Freitag, 10. Mai 2019
Etwas nervös hockte ich auf einem Ast eines Baumes, welcher nicht weit vor dem Fenster meines Zimmers im Biotopenreservat stand. Es war früh, für meine Verhältnisse sogar sehr früh. Die Sonne war noch nicht am Horizont zu sehen, es war nicht wirklich dunkel, aber dafür recht frisch und die Landschaft glitzerte vor nassem Tau. Mit angewinkelten Beinen hatte ich mich oben in der Krone des Baums niedergelassen und starrte in die Ferne.
Heute war es so weit - die Überfahrt zur Neuen Welt stand an. Bei dem Gedanken murrte ich kurz und senkte mein Kinn auf meine beiden Knie. Ich hatte die Neue Welt bereits ab und an erkundet und die Rundreise mit der Lorely sehr gerne gehabt, aber nun, wo der Tag tatsächlich da war, wurde mir ungewohnt mulmig in der Magengegend. Mein größter Trost lag darin, dass Origins mitkommen würde, der ganze Kontinent wurde verschoben und dem Größeren beigefügt werden. So musste ich mich immerhin von nichts verabschieden ...
Ich gähnte laut. Ob Felix und die anderen vielleicht bereits wach waren?
Ich lehnte mich leicht zur Seite, um an einigen Blättern vorbei und durch eine Lücke schauen zu können. Bei einem kleinen Felsen bildete sich schon ein winziger Schatten und ganz langsam zeigte sich der erste grelle Schimmer der Morgensonne.
Erneut musste ich gähnen und streckte mich ausgiebig, wobei ich kurz schwankte und auch abrutschte. Der Baum raschelte und wackelte, ein paar grüne Blätter segelten sachte zu Boden. Murrend hing ich etwas verzwickt zwischen kleineren Ästen, welche meinen Ministurz abgefangen hatten. Zu missmutig vor Müdigkeit, um mich für meine eigene Unachtsamkeit auszuschimpfen und zu belehren, kraxelte ich aus den Ästen und landete mit einem Sprung wieder im Zimmer.
Ich ließ das Fenster einfach offen stehen und schaute mich kurz im Raum um. Es hatte sich wirklich noch nicht allzu viel angesammelt. Mein Blick fiel auf ein paar Notizen auf meinem Tisch an der Wand. Es waren angefangene Tagebucheinträge zur Winterinvasion, welche ich immer wieder beiseite geschoben hatte, weil mir ein Gedicht einfiel oder ein anderer Gedanke. Ich trat an den Tisch und unentschlossen schob ich die Zettel hin und her und musterte sie, dann packte ich sie zu einem ordentlichen Stapel zusammen und verfrachtete sie in die Schublade - die Einträge mussten eben noch etwas mehr warten und da es bei der Überfahrt holprig werden konnte, hatte ich lieber alles im Zimmer sicher verstaut, abgehangen oder in Stofffetzen verpackt.
Mit einem zufriedenen Schnauben schlenderte ich schließlich aus meinem Zimmer, den Flur entlang und die Treppe runter. Zuerst machte ich einen Abstecher in die Küche und spähte vorsichtig hinein. Alles lag still, es sah genauso aufgeräumt aus, wie ich die Küche am Abend zurückgelassen hatte, nicht mal Tee schien aufgekocht worden zu sein. War ich doch als einzige Person so früh dran? Als Nächstes schlich ich in die Bibliothek, wo ich erwartete Felix mit Kopf auf dem Tisch anzutreffen, aber er war auch nicht da. Ich runzelte die Stirn leicht, dann huschte ich leise zu Marvs Kammer mit Lyssa, wo auch Emma sich ab und an hin verkrümelte.
Langsam und möglichst leise öffnete ich die Tür und atmete erleichtert auf. Marvin der Graue lag zusammengerollt in seinem Körbchen und schien noch im Traumcafé unterwegs zu sein. Lyssa schnarchte in ihrer Hängematte über dem Wolf und ich wartete nur so darauf, dass sie noch aus der Matte kullerte. Nur Emma konnte ich nicht ausmachen, aber wundern tat es mich dann doch nicht. Sie hatte neulich sich etwas Urlaub nehmen wollen, daher war sie nur recht selten anzutreffen.
Leise schloss ich die Tür wieder und ging zurück in die Küche. Ich begann den Tag mit etwas Tee und einem Apfel, dann packte ich mir entspannt meinen schwarzen Rucksack und grübelte über den heutigen Tag. Ob die Überfahrt reibungslos ablaufen würde... ?
