Mirvuh mochte gebrechlich wirken und nur noch gebeugt gehen, aber den Bücherstapel nahm sie entgegen, als wäre er Luft.
„Danke.“ Sie nickte Shiot freundlich zu. Aber das war alles. Kein Wort der Erklärung, weshalb ihre Schülerin die Bücher die steile Wendeltreppe hatte hinaufsteigen müssen. Das war unbefriedigend.
Ein schmales Lächeln zierte die Mundwinkel der Hohepriesterin, als sie fragte: „Ist alles in Ordnung?“
War alles in Ordnung? Sollte sie nicht eigentlich zufrieden sein, wo sie das Privileg hatte, der Hohepriesterin mit ihrem unglaublichen Wissensschatz zu dienen und Zeit mit ihr zu verbringen, um von ihr zu lernen?
Ich will eine Partnerin, keine Sklavin, hatte Mirvuh in dem Gespräch zu ihr gesagt, bevor sie sich entschieden hatte, ihr zu dienen. Zwei Wochen war dies jetzt her. Sicherlich behandelte die Hohepriesterin sie stets höflich, fragte sie, wie es ihr ging und ob sie Hilfe bräuchte, doch hatte sie nicht wirklich das Gefühl, dass Mirvuh sie auch an ihren Gedanken teilhaben ließ. Mehrmals hatte sie sich die Zeit genommen und die junge Priesterin unterrichtet, zunächst über das wissenschaftliche Arbeiten und das richtige Schreiben von Texten, dann über verschiedene Wissensbereiche. So hatte sie Shiots Wissen über das politische System und den Aufbau der Tempel berichtigt, sich mit ihrem Geschichtsbild beschäftigt, ihr einige Autoren nahe gelegt und hatte mit ihr Unterschiede zwischen Daerai und Taksori gesammelt, sowie sie einen Text in Daerai in der gewöhnlichen Sprache neu zu schreiben, etwas, was sie noch nie getan hatte. Was Shiot jedoch fehlte, war der Bezug zwischen den verschiedenen Lektionen, sie vermochte es einfach nicht das Ziel, das große Ganze zu erkennen. Und Mirvuh schien das nicht zu verstehen, egal wie oft, ihre Schülerin und Dienerin es andeutete.
„Ja“, erwiderte sie, dann hatte sie sich mit einem Lächeln abgewandt.
Loa war es gewesen, zu der sie mit ihrem Leid und ihren Gedanken gekommen war. Still hatte ihre Freundin ihr zugehört, während sie im Garten auf dem Tempeldach gesessen hatten und die Blumen ihnen eine Decke aus bunten Farben boten. Als Shiot geendet hatte, stand die junge Suchende auf und klopfte ihr auf die Schulter: „Du weißt, was wir jetzt zu tun haben?“
Shiot hob eine Augenbraue. „Was denn?“, fragte sie.
„In die Bibliothek gehen, natürlich und selbst herausfinden, was Mirvuh so interessiert.“
Überrascht von dem Tatendrang ihrer Freundin musterte Shiot sie.
„Warum interessierst du dich dafür?“
Die Suchende Priesterin beugte sich nach vorne.
„Mir ist es wichtig, was dich bewegt“, entgegnete sie, „Deshalb beschäftige ich mich mit diesen Dingen“
Gerührt nickte Shiot und murmelte leise: „Danke“
Sie wusste nie, was sie in solchen Momenten sagen sollte. Menschliche Nähe war nichts, die man in Büchern erklären konnte und um mit Pflanzen umzugehen, brauchte man keine Kommunikationsfähigkeit. Und so versuchte sie in dieses einzige Wort all die Dankbarkeit zu stecken, die sie in diesem Moment für die Freundin empfand.
Wenn Loa ihre Unbeholfenheit bemerkte, so ließ sie es sich nicht anmerken.
Sie lächelte nur und streckte der jüngeren Frau ihre Hand entgegen.
„Komm.“
Gemeinsam machten sie sich auf den Weg zur Bibliothek.
