angewinkelten Beinen im Dreck hockte, glich sie mehr einer Wildkatze, denn einer Frau.
„Es war meine Probe“, erklärte Melram. „Und ich wäre daran gescheitert. Du hast dich gegen das Gesetz aufgelehnt, denn es war meine Probe, welche die Götter mir und nicht dir gesandt haben.“
Erneut schnaubte sie auf.
„Dann sag mir, Melram. Seit wann kümmerst du dich um die Gesetze und die Götter deines Volkes?“ Sie sah ihn nicht an, während sie sprach. Ihr Blick war gefangen von dem Schmutz zu ihren Füßen.
„Mein Vater ist gestorben, weil er Recht und Gesetz missachtet hat“, knurrte er. Natürlich hatte sie Recht und das wussten sie beide. Die Gesetze der Götter interessierten ihn wenig, das hatten sie noch nie, aber sein Vater hatte sich davongestohlen und seinen ältesten Sohn mit der Verantwortung zurückgelassen. Aber hatte er soeben nicht das Gleiche tun wollen? Es war nicht Hiratja gewesen, die der Niasla gefolgt war. Er alleine. War er denn wirklich besser als sein Vater? Ein besseres Familienoberhaupt? Verwirrt hielt er inne und sah nur Hiratja an, die ihm gegenüber hockte.
„Dein Vater“, murmelte sie, „Es ist also wieder die alte Geschichte?“
Dieses Mal sah sie ihn an. Ihre Augen. Dunkle Kohlen, die doch nicht verbrannten.
„Ja. Sie haben mich herausgeschmissen, weil sie herausgefunden haben, wer er war.
Als ob ich mir meinen Vater ausgesucht hätte. Wahrscheinlich sollte ich noch froh darüber sein, dass sie mich am Ende der Woche entlassen haben, somit habe ich immerhin noch einen vollen Wochenlohn erhalten.“ Es war einfacher über seinen Zorn als über seine Zweifel zu reden. So viel leichter.
Seine Arbeit im fürstlichen Salzbergwerk würde er sicherlich nicht vermissen, doch sein Lohn würde der Familie fehlen. Damit würde Hisiam der Einzige sein, der einen vollen Verdienst einbringen würde, denn es dauerte noch zwei Lichttage bis Tivunam volljährig wurde und bei Niram noch zwei ganze Schattentage. Das Geld würde ihnen fehlen, soviel war sicher.
Seine Freundin räusperte sich und drückte ihm sein Messer in die Hand, bevor sie sich erneut niederbeugte. Der Edelstein schimmerte golden in ihrer Hand, einzelne rote Schlieren durchzogen das Innere dessen, was einst das Herz der Niasla gebildet hatte. So viel Schönheit, entstanden aus so viel Schrecken. Wie konnte das sein? Melram stellte sich solche Fragen selten. Doch jetzt drängte sie sich ihm auf. Hatte der Schrecken ihn so verwundbar, so sentimental werden lassen, dass er sich jetzt sogar Fragen stellte, die doch eine Aufgabe der Reichen war?
„Ich glaube nicht, dass wir jemals einen so großen hatten“, meinte Hiratja und obwohl der Zorn immer noch in ihrer Stimme lag, konnte sie eine gewisse Bewunderung nicht verhehlen.
„Sie war auch stärker, als jede Andere, der ich bisher begegnet bin.“ Seine Stimme war rau, doch er war froh, dass sich das Beben in seinem Inneren nicht auf sie übertrug.
„Natürlich war sie das.“
Die Tiakar verdrehte die Augen, schob den Stein unter ihr Gewand und setzte sich mit einem besorgten Blick in Richtung Himmel in Bewegung.
Kopfschüttelnd blickte Melram ihr hinterher. Er kannte keine andere Person, die so offen ihre Meinung sagte und zeigte, egal, was die Konsequenzen waren. Nur wenn es um Geschäfte ging, konnte sie ihre Zunge im Zaum halten. Doch war Hiratja in einer Kultur aufgewachsen, die nicht streng hierarchisch und regelvielfältig wie Melrams gegliedert war, sondern die eines wilden Nomadenvolkes der Wüste war.