* * *
In fünfundzwanzig Minuten ging es los.
»Update imminent« und ein wahnsinniges Smiley prangerten an einem Schild über dem Eingang der Taverne. Es herrschte aufgeregtes Chaos. Viele User schnappten sich einen Drink und riefen laut durcheinander, wobei es glatt so wild und verwirrend zu ging, dass ich beherzt zu den Augentropfen griff.
Etwas mulmig ruhte mein Blick beim Flur zu den anderen Räumen. Sobald wir auf der Bellestern waren, würde ich keine Chance mehr haben in den Spieleraum zu gehen, im English Pub an der Theke zu hocken und mit Drinks zu experimentieren oder im alten Philosophiegarten so manch spannende Debatte zu verfolgen. Stattdessen würde ich nur einen richtigen Ort haben - an Deck der Bellestern.
Ich freute mich, das Schiff wiederzusehen. Bereits bei einer Überfahrt zur Neuen Welt, um dort probeweise alles zu erkunden und unseren Admins zu helfen, hatte ich die Bellestern recht gerne gewonnen. Es war ein großes, hübsches Schiff aus Holz, dessen starke Segel jeder noch so heftigen und mächtigen Windböe auf hoher See standhalten konnten. Nicht zuletzt empfand ich ein kleines bisschen stolz, da ich, so rasant wie ich bei der heruntergelassenen Planke, als Erstes neben Takaro meinen Weg bei der ersten Überfahrt aufs Schiff fand, das Glück hatte, dem Schiff seinen Namen geben zu können.
»Hat jemand eine Idee für einen Namen?«
» ... Wie wäre es mit Bellestern?«, hatte ich nach kurzem Überlegen entgegnet und mit meinen Gedanken bei der Systema von Felix gehangen. Ohne weitere Umschweife taufte daraufhin Takaro das Schiff auf den Namen »Bellestern«, ich war doch ehrlich überrascht, dass es so schnell ging. Schließlich war es so weit.
Der Countdown endete, alle waren an Bord und hinter uns begann rumpelnd das Weltengetriebe unsere Heimat Belletristica, genauer gesagt »Origins«, zu seinem Platz in der Neuen Welt zu verschieben. Mindestens zwanzig Stunden Fahrt sollten nun vor uns stehen. Eine lange Zeit, doch kaum einer schien sich daran aufzuhalten und nun herrschte nicht in der Taverne, sondern an Deck der Bellestern, das allbekannte Chaos.
Ganz ehrlich. Es geschah so viel und es machte so unheimlich viel Spaß, dass ich dabei nur wenig an mein Tagebuch dachte und lieber die Zeit genoss, als mir alles für spätere Einträge zu merken. Was ich noch weiß...
Irgendwann schwebte die Loreley neben uns und die Feenmusen waren an Bord des Schiffes unserer vergangenen Rundreise. Belle schien wild und begeistert vom Piratenflair, Takaro war ebenfalls aufgedreht, Maldeca entspannte lieber und auch Penny war recht ruhig, Juno schaute leicht besorgt zur aufgedrehten Belle und Lizzy hockte natürlich in Origins beim Weltengetriebe und funkte ab und an zu uns hoch. Khaeli, so vermutete ich, war sicherlich irgendwo bei den Lurkern und sah zu, dass alles sicher war und keine Bedrohung uns stören würde.
Irgendwie artete der Besuch der Feenmusen dann zu einer Seeschlacht aus. Marv, Bella, Felix, die Grafen, Kerr, Grendelin und auch der Sumpfmann riefen wild durcheinander. Immerhin schien das Getümmel den seekranken Sir Phobos von den Wellen abzulenken. Schließlich schien Juno zu überrumpelt von der wilden Belle, welche sich den Purpurflügel wohl schnappen wollte. Kurzerhand bot ich Juno eine Tasche meiner Robe an, in die sie sich auch versteckte. Mit dem Purpurflügel im Gepäck kletterte ich vorsichtig an einem Mast hoch und balancierte über Seile der Bellestern. Es machte Spaß. Wie oft kam es schon, dass wir mit den Feen toben konnten? Die Vorbereitungen hatten sie eingenommen und gut beschäftigt. Doch nun war es wieder ein wildes Beisammen, glatt als wäre man auf Klassenfahrt – und es fühlt sich wunderbar belebend an. Ich wollte es nie wieder missen wollen.