Da sie die gemeinsame Bibliothek aller Hochtempel war, befand sie sich in der Mitte des Plateaus unter dem Fundament des Viandav-Tempels. Dem höchsten Gott traute man am ehesten zu, die gewaltigen Schätze der Vergangenheit zu bewahren und zu beschützen. Jeder vollwertige und jeder Priester in der Ausbildung egal welchem Gott er diente, durfte die Bücher nutzen.
Es war die größte Bibliothek Eletaks. Offiziell beherbergte sie Literatur zu allen Göttern und Fachrichtungen, doch da die Hochtempel und Tempel über das ganze Land verteilt waren, besaß jeder Tempel zusätzlich seine eigene Sammlung. Der Hochtempel der Eandelath hatte aufgrund der geringen Entfernung nur eine kleine Bibliothek, die hauptsächlich Werke umfassten, die sich mit dem Dienst für Eandelath beschäftigten wie der Ablauf der Liturgie, Gesänge und Tänze.
Weiter entfernt stehende Tempel hatten größere Bibliotheken, die zusätzlich Werke über Allgemeinwissen beinhalteten. Doch hatte diese Entwicklung dazu geführt, dass die ursprünglich angedachte Leitung der Bibliothek durch Vertreter aller Hochtempel in die Hände der vier wichtigsten Hochtempel übergegangen war: Viandav, Eandelath, Oandath, Mintasath. Diese wechselten sich mit der Leitung ab.
Am heutigen Tag dienten männliche Priester, was bedeutete, dass Viandavs Priester die Ehre hatten, den Wissensschatz zu beaufsichtigen.
Wie immer beeindruckten Shiot die gewaltigen Türen, in dessen Holz kostbare Edelsteine eingelassen waren und die Pracht der Wandteppiche, welche die freien Flächen ausfüllten. Doch bevor sie in die Halle des Wissens traten, galt es, sich der Prüfung zu unterziehen, ohne die niemand, über die Schwelle treten konnte, egal welchen Rang er bekleidete. Es war nur ein einfaches Wort, das die beiden jungen Frauen aussprachen, doch auf eine Weise, die sie nicht verstanden, beeinflusste die Art, wie sie das Wort einer ihnen unbekannten Sprache, aussprachen, ob die unsichtbare Barriere, die über der Schwelle lag, nachgab oder nicht, ob ihnen der Zutritt gestattet oder verwehrt wurde. Es war ein seltsames Wort, das keinen Sinn in ihrer Sprache ergab und Shiot wie immer erschaudern ließ.
Doch, ohne etwas von diesem Gefühl mit Loa zu teilen, traten sie über die Schwelle und standen in den Hallen des Wissens. Priester eilten über den mit prachtvollen Mosaiken verzierten Boden, trugen Bücherstapel oder dicke Papiermappen in den Armen und ignorierten die jungen Priesterinnen zumeist. Dünne, filigrane Säulen stützten die Decke und hoben sich zu den Deckenmalereien ab, die strahlende Bilder ergaben. Von dieser Haupthalle gingen viele weitere Räume ab, wo die Bücherschätze, die in der Eingangshalle überhaupt keinen Platz gefunden hatten, nach Themengebieten und Autoren sortiert standen. Wie immer war Shiot zunächst überwältigt, von den unvorstellbaren Schätzen, die sich hier vor ihren Augen ergaben und das viele Wissen, dass sie nie vermögen würde, zu erfassen.
So war es ihre Freundin, die die Dinge in die Hand nahm.
„Als aller Erstes“, meinte sie, „Sollten wir das Verzeichnis suchen, in dem festgehalten ist, welche Bücher Mirvuh selbst im Laufe ihres Lebens geschrieben hat.“
Shiot nickte. Das war ein sinnvoller Anfang.
Im Tempel hatte alles seine Ordnung und somit auch in der Bibliothek. Jedes vorhandene Buch war aufgelistet und dokumentiert.
Als Problem erwies sich, das Mirvuh Dutzende von Werken geschrieben hatte.
Mit einem Seufzen blickte ihre Freundin auf das lange Verzeichnis von Titeln und Standorten.