Er musste laufen, um sie einzuholen, doch als er neben ihr ging, wandte sie sich zu ihm um und fragte: „Verkaufen wir ihn an Mintasathstag?“
„Es ist deiner. Du hast sie getötet.“
„Und du hast sie angelockt“, konterte sie, „Wir werden teilen.“
Er war froh, dass sie das sagte, auch wenn er es nicht aussprechen würde. Seine Familie benötigte das Geld dringend.
„Soll ich dich begleiten?“, fragte er.
Zwar gab seine Freundin sich unabhängig, doch war es in einer von Männern dominierten Welt unklug, ohne Begleitung zu erscheinen. In ihrem Status als Ausländerin war sie zumindest in Kantigark zwar auf eine gewisse Art und Weise geschützt, nur konnte keine Frau sich darauf verlassen, dass ein Mann mit ihr sprach und handelte.
Sie nickte mit einer Einfachheit, die er bewunderte.
Die Straßen waren wie leer gefegt, als sie zu Melrams Haus liefen. All das Gesindel, das meinte die Nacht zu beherrschen, war vor dem Tag geflüchtet. Viandav trieb sie alle in die Häuser und Verstecke zurück, aus denen sie kamen.
Dementsprechend erstaunt war Melram, als sie auf einmal Ankram gegenüber standen.
„Was machst du hier?“, fragte er den alten Bekannten verblüfft. Ihn hatte der Blick Viandavs noch schlimmer erwischt als ihn selber. Die Narben, die sein Gesicht zeichneten, erregten bei so manchem Kind fantasievolle Geschichten.
„Was macht ihr hier?“, gab dieser zurück. „Ist ja auch egal. Seid ihr übermorgen beim Rennen dabei?“
Die Freunde wechselten einen kurzen Blick, dann nickte Melram. Die rasanten Pferde zu beobachten, war ein ganz anderes Vergnügen als der billige Alkohol, in dem er für gewöhnlich seine Sorgen ertrank. Außerdem war es der ideale Ort, um sich im Getümmel unverdächtig mit Menschen zu treffen, denen man gewöhnlich nicht begegnete.
„Wer glaubt ihr, gewinnt?“
„Asarovs Sturm“, entgegnete Hiratjas Begleiter, ohne zu zögern.
„Ohne Zweifel ein guter Renner“, stimmte Ankram zu, „Doch hat er die Eigenschaft, seine Kräfte zu früh einzusetzen. Und da Asarak ihn reitet, der diese Eigenschaft eher fördert, denn ihn zurückhält, wird er verlieren. Aber wenn ihr wirklich Gewinn machen wollt, setzt auf Aevra.“
„Ich wette nicht“, meinte Melram bestimmt. Dies war eine Grenze, die selbst er noch nicht überschritten hatte, auch wenn es ein Vergnügen für viele war. Dafür war ihm sein Geld doch zu kostbar. „Aber selbst wenn, würde ich nicht auf Aevra setzen. Sie mag zwei Rennen gewonnen haben. Gegen die bedeutenden Pferde, die übermorgen am Start sind, ist sie jedoch noch nicht angetreten“, fuhr er fort.
„Hast du sie jemals laufen gesehen?“, fragte Ankram, dem die Begeisterung über diese Stute deutlich anzusehen war.
„Nein.“ Ein leises Seufzen entrang Melrams Lippen. Angesichts der vorigen Erlebnisse erschien ihm dieses Gespräch banal und unwichtig. Andererseits war Ankram einer der wenigen Menschen außerhalb seiner Familie, die ihm wirklich etwas bedeuteten. Die Rennen waren eine Leidenschaft, hinter dem der alte Mann seine nicht eben gesetzlichen Tätigkeiten verbarg.
