Auf eine besonders kalte Novembernacht, folgte ein nicht minder kalter Morgen. Selbst das Innere der Biotopenhütte vermittelte eine schleichende Kälte. Der Kamin war bereits vor Stunden erloschen. Die Vorhänge waren halb geschlossen und man konnte bis weit in die Ferne des Biotopengartens sehen.
Luan lag, tief in einer Decke eingegraben und den Kopf sanft auf einem Kissen gebettet, im Wohnzimmer. Langsam regten sich die Lider des Schülerwesens, ein herzhaftes Gähnen ging von ihm aus. Die Augen noch glasig, vom langen und erholsamen Schlaf. Ganz benommen, begann Lu mit offenen Augen zu träumen. Die Mondkatzen hatten sich in ihr Körbchen, dicht aneinander gekuschelt und schliefen ebenfalls. Luan ließ den gestrigen Tag Revue passieren, so viel war geschehen. So viel würde noch geschehen. Erst jetzt fiel Lu auf, dass jemand dem Schülerwesen eine flauschige Decke umgewickelt hatte und ein Kissen unter den Kopf geschoben hatte. Dankbar über die Wärme wollte Luan weiterträumen, als plötzlich ein lauter Rums vom Bücherregal zu hören war. Luan sprang sofort auf, um zu sehen was passiert war, gefolgt von den beiden Mondkatzen.
Das Geräusch kam von dem großen und dicken Buch, welches Luan am Vorabend bereits aus einiger Entfernung ausgemacht hatte. Der braune und feine Einband, welcher mit goldenen Runen verziert war, ließ das dicke Buch sehr edel wirken. Lu drehte das schwere Buch auf seine Vorderseite, damit es den Einband lesen konnte. In goldenen Lettern stand in verschnörkelter Schrift: „Systema Natura Belletristica – von Felix Hartmann“, Lu erkannte, welch wertvolles Stück der Literatur vor seinen Füßen lag. Das war tatsächlich die Systema Natura Belletristica! Keine Kopie, sondern das Original. Am liebsten hätte Luan sofort darin gelesen und seine Systema mit der von Felix verglichen, doch in diesem Moment schienen Schritte von der Treppe des Obergeschosses zu kommen. Lu spitzte die Ohren, es konnte nur Felix sein. In diesem Moment bemerkte das Schülerwesen, dass es so aussah, als hätte es die Systema Natura Belletristica, fast schon Felix Kind, wie ein Barbar auf den Boden geworfen. Rasch griff das Schülerwesen nach dem schweren Buch, um es an seinen ursprünglichen Ort zu legen. Kaum war das braune Ungetüm wieder an Ort und Stelle, schien Leben in dieses Buch zu kehren. Es schlug sich auf und fing an Lu anzufauchen, völlig perplex äußerte Luan einen Ruf des Erstaunens.
„Ah Lu, wie ich sehe, bist du schon aufgestanden.“, begrüßte der Meister-Bellologe. „Darf ich dich mit einem Lebendigen Buch und meinem persönlichen Topas-Begleiter bekannt machen: Systema Natura Belletristica. Oder kurz Systema.“
Lebendiges Buch? Topas-Begleiter? Das ging Lu gerade alles entschieden zu schnell. Eben erst war das Schülerwesen aufgewacht und schon sollte es verstehen, was die Welt im Innersten zusammenhält. Felix erkannte die Fragezeichensammlung welche über Luans Kopf tagte.