„Wenn wir die alle durcharbeiten wollen, brauchen wir Ewigkeiten.“
Selbst Shiot war nicht bewusst gewesen, wie viele Werke die Hohepriesterin verfasst hatte. Ein halbes Dutzend der Titel hatte sie gelesen, zumeist Grundlagenwerke, weitere hatte sie in der Bibliothek oder bei Mirvuh gesehen, doch den Großteil…
„Hast du nicht gesagt, dass sie viel über die Tiakar liest?“, murmelte Loa fragend.
„Ja, das stimmt.“
„Vor zehn Schattentagen hat sie ein Buch mit dem Titel „Warum die Tiaker so grausam seyn – Vorstellungen unter der Herrschaft des Foarez’“ veröffentlicht.“
„Das hört sich gut an“, erwiderte Shiot, denn sie hatte sowieso noch etwas über die Regierungszeit des Foarez’ und seinen Umgang mit den Tiakarn lesen wollen, nachdem sie bei dem Gespräch mit Mirvuh bemerkt hatte, wie wenig sie über diese Zeit und den Konflikt wusste.
Ihre Freundin las weitere Titel vor und bei jedem stellte die junge Priesterin fest, dass es sicherlich gut wäre, sie zu lesen, dass sie dafür nur viel zu wenig Zeit hatte.
„Was hältst du davon, wenn wir uns von hinten nach vorne vorarbeiten“, schlug sie schließlich vor.
Loa nickte und blätterte zum Ende der Liste. „Ihr vorletztes Buch ist „Die Bedeutung der Vorstellungskraft für die Sprache. Überlegungen zur Wissenschaft der Semiotik“ Bei Indiasalath, was für ein Name! Ihr letztes, veröffentlicht vor drei Schattentagen, trägt den Titel „Über die Geschichte der Namenssuffixe“ Erstaunlich, worüber man alles Bücher schreiben kann.“ Sie hob eine Augenbraue, kramte von irgendwo Stift und Zettel hervor und schrieb sich die Standorte auf.
„Schreibst du auch noch das über die Tiakar auf?“, bat Shiot, während sie ihrer Freundin über die Schulter schlinzte und überlegte, wie sie am schnellsten zu den Standorten der beiden Bücher kamen.
Das Buch zur Semiotik war ein dicker Wälzer, eingeschlagen in hellblau gefärbtes Leder und mit goldenen Mustern versehen, die sich in Ranken und Blumen über den Umschlag zogen. Schon nachdem Shiot die ersten Seiten überflogen hatte, wusste sie, dass dies keine einfache Lektüre werden würde. Schon Mirvuhs Grundlagenwerke hatten sich durch eine komplexe Satzstruktur und Formulierungskunst ausgezeichnet, doch schien ihre Fachliteratur in beider Hinsicht ungleich kompakter zu sein.
Außerdem interessierte sich Shiot zwar viel für Historik, was eines der Forschungsschwerpunkte Mirvuhs war, doch mit Sprachwissenschaft, dem anderen Forschungsschwerpunkt ihrer Hohepriesterin, hatte sie sich bisher kaum befasst. Sie hatte in ihrem Unterricht sowohl das exakte Sprechen sowie diplomatisches Formulieren der Tempelsprache Daerai und der gemeinen Sprache Taksori erlernt, aber den Aufbau und die Geschichte derer? Für sie war es ein unbekanntes Gebiet, auf das sie sich wagte, doch umso wichtiger, weil von ihr erwartet wurde, dass sie Mirvuh mit allem Können und Wissen half und unterstützte.
Mit einem Seufzen klappte sie das Werk ihrer Herrin zu und reichte es ihrer Freundin, die es auf die anderen beiden deutlich schmäleren Bände legte, die schon in ihren für eine Priesterin und Frau erstaunlich muskulösen Armen ruhten. Es waren andere Werke von Mirvuh, über die sie beim Durchforsten der Regalreihen gestoßen waren und die sie kurzerhand mitgenommen hatten.
Schon bald stießen sie auf mehr Bücher der Hohepriesterin, die sie tragen konnten und so beließen sie diese in den Regalen. Doch die beiden Bücher, die sie suchten, jenes über die Tiakar und das über die Namenssuffixe, blieben verschwunden.