„Also kannst du auch ihre Fähigkeiten nicht einschätzen, außerdem reitet mein Enkel sie. Merke dir meine Worte: Sie wird gewinnen.“
Damit wandte Ankram sich ab und ließ Hiratja und Melram zurück, die ihren Weg fortsetzen.
Melram seufzte. „Manchmal fürchte ich, dass Ankram alt wird und zwar nicht nur körperlich.“
„Das glaube ich nicht“, entgegnete Hiratja in einem Ton, der keine weitere Diskussion zuließ.
Der Rest des Weges wurde von Schweigen begleitet.
„Also in zwei Tagen vor Jinuvs Hügel“, versicherte sich Melram, als sie vor dem Haus seiner Familie ankamen.
Er schob die Hand in den Beutel an seiner Seite und ließ das Salz in die Schale rieseln, welche die Viandav-Statue neben der Haustür in den Händen hielt.
„Willst du mit hineinkommen?“, fragte er, obwohl er die Antwort schon kannte.
„Nein“, entgegnete sie, „Bis zu mir schaffe ich es gerade noch.“
Er hatte sie einmal gefragt, wo sie wohnte und es seitdem nie wieder versucht. Über ihren Wohnsitz sprach sie eben so wenig, wie über die Arbeit, mit der sie außerhalb ihrer Jagden und der Vorführungen auf dem Marktplatz ihr Geld verdiente.
Sie blickte ihn an.
„Am Kelarathstag in drei Wochen breche ich wieder auf.“
Obwohl sie es nicht aussprach, hing die stumme Frage, ob er dieses Mal mitkam, wie jedes Mal zwischen ihnen.
„Wohin willst du?“, fragte er.
„Erst einmal zu meinem Volk. Ich habe von einer Gruppe gehört, die nach Nisorat und dann weiter nach Hasuhar ziehen will.“.
„Das ist eine weite Reise.“ Und eine gefährliche, fügte er in Gedanken hinzu. Das Volk der Tiakar war nicht überall so gern gesehen wie hier in Kantigark und in Hasuhar wurden sie offen verfolgt. Doch wies er sie nicht auf eine Tatsache hin, die schon immer ein Teil ihres Lebens gewesen war. Hiratja würde die Gefahr nicht davon abhalten, auch dort Handel zu treiben – wenn auch inoffiziell.
Sie grinste. „Mit guten Handelsplätzen.“
„Du wirst lange fort sein.“
„In etwa zwei Lichttage, vielleicht auch drei. Überleg es dir.“
„Das werde ich“, erklärte er, so leise, dass es kaum zu hören war.
Sie wussten beide, dass er ablehnen würde. Dennoch würde es Hiratja nicht davon abhalten, ihm diese Frage weiterhin zu stellen.
Ein letztes Mal hob sie die Hand, dann war sie fort, eine schmale Gestalt, die über Vorsprünge auf das Dach des Nachbarn kletterte und über die Dächer sprang, als wäre sie auf ihnen geboren.
Melram wandte sich um und schob die schwere Haustür knarrend auf.
Er trat ein und verriegelte sie sorgsam, bevor er seine schweren Stiefel auszog.
Wenige Lichtstrahlen erhellten den schmalen Flur, der vom Wohnraum mit einem dicken Vorhang abgetrennt wurde. Staub tanzte im Zwielicht und er wusste, das noch viel mehr davon in den Ecken lag. Selbst im Halbdunkel fand er die bereitstehende Schale mit Sand und rieb seine Füße mit diesem ab, wie es der Brauch verlangte.
Erst dann zog er den Vorhang beiseite und trat in den eigentlichen Wohnraum ein.
Die Erste, die er im Licht der flackernden Feuerschale erblickte war Sural. Sie saß mit dem Rücken zu ihm auf dem Bodenteppich und stickte etwas.
Nachdenklich betrachtete er sie.