„Das Lebendige Buch (Liber belle) ist eine Spezies aus der Familie der Buchgeister (Liberidae). Ein Autor kann eines oder mehrerer dieses Buchwesens in seinem Bücherregal halten. Die Systema Natura Belletristica ist ein Typus-Exemplar, also das Beispiel-Individuum, für ein lebendiges Buch.“ , zitierte Felix den Glossar, welchen er bisher noch nicht für diese Art geschrieben hatte. „Ich nehme an Systema ist gerade unvermittelt aus dem Bücherregal gefallen?“
Luan nickte, während Felix sich an das Bücherregal stellte und den Rücken des Buches behutsam streichelte. „Ich schreibe am Nachmittag an dir weiter. Versprochen.“, sich wieder an Luan wendend, äußerte der Meister-Bellologe: „Ich hoffe, das Buch hat dich nicht geweckt. Systema fällt, wenn ich länger nicht mehr an diesem Werk geschrieben habe, gerne mal aus dem Bücherregal. Setzt man es wieder dorthin, ohne weiter daran zu schreiben, wird dieses Buch sehr ungehalten und faucht laut auf.“
Luan verstand allmählich, was passiert war, Systema musste gespürt haben, dass der Meister-Bellologe aus seinem flauschigen Traumland erwacht war und sah die Gelegenheit ihn auf sich aufmerksam zu machen. Doch was hatte es mit dem mystischen Topas-Begleiter auf sich? Luan hatte bisher nur ihr Fläschchen mit Calcy und den Rubinsplittern. Felix sprach von einem Topas, war die Entstehungsgeschichte etwa gleich? Fragen über Fragen schlugen wie Wellen tosender See in Luans Gedankenwelt ein. Doch als das Schülerwesen seinen Strom aus Fragen dem Meister-Bellologen entgegenbringen wollte, erdreiste sich der Bauch des Schülers laut aufzuheulen und nach Nahrung zu verlangen. Felix grinste nur und versicherte er würde sofort Frühstück machen. Luan seufzte, als der Flauschige die Bibliothek verlassen hatte. Essen war im Herbst zwar die Passion des Schülerwesens, aber es wollte doch auch noch so viel lernen.
Da sprach eine weibliche, belustigte Stimme zu Luan: „Nicht so ungeduldig, Luuu. Eine Lehre dauert ihre Zeit.“ Das Schülerwesen wirbelte aus seinen Gedanken. War da wer? Die Mondkatzen hatten sich in ihr Körbchen zurückgezogen und dösten noch ein wenig. Die Systema schien ebenfalls zu schlafen und Calcy konnte doch auch nicht mit einer Stimme sprechen? Oder doch? Sonst war niemand im Raum. Die Gardinen bewegten sich leicht und die Tür war zu einem Spalt geöffnet. Doch weder an den Fenstern oder an der Tür stand jemand. All diese Eindrücke ereilten Lu innerhalb von Bruchteilen von Sekunden. Was war das? Einbildung? Traum?
Plötzlich fiel ein Stapel Manuskripte auf den Schreibtisch des Meister-Bellologen und die weibliche Stimme ertönte auf ein Neues: „Bis später Luuu.“ Keine Einbildung! Kein Traum! Doch was dann? Lu war noch immer perplex, was war gerade geschehen? Vorsichtig näherte sich das Schülerwesen dem Stapel Manuskripte. Die vergilbten Schriften sahen teilweise sehr alt aus, manche besaßen Bilder andere bestanden aus Runen. Hier und da blitzte ein schneeweißer Bogen bedruckter Blätter aus dem Stapel, als sei er gerade eben erst aus der Druckpresse gekommen. Hochkonzentriert ließ Lu die Augen über die Papiere schnellen, es handelte sich scheinbar um Arten, welche der Meister-Bellologe noch nicht beschrieben hatte. Zumindest erblickte Lu den Scherzkeks und Kommodenwarane. Ersterer war Luan aus dem Taxonomie-Kapitel der Systema bekannt, doch was sollten Kommodenwarane sein. Lu’s Hand streckte sich zum Stapel, aus und wollte sehen was in den älteren Schriften stand. Da kam der Meister-Bellologe in die Bibliothek mit zwei übervollen Näpfen für die Mondkatzen, die sofort aus ihrem Halbschlaf erwachten und um die Beine des Flauschigen strichen. „Lu, bitte den Stapel nicht, der ist schon sortiert und teilweise verfallen die Seiten. Ich würde dich bitten den Büchern hinter dir mehr Aufmerksamkeit zu widmen. Zumindest bis das Frühstück fertig ist.