Als sie die Regale mehrfach abgesucht hatten und im Verzeichnis überprüft hatten, ob sie sich die richtigen Standorte aufgeschrieben hatten, blieb ihnen nichts anderen übrig, als zu einem der dienenden Viandav-Priester zu gehen. Auch wenn der Priester, auf den sie zuerst trafen, mit seinem mit Topasen und Diamanten bestickten Gewand und seiner hochmütigen Haltung, nicht im Geringsten demütig und dienend wirkte.
Zunächst ließ er sie warten, während er in einem dicken Buch etwas festhielt, dann schenkte er ihnen einen Blick, als ob es eine Zumutung wäre, dass sie ihm durch die Schilderung ihres Problems seine Zeit in Anspruch nahmen.
„Meine Damen.“ Ein herablassendes Lächeln umspielte die Lippen des Priesters. „Ich kann sie beruhigen. Es gibt einen ganz einfachen Grund, warum sie ihre beiden Bücher nicht finden können:“ Er stoppte kurz. „Sie sind ausgeliehen“
„Nein“, entgegnete Shiot zornig. Zornig, wegen der Herablassung, mit der der Priester sie behandelte und damit ihren Wert herabstufte, wozu aber allein Eandelath in der Lage war „Laut dem Verzeichnis sind zwei Abschriften des zweiten Buches vorhanden. Eines ist ausleihbar, aber das andere gehört dem Präsenzbestand an. Wenn ein Buch aus dem Präsenzbestand nicht aufzufinden ist, hat diese Bibliothek ihren Auftrag eindeutig nicht erfüllt.“
Für eine Bibliothek, die immer stolz auf ihren Wert und ihre Arbeit pochte, waren diese Anschuldigungen ernst, doch ließ der Priester sich dadurch nicht im Geringsten aus der Ruhe bringen.
„Verzeihung die Damen, aber diese Abkürzungen sind allein für die Priester gedacht, die in dieser Bibliothek arbeiten und für den Laien nicht verständlich. Deshalb möchte ich sie auch nicht weiter mit den Einzelheiten belangen und bitte sie, mich nun zu entschuldigen.“
Er schenkte ihnen ein knappes Nicken, dann wandte er sich ab und ließ die beiden jungen Frauen zurück.
„Allein für Priester gedacht“, murrte Shiot, „Dass ich nicht lache.“
Seufzend ließ sie den Arm mit der Liste sinken.
„Ich weiß, wer uns helfen kann“, meinte Loa plötzlich. „Ich habe einen Freund, der auch hier arbeitet. Er kann uns sicherlich einige Sachen erklären.“
Ja, dachte die junge Priesterin mürrisch, zum Beispiel welches Recht alte, dumme Männer haben, unser Land zu regieren und mir den Tag zu verderben.
Doch sie nickte.
Ihr Freund erwies sich als ein junger Priester, der ein paar Schattentage älter als Loa war. Die Anzahl der Knoten in seinem, um die Hüfte gebundenen, vergoldeten Hanfseil verriet, dass er seine Prüfung vor drei Schattentagen abgelegt hatte.
Scheinbar ohne Angst vor dem Abgrund saß er an einen Stein gelehnt da und sah in die Ferne und auf das Land, das sich unter dem Himmelsfels ausbreitete. Die beiden Frauen schien er nicht zu bemerken und so blieb Shiot ein Moment, um ihn und den Treffpunkt zu betrachten.
Es war ihr Vorschlag gewesen, sich hier zu treffen, auch wenn sie damit einen der Plätze, an die sie sich zurückzog, wenn sie Ruhe benötigte, preisgeben musste.
Nördlich des Mintasath-Tempels, der im Nordwesten des Himmelsfelsen errichtet worden war, waren Teile des Tafelberges schon vor Schattentagen durch ein Erdbeben abgebrochen und Risse durchzogen das Gestein, sodass die Bruchkante gemieden wurde.
Mehr durch einen Zufall als durch großes Geschick hatte Shiot entdeckt, dass man durch einen der größeren Risse relativ bequem in eine Höhle gelangte, die aufgrund von seitlich vorgeschobenen Felswände nicht einsehbar war. Vor einiger Zeit hatte sie sogar Steinplatten auf dem Höhlenboden aufgeschichtet, sodass der Weg durch den Riss einfach zu überwinden war.