Nicht mehr lange und man würde auch ihr das Haar flechten müssen. Dann würde es seine Aufgabe sein, ihr einen Mann zu suchen.
Dies würde wahrlich nicht schwer sein. Sie galt schon jetzt als Schönheit. Doch Melram vermisste das Kind, das sie schon lange nicht mehr war. Das Kind, das ihn mit Fragen löcherte und nicht zeigen wollte, wie sehr sie sich über seine Geschenke freute.
Manchmal biss sie sich immer noch auf die Unterlippe und friemelte bei Ungeduld die Naht ihrer Kleidung auf. Dies waren jedoch nur noch gelegentliche Zeichen einer Vergangenheit, die sie um jeden Preis abzulegen versuchte.
Sie runzelte die Stirn, als sie ihn erblickte und fragte leise: „Hast du getrunken?“
Erstaunt nickte er. Bei dem Gespräch mit Hiratja hatte er dies absolut vergessen.
„Ich wette, du hast darüber Hisiams Tag vergessen?“
Scham breitete sich in ihm aus. Über den Zorn entlassen worden zu sein, hatte er vergessen, dass er geplant hatte, auf dem Markt vorbeizugehen, um ein Geschenk für seinen Bruder zu besorgen.
Sie nickte nur, als hätte sie nichts anderes erwartet.
Hühnergegacker klang zu ihnen herüber und so fuhr sie erst nach einer Weile fort: „Sag ihm, dass du mit Gayaram sprechen wirst und Geld für ihn zurückgelegt hast.“
„Was hat Gayaram damit zu tun?“
Sural musterte ihn erstaunt und senkte die Stimme noch mehr: „Hast du nicht bemerkt wie er Binal hinterher starrt?“
Der Gedanke, dass sein kleiner Bruder mit dem Gedanken spielte, eine Familie zu gründen, war wirklich unerwartet. Doch konnte er sich vorstellen, dass ihr Nachbar seine Tochter nur für einen stolzen Preis in Hisiams Hände geben würde und schon jetzt wusste Melram eigentlich, dass Binal zu teuer war. Sie war jung und hübsch genug, um darauf hoffen zu können, dass ein reicher Händler oder Handwerker sie als Nebenfrau erwarb. Dennoch war es einen Versuch wert, zumindest mit ihrem Vater zu reden.
„Ich werde es ihm sagen“, erklärte er schließlich resigniert.
Seine Schwester nickte zufrieden und beugte sich wieder über ihre Arbeit, als wäre nichts geschehen.
Melram zögerte kurz, überlegte, ob er noch etwas sagen wollte, dann schob er den Vorhang zur Seite, der die Schlafgelegenheiten von dem Rest des Raumes abtrennte.
In der Dunkelheit tastete er sich zu dem Lager seiner jüngsten Schwester vor. Vorsichtig deckte er Sinal zu, da sie meistens allzu unruhig schlief. Doch momentan bedeckte ein Lächeln das Gesicht des Mädchens, so dass er zu Pinduth betete, dass ihr das harte Leben dieses Lächeln nicht zu bald stahl.
Dann ließ er sich zu Hisiam auf das Lager fallen und obwohl er von seinem nächst jüngsten Bruder nur Schemen erhaschen konnte, meinte er an den Atemzügen zu erkennen, dass dieser noch lange nicht schlief.
Mit einem wehmütigen Lächeln meinte er: „Ich weiß, dass du auch nach einem anstrengenden Tag nicht sogleich einschläfst. Allerdings kann ich mir auch vorstellen, dass es schöner ist, an der Seite einer Frau, anstatt der Geschwister in den Schlaf zu versinken. Ich bin sicher, da lässt sich etwas organisieren.“
Ohne, dass er eine Antwort erhalten hätte, erhob er sich. Er wusste, dass Hisiam in diesem Moment lächelte. Sein ganzes Leben kannte er ihn und seine Eigenheiten schon.