“, sogleich verschwand der Meister-Bellologe wieder aus der Bibliothek, während Katja und Morle ungläubig in ihre fast leeren Schälchen schielten. Erneute seufzte das Schülerwesen, es hätte zu gern die Seiten eifrig gelesen, wie ein Nööpf spitzte es die Lippen zu einer Schmollippe und drehte sich herum zum Bücherregal. Nach kurzem schmollen, steigerte sich in Luan wieder die Konzentration. Stimmt! Das Bücherregal hatte das Schülerwesen, noch nicht genauestens analysiert. Rasch flogen die Augen über die verschieden bunten Einbände. Praktischerweise hatte der Bellologe auf die meisten der Bücher einen Aufkleber geklebt, zwar waren die Angaben verschlüsselt, doch Lu konnte sehen, welche Bücher zusammengehören und so Schlüsse ziehen. Eine Angewohnheit, die der Flauschige aus der Zeit, in der großen Bibliothek zwischen Nebel und Habichten, angeeignet hatte. Da Lu nicht sonderlich viel mit den Aufklebern anfangen konnte, fokussierte sich das Schülerwesen auf die Einbände. Manche der Werke hatte Luan schon selbst gelesen, wie das Elsternest. Andere Werke wie Aureniens Tale standen noch auf der Liste. Es waren viele Bücher dabei, die Leute geschrieben hatte, welche Luan schon persönlich kennengelernt hatte. Sogar sehr viele Bücher von Personen die Luan in der Taverne kennen gelernt hatte. Eigentlich war jeder, den Lu in der Taverne kannte, mit seinen Werken in einer Reihe stehend mit Doyle, Christie, Le Blance, Rowling, Tolkien und Aoyama. Als Luan weiter eifrig Buchrücken lass, stolperte kurz der Blick des Schülerwesens. Neben all diesen Größen standen auch die Werke des Schülerwesens, fein säuberlich und mit Aufkleber versehen, aufgereiht im Regal. Neben Belletristica – Der zweite Kontinent. War noch etwas Raum gelassen. Erwartete der Meister-Bellologe bald neues von seinem Schülerwesen zu lesen? Als Luan sein eigenes Werk aus dem Bücherregal greifen wollte. Erschien Felix erneut in der Tür und rief ein Frühstück ist fertig in die Bibliothek. Alle Fragen wurden von der Prioritätsliste gestrichen und auf später verbucht. Andere ganz vergessen.
Luan und Felix hatten sich mit dem Frühstück und vor allem ihren Mägen einen Gefallen getan. Doch war ihr Tee noch nicht ausgetrunken und der Flauschige wollte mit Luan noch das Gespräch vom vorherigen Abend fortführen. Erst jetzt fiel Luan auf, dass die Hände des Flauschigen praktisch keine Blessuren mehr hatten. Wie konnten die Wunden des gestrigen Tages so schnell verschwunden sein?
„Eine Kräutersalbe, sehr wirksam.“, entgegnete Felix sich langsam in seinen Sessel setzend. Lu welches gerade auf dem Sofa Platz genommen hatte, erwiderte: „Ach und was ist da drin?“ Ehe es bemerkte, das der Flauschige wohl die Gedanken des Schülerwesens gelesen hatte. „Mit Nichten kann ich das, Luan. Aber es würde wohl an Dummheit grenzen, wenn ich deine Blicke nicht deuten könnte.“
„Deuten?“, Luan stand diesen Morgen wirklich noch auf dem Schlauch, es war Herbst und noch viel zu früh. Das Fresskoma vom Frühstück würde sich auch bald einstellen. Es ging gerade alles viel zu schnell, für den sonst so wachen Geist.
„Naja, wenn wir uns gerade hinsetzen, ich dich mit einer Hand auf das Sofa verweise und du wie angewurzelt meine Hände anstarrst. Ist eins und eins ja wohl leicht zusammen zuzählen. In der Tat hätte ich noch deutlich länger, deutlich schlimmere Wunden haben müssen. Aber ich hatte noch etwas von der Salbe übrig, dass mir einst die Waldhexe Shari gegeben hatte. Das Zeug wirkt wahre Wunder, aber viel habe ich nicht mehr davon. Vielleicht müsste man die Waldhexe wieder besuchen, wie ich hörte, hat sie einen der alten Wachtürme aufgesucht. Ich hoffe, sie wird ihre Erfahrungen verschriftlichen, ach mit Sicherheit wird sie das.“, drohte Felix abzuschweifen und griff sich an die Nasenwurzel um reibend wieder die Erinnerungen, was er mit Luan besprechen wollte, hervorzuholen. Während Luan überlegte, wie weit es wohl von der Biotopenhütte bis hin zum Wachturm der Waldhexe wäre. Wie lang? Irgendetwas regte im Schülerwesen eine nie gestellte Frage zum Erwachen. Etwas was den Schülerkopf schon am Vorabend störte. Plötzlich durchzog es wie ein Blitz die Gedanken Luans. Wie konnten sie beide so schnell vom Schlachtfeld bis hin zur Biotopenhütte gelangen? Graf Phobos meinte doch, es würde einen oder zwei Tage länger dauern und doch saß Luan schon seit dem gestrigen Abend auf diese Couch? Nein, das ging nicht, der Graf würde, so akribisch wie er war, sich nicht irren. Hatte Luan sich verzählt, aber nein das Schülerwesen hatte doch angefangen seine Erlebnisse in ein Tagebuch zu schreiben. Es hätte viel später, Tage später im Biotopenreservat ankommen müssen und Felix selbst hätte niemals dort seien können, wo die Winterdämonen auftauchten. Von der Biotopenhütte, war es bis dorthin mindestens anderthalb Tagesmärsche! Doch der Flauschige war in nur wenigen Stunden dort gewesen. War er etwa in der Lage wie ein Spamer zu telepotieren, oder…?