Es war ein ruhiger, ungestörter Ort, der perfekt geeignet war, um sich unbequemen Fragen zu stellen und Antworten zu suchen.
Erst als sie sich bis auf drei Schritte genähert hatten, wandte der junge Mann sich um und erklärte: „Da seid ihr ja“
Aus den Augenwinkeln nahm Shiot wahr, wie Loa sich aufrichtete und die Brust rausstreckte. Unwillkürlich fragte sie sich, ob ihre Freundin den Priester in ihr Bett gelassen hatte, doch wäre das Stellen dieser Frage sicherlich nicht der weiseste Gesprächsbeginn. Auch wenn Priester eine weitaus freiere Sexualität ausleben durften, als jede andere Gruppe in Eletak, konnte sie sich nicht vorstellen, mit Loa – so gut sie sich auf mit ihr verstand – über solche Themen zu reden. Der Priester war ein gutaussehender Mann und Kinder, die dieser Verbindung entstammen würden, hätten auf jeden Fall das Recht, nach den Steinen zu greifen und den Weg eines Priesters zu beschreiten.
Die Diener der Götter heirateten nicht, denn gehörten sie allein ihrem Gott, doch bedeutete dies keine Begrenzung für Sexualität. Für Priesterinnen galt immerhin die Vorschrift, nur Priester in ihr Bett zu lassen, während Priester das Recht hatten, mit Frauen und auch Männern jedes Standes Beziehungen zu führen. Eine Ausnahme bildeten die Priesterinnen der Fruchtbarkeitsgöttin Nanasath, zu deren Aufgabenbereichen es gehörte, das Land mit der Fruchtbarkeit ihres Leibes zu segnen. Doch wäre dies nie ein Weg, den Shiot wählen würde. Von Anasah sagte man, dass sie Eraz vier Kinder geboren hatte und auch die Hohepriesterin Mintasaths, Enisah, hatte dem Viandav-Hohepriester zwei Kinder geschenkt und wie viele Kinder er von anderen Frauen hatte, vermochte niemand zu sagen.
Sie fragte sich, ob Loas Freund solch ein Mann war, doch stellte sie fest, dass sie dies nur herausfinden würde, in dem sie ihn kennen lernte.
„Mich nennt man Gejas und ich verrichte meinen Dienst in der Bibliothek“, erklärte er, nachdem er aufgestanden war, und neigte den Kopf in der Andeutung einer Begrüßung, während er zugleich die Hand an die Stirn führte. Er schien, Shiot etwas überheblich zu sein und über Kleidergeschmack ließ sich streiten, doch war er bereit gewesen, sich mit ihnen schon treffen, was als positiv zu erachten war.
„Shiot“, erwiderte sie und entgegnete die Begrüßungsgeste.
„Meine Damen“, er breitete die Arme aus, „Wie kann ich euch behilflich sein?“
Seine Worte ähnelten die des Priesters in der Bibliothek, doch sprach er sie mit einem Lächeln aus und schien sich ernsthaft für sie zu interessierten.
Loa war es, die ihr Erlebnis schilderte. Währenddessen beobachtete Shiot den jungen Priester ganz genau. Sie mochte nicht immer wissen, wie genau sie ihre Emotionen zum Ausdruck bringen sollte, doch besaß sie eine ausgefeilte Beobachtungsgabe. Gejas lauschte aufmerksam und als sie zu dem überheblichen Priester und seiner Antwort kam, verzog er zornig das Gedicht.
Als sie fertig war, schwieg er für einen Moment, dann begann er auf und ab zu gehen.
Schließlich hob er den Finger, wandte sich ihnen zu und erklärte: „Wir kennen dieses Problem“ Shiot fragte sich, wen das ‚wir’ alles mit einschloss. Für einen Moment stockte er, trat an die Höhlenöffnung und blickte hinunter in die Weite des Gesegneten Landes. „Es ist eine klare Wissensreglementierung. Die Bücher sind im Verzeichnis der Bibliothek vorhanden, doch werden sie von ein oder zwei Personen immer und immer wieder ausgeliehen, so dass der gewöhnliche Nutzer keinen Zugriff auf sie hat. So kann die Bibliothek weiterhin behaupten, Zugriff auf dieses Wissen zu ermöglichen, auch wenn die Realität ganz anders aussieht.“
„Und was ist mit den Werken aus dem Präsenzbestand?“, fragte Loa.