Als er wieder in den Wohnraum zurücktrat, waren auch die anderen versammelt. Melrams Mutter Remal zog grade den Vorhang vor die Tür. Die schwarze Seite zeigte zur Tür, während ein sattes Orange in den Raum hinein strahlte. Eine Fackel umgeben von fünf dunkelblauen Flammsteinen war auf den schweren Stoff genäht, das Zeichen von Kelarath, Göttin der Familie und Schützerin der Ehe und des Heims.
Remal lächelte ihn an, doch es gab einen dunklen Schatten, der nie aus ihren Augen verschwand und sie älter als die dreiunddreißig Schattentage wirken ließ, die sie zählte.
Melram dagegen wurde jedes Mal, wenn er sie anblickte, erneut an den Tod seines Vaters erinnert.
Der Schmerz war auch nach neun Schattentagen nicht vergangen.
Melram war damals acht gewesen und der Einzige der Geschwister, mit dem Iaram sein Wissen geteilt und den er seinen Weg, die Welt zu sehen, gelehrt hatte.
Wie er durch den erneuten Verlust seiner Arbeit nun wieder mal erkennen musste, war dabei kaum etwas Gutes herausgekommen.
Und doch war er früher manchmal aufgewacht und hatte sich gefragt, was wohl geschehen wäre, hätte sein Vater nicht das Gesetz gebrochen und Melram somit nicht die Verantwortung für seine Mutter und seine fünf Geschwister hätte übernehmen müssen.
Solche Fragen sollte er sich eigentlich nicht stellen. Es lohnte sich einfach nicht. Und eigentlich wusste er das auch.
„Hast du Hunger?“
Er blickte auf und sah in das fragende Gesicht seiner Mutter.
Schließlich nickte er und hielt kurz darauf eine Schüssel mit Arsar in der Hand. Es war kein besonders schmackhaftes Gericht, doch es war eines, das billig war, denn der Hauptbestandteil – die Bohnen der Steinblüter-Ranken – wucherten auch an ihrem Haus empor.
Nachdenklich starrte er in sein Essen und lauschte nebenbei der Diskussion zwischen Sural und ihrem Zwillingsbruder Niram, ob sie einen neuen Hahn kaufen oder warten sollten, bis eines der Küken zum Hahn heranwuchs.
Tivunam sprang von der Treppe, die aufs Dach führte, hinunter, klopfte sich die Hände ab und meinte: „Alles sicher.“
„Gut“, lobte Melram ihn, als wenn diese einfache Antwort momentan alle Worte umfasste, die er seinem Bruder schenken konnte.
Der dritte Sohn seiner Eltern setzte sich neben ihn, riss sich ein Stück vom Brot ab und fragte kauend: „Wie war der Tag?“
„Ich habe meine Arbeit verloren“, erklärte Melram leise. „Ich werde mir eine neue suchen müssen.“
Seine Mutter hob den Kopf. „Ich werde Anjal fragen, ob sie eine Arbeit weiß.“
Anjal war ihre Schwester, die Einzige aus ihrer Familie, die ihnen ab und an half. Normalerweise hielt auch eine Großfamilie zusammen, doch als Ehefrau eines Verbrechers war Remal ausgestoßen worden und auf sich allein gestellt.
Tivunam klopfte ihm freundschaftlich auf die Schulter.
„Natürlich wirst du eine finden.“
Schon immer hatte Melram sich gefragt wie sein Bruder nur immer so zuversichtlich sein konnte und warum ihm nur so wenige Dinge die Laune verderben konnten.
Er freute sich jetzt schon auf den Tag in zwei Lichttagen, an welchem er Tivunam als Familienoberhaupt das Haar abschneiden würde, weil er dann zu den Erwachsenen zählen würde.
Und als er in die Gesichter derjenigen blickte, die er zu seiner Familie zählte, war er froh, dass Hiratja da gewesen war, um ihn vor sich selbst und seiner Selbstaufgabe zu retten.