„Ok jetzt wird’s albern Lu!“, lachte der Flauschige sich seinen Bauch haltend. „Nein ich bin kein Spamer und meinen Portbelt hatte ich, wie du weißt, auch nicht mit. Weil ich doch sehr überstürzt in den Nebel bin. Doch wie habe ich es gemacht?“, fragte der Flauschige mit schelmischen Blick, die Antwortlosigkeit in die Länge ziehend. Das Luan hasste es, wenn es ein Rätsel nicht schnell lösen konnte. Normalerweise gelang es dem Schülerwesen relativ schnell, doch diesen Tag wollte es einfach nicht gelingen. Angestrengte Falten zogen sich auf der Stirn des Schülerwesens.
„Ich würde sagen ich hab einfach den B-Knopf gedrückt.“, sagte der Flauschige mit schelmischen Ausdruck auf den Lippen, als er auf seine Füße tippte.
„Du hast Turbotreter?“, fragte Luan in einer Mischung aus Entgeisterung und Begeisterung. Um nur augenblicklich in die nüchterne Erkenntnis zu driften: „Aber die funktionieren bei mir doch gar nicht.“
„Ja so einfach ist das auch wieder nicht und doch so ziemlich. Ich benutze zum Wandern verzauberte Schuhe, die ich mit Feenstaub, Flinkgras und einigen weiteren Aspekten präpariert habe. Allerdings ist das ganze Dämonenblut dran gekommen und sie funktionieren seitdem nicht mehr richtig. Ich werde mir wohl neue machen müssen.“, dabei zog Felix ein kleines rotes Büchlein aus der Brusttasche und überreichte es Luan mit dem Vermerk es sei die einzige Kopie, doch von Anfang an für das Schülerwesen bestimmt. Luan blickte auf den roten Einband, dessen Titel in Goldlettern ‚Herbarium eines Bellologen‘ auf dem eher schmalen Büchlein besonders edel wirkte.
„Aber, wenn die Schuhe nicht mehr funktionierten, wie sind wir dann so flink vorangekommen?“
„Ich hatte Khaeli darum gebeten, mittels eines Feenzaubers uns etwas schneller voran zu treiben. Ist dir wohl entgangen.“, stellte Felix belustigt fest.
„Das kann sein.“, wunderte sich Luan, welches dachte, dass es, nachdem Kampf und dem aufkeimenden Blutrausch doch bei Sinnen gewesen sei, „Und wieso dachtest du…?“
„Ich dachte, dass du bereits in den Grundzügen der Magie unterwiesen worden bist. So energisch wie du unbedingt zu mir wandern wolltest, aber dann war das wohl mein Trugschluss und so kam ich nach Berechnung auf Gestern Abend. Doch es ist gut - das alles so und nicht anders passiert ist, denke ich.“, schloss der Flauschige den ersten Ausflug in die Magie ab und setzte fort: „Aber ich habe noch ein Buch für dich. Ähnlich groß, doch mit leeren Seiten und von braunem Einband.“, Felix überreichte Luan auch dieses gebundene Papier. In blaugoldenen Lettern war darauf ‚Notizen von Luan T. Nexi – Schülerwesen‘ geschrieben.
„Das ist dein Notizbuch, es soll dich in deiner Lehre überallhin begleiten. Du siehst etwas Neues, schreib es auf und lass mir die vollgeschriebene Seite zukommen. Es wird der Systema und mir sehr weiterhelfen.“
Mit diesen Worten erhob sich der Flauschige und bedeutete Luan es ihm gleich zu tun. „Auf, auf, der Biotopenpark erwartet uns!“