„Diese Werke können nicht ausgeliehen werden, weshalb wir, also diejenigen, die freien Zugang zu Wissen fordern, die Bücher auf einmal in ganz anderen Räumen oder im Lagerbestand auffinden. Häufig dauert es Lichttage, bis wir ein vermisstes Werk aus dem Präsenzbestand wieder richtig einsortiert haben. Und mit nur ein wenig Hilfe von den Bibliotheksdienern lässt sich dieses Prinzip ganz einfach umsetzen und hat Folgen für Hunderte von Priestern.“
„Und was kann man dagegen tun?“, fragte ihre Freundin, während Shiot schwieg.
„Zum Beispiel Listen anfertigen, wer welches Buch ausleiht und verbieten, dass eine Person es in einem bestimmten Zeitraum zu oft ausleiht. Das würde es zumindest schwieriger machen, die Bücher aus dem Weg zu schaffen. Doch was wir letztendlich brauchen, ist ein Umdenken in der Tempelpolitik, in der Gesellschaft.“
„Aber es gibt doch bereits eine Sicherung, durch das Wort, das man zu Beginn aussprechen muss und das so die wahre Absichten eines jeden enthüllt, der durch die Türen der Bibliothek geht! Warum so…“
Die Hände zu Fäusten geballt, unterbrach Gejas sie: „Weil wir – also die gewöhnlichen Priester – keinen Zugriff darauf haben. Ich weiß nicht, wie dieser Mechanismus funktioniert oder wer ihn kontrolliert. Wer überhaupt Einfluss darauf hat und das gefällt mir nicht“
Vielleicht weil du gerne die Kontrolle behältst und sie nicht gerne mit anderen teilst?, dachte Shiot, schwieg aber dazu.
„Aber warum sollte ein Buch über Namensuffixe eine Gefahr bedeuten?“, fragte Loa verwirrt.
Es war das erste Mal, das Shiot sich in das Gespräch einmischen, aber wenn sie etwas verstanden hatte, dann das: „Weil Namen in unserer Kultur eine große Bedeutung tragen, sie verraten unser Geschlecht, unseren Stand und unseren Rang, unsere Identität, wenn du es so willst. Bei den Tiakarn beispielsweise ist das nicht so. Namen sind bei ihnen erst einmal zusammengesetzte Silben, die keine besondere Bedeutung tragen. Im Laufe der Zeit entstehen nur bestimmte Assoziationen. Wer denkt bei dem Namen ‚Diric’ denn nicht an den Rebellenführer? Väter, die an diese Tradition anknüpfen wollen, geben diesen Namen an ihre Söhne. Doch sagt der Name ‚Diric’ nichts darüber aus, ob der Junge der Sohn eines Sprechers oder eines normalen Jägers ist, ob er unehelich oder ehelich geboren ist. In unserer Kultur ist das so. Wenn jemand seinen Namen genannt hat, ist von vorne herein festgelegt, welchen Stand er hat und welche Rolle er in dem Gespräch einnehmen wird. Man könnte sagen, dass es die Macht der Worte ist, die spiegelt, wer wir sind. Und wer das Wissen kontrolliert, kontrolliert zugleich das Maß, in dem wir uns ins unserer Identität weiterentwickeln können.“
„Richtig“, erwiderte Gejas und musterte sie überrascht, als würde er sie erst jetzt wirklich wahrnehmen.
„Was ist?“, fragte sie, als er sie weiterhin anstarrte.
„Oh“, murmelte er, „Ich stelle nur fest, dass du tatsächlich etwas weißt und dich nicht nur durch die Betten der Prüfer gevögelt hast, wie man es sich erzählt“
„W-Was?“ Zunächst verblüfft, doch dann zog sicher der Zorn über ihr Gesicht. Hatte sie all die Jahre der Arbeit und die vielen Sonderanträge umsonst investiert und ausgefüllt, um die Prüfung vier Schattentage vor der gewöhnlichen Zeit zu absolvieren, nur damit sie jetzt verspottet wurde?
Sie stemmte die Hände in die Hüften und stapfte auf ihn zu. „Wie kannst du es wagen! Du ignoranter, du…du…das ist unschicklich und mit der Würde eines Priesters absolut unvereinbar!“
„Ist ja gut.“ Er hob abwehrend die Hände und wich grinsend zurück. „Ich wollte doch nur einmal sehen, wie ernst es dir ist.“
Das verriet ihr zwar nicht, ob diese Gerüchte der Wahrheit oder nur seinen aufgeblasenen Gedanken entstammten, doch wusste sie, dass sie Gejas nicht mochte und ihm am Liebsten sein aufgeblasenes Grinsen aus dem Gesicht schneiden würde.
Sie schien irgendeinen komischen Gesichtsausdruck aufgelegt haben, denn der junge Priester kicherte fröhlich.
„Jetzt beruhig dich doch mal ein wenig. Du hast die Prüfung mit sechsundzwanzig Schattentagen abgelegt, nicht wahr?“ Als sie nickte, fuhr er fort: „Man, darüber scheint dir jeder Sinn für Humor vergangen zu sein“
Shiot schnaubte. „Anasah ist mit vierundzwanzig Hohepriesterin geworden und E…“
„Und hat je jemand behauptet, dass Anasah einen Sinn für Humor besitzt?“, unterbrach er sie. Kopfschüttelnd musterte er sie erneut, während er einen Schritt zurück machte, um sich an die Felswand zu lehnen. „Du erinnerst mich an ihren Sohn, der hockt auch fast nur die ganze Zeit hinter Büchern und soziale Kompetenz ist für den ein Fremdwort. Entschuldige. Wahrscheinlich bist du in dieser Hinsicht doch um einiges fähiger, zumindest…“
„Wer?“, fragte Shiot, die beschlossen hatte, dass sie, obwohl sie den hochmütigen, jungen Priester nicht leiden konnte, diese Situation immer noch für ihre Zwecke gebrauchen würde.
„Anasahs Sohn Tjura. Er ist ein paar Stufen unter mir, aber noch ein Suchender und einige Schattentage jünger als du.“
Sie hatte bisher noch nicht gewusst, dass einer von Anasahs Kindern im Viandav-Tempel diente und war sich sicher, dem Suchenden noch nicht begegnet zu sein.
„So“ Pfeifend stieß Gejas sich von der Felswand ab und hob die Hand zur Stirn, um sich zu verabschieden. „Fioras erwartet mich, denn wenn ich dieses Mal zu spät komme…“ Ohne den Satz zu Ende auszusprechen, verneigte er sich vor den beiden Frauen und ging rückwärts weiter, als wären sie zwei Fürstinnen, denen er seine Ehrerbietung darbrachte. Das vermochte er, ohne zu stolpern oder sich irgendeine Art von Unsicherheit anmerken zu lassen. Immer noch pfeifend sprang er die Steine hinauf, ein letztes Grinsen, dann war er verschwunden.
„Was für ein Angeber“, seufzte Shiot und ließ sich auf einem glatten Stein nahe der Abbruchkante nieder. „Aber ein nützlicher, das muss man ihm lassen“, fügte sie hinzu.
Plötzlich bemerkte sie, dass Loa sie mit einem Lächeln auf dem Gesicht beobachtete.
„Was ist?“, fragte sie.
Ihre Freundin hob die Hand und strich sich eine ihrer dunkelblonden Haarsträhnen aus dem Gesicht, während sie die jüngere Frau weiterhin musterte.
„Dir ist bewusst, dass er dich mit seinen Sprüchen nur aus der Reserve locken wollte?“, erklärte sie. „Und das ist ihm auch gelungen.“
Als Shiot sie anstarrte und die Stirn runzelte, fügte sie lächelnd hinzu: „Aber keine Sorge, mir ist es nicht anders ergangen“
„Verdammter Spieler!“, knurrte Shiot und blickte ihre Freundin an.
Als ihr auffiel, was sie eben gesagt hatte, musste sie zunächst grinsen, doch dann füllten sie beide die Höhle mit ihrem Gelächter und mit Leben.