Luan versuchte zu erkennen, was oder wer mit ihnen sprach, doch es war niemand zu sehen. Das Schülerwesen fokussierte seine Gedanken und es schien ihm, dass die Stimme aus dem Erlenmeyer-Kolben kam. War das möglich? Oder täuschten sich die Ohren des Schülerwesens? Ein seltsamer Schein begann von dem Kolben auszugehen, etwas bewegte sich formlos aus diesem heraus und landete nur zwei Schritte von Luan entfernt. Aus der formlosen Gestalt entstand die Silhouette einer jungen Frau. Durchscheinend und in einem Laborkittel gehüllt. Ihr langes Haar ging bis zur Brust und legte sich sanft auf die Schultern, des Geist ähnlichen Wesens. Als das Wesen seine Transformation beendet hatte, richtete es seine Brille um das Schülerwesen genauer zu betrachten. „Ich bin Bella, Enzyklopädischer Poltergeist und wissenschaftliche Mitarbeiterin des Meisterbellologen. Es freut mich dich endlich kennenzulernen Lu.“ Luan wusste bisher nichts von der Existenz dieses Geistes und war sichtlich überrascht, dass der Geist wohl das Schülerwesen schon kannte. „Ich wollte mich dir heute Morgen schon vorstellen“, erzählte Bella weiter, „Aber ich hatte noch etwas für Felix zu erledigen.“
„Ich nehme an, das ist bereits getan?“, fragte der Meisterbellologe mit ernstem Unterton.
Bella richtete ihre Brille erneut: „Natürlich.“
„Gut.“, sich Luan wieder zu wendend führte Felix aus: „Bella hilft mir seit 2016 bei allen Belangen und beim Schreiben der Systema Natura Belletristica, so gesehen ist sie ein Ghostwriter.“ -Bella verzog das Gesicht über den Wortwitz „Genauso lange lebt Bella auch schon hier, die ersten Jahre blieb sie vor allem hier im Biotopenpark. Erst seit diesem Jahr schwebt sie ab und an in die Taverne. Grund dafür ist…“, weiter konnte Felix nicht sprechen, da Bella mit einem Skalpell bewaffnet ihm das Wort abschnitt.
„Bellologe ich mag diese Geschichte nicht!“, fauchte der Poltergeist und machte seinem Namen alle Ehre, indem Bella alle Geräte im Raum rüttelte und die Kerzenlichter wild flackern ließ. Das Haar des Geistes hatte sich erhoben und die Augen funkelten wild hinter der Brille. Plötzlich ging ein Zittern von dem Geist aus, dass Skalpell fiel zu Boden, das Labor wurde ruhig. Nur ein leises Schniefen ging vom dem Enzyklopädischer Poltergeist aus: „Ich weiß, ich habe es dir versprochen. Erzähl es Luan, schreib es meinetwegen auf, dass es jeder lesen kann. Aber bitte sag es nach heute nie wieder in meiner Nähe.“
„Tut mir leid Bella, ich hielt es für das Beste, wenn du dabei bist.“
Luan schaute fragend erst zum Bellologen, dann zu Bella. „Ich muss es nicht wissen, wenn es Bella quält.“
„Ich wünsche mir aber, dass du davon erfährst. Nur ist es mir unmöglich darüber zu sprechen, deshalb muss es Felix erzählen.“
Der Meisterbellologe seufzte. „Bella, ist eigentlich die Kurzform von Belletristica encyclopedia literature life apparition. Es handelt sich um ein Projekt einer wissenschaftlichen Organisation, welche versuchte einen kreativen Kern zu erschaffen. Diesen könnte man, nach der Theorie, unendlich oft zerteilen und so Kreativität erzeugen. Mit diesem Objekt wären Winterdämonen für immer Geschichte gewesen. Das Projekt hatte Erfolgsaussichten und erschuf einen ersten Kern. Stell ihn dir als eine große Kugel vor, welche in allen Farben schillert. So voll von Energie, dass sie permanent schwebt. Dieser Kern zerbrach nach wenigen Minuten, wie auch die vielen weiteren Kerne, welche auf diesen folgten. Sie blieben einfach nicht stabil, dass Projekt schien hoffnungslos zum Scheitern verdammt. Irgendwann kam einer der leitenden Wissenschaftler auf die Idee, einen der Kerne in ein Lebewesen einzusetzen. Er versuchte es erst mit Pflanzen, was aber nur mäßigen Erfolg brachte. Jedoch blieben die Kerne für mehrere Stunden halt- und nutzbar. Die Versuche wurden weitergeführt und es begannen Experimente mit Geschöpfen. So wurden Kerne in Leseratten und andere Tierwesen eingesetzt. Später folgten auch einige Emoti. Je kreativer die Art war, desto leistungsfähiger und langlebiger war der Kern. Bella arbeitete bei diesem Projekt als Laborassistentin mit, als sie von den Experimenten an den Geschöpfen erfuhr, wendete sie sich an den Ritterorden. Als Bellologe wurde ich entsandt, um in der Sache zu ermitteln. Bei meinem offiziellen Besuch war natürlich alles in Ordnung, keine illegalen Experimente und verständnisvolles Personal. Bella wollte mich daraufhin ansprechen und gab sich so zu erkennen, dass sie es war, die den Ritterorden informiert hatte. Einen Fehler, den sie nicht hätte begehen müssen, denn mein Gespür für Unrecht ist sehr fein und so war es für mich bereits beschlossene Sache am Abend noch einmal, aber weniger auffällig zu erscheinen. Ich hatte während meines Besuchs einen unbeobachteten Moment genutzt, um eine Markierung anzubringen, eine Markierung in Form einer kandierten Frucht. Du wirst dich fragen, warum es genau so eine Markierung seien musste, die für ein Labor doch eher auffällig war. Nun der Grund hierfür ist das meinen Regenbogenmoti Erique damals noch nicht so geübt war Regenbogenbrücken zu bilden. Diese sind aber der einzige Weg durch ein von Schutzzaubern stark versiegeltes Labor. Da Erique aber kandierte Früchte, als Leckerli sieht und zuverlässig zu diesen sich hin teleportiert, war es mir möglich mich in das Herren-WC des Labors zu teleportieren. Von dort aus gelangte ich in den Lüftungsschacht und versuchte mich in der Dunkelheit zu orientieren. Lumus half mir, in einer Glasflasche sitzend, und so konnte ich wenigstens sehen, in welche Richtung ich kroch. Ich folgte meinen Instinkten und fand bald ein Labor, in dem man bereits mit Scherzkeksen experimentiert hatte. Sie alle trugen einen dieser Kreativen Kerne in sich, war der Kern am Ende seines Lebens, zerriss es auch das Lebewesen, in das er eingepflanzt wurde. Ich seilte mich in dem leeren Labor ab und befreite mit Eriques Regenbogenbrücke alle dort vorhanden Geschöpfe. Zu meinem Leidwesen sollten nur die überleben, welche keinen Kern eingesetzt bekommen hatten. In dem Labortrakt, in welchem ich mich befand, war außer mir niemand. Was mich stark wunderte, weshalb ich mich daraufhin wieder in den Lüftungsschacht begab und weiter suchte. Schließlich war mir ein breiter Stab an Laborkräften vorgestellt worden, keiner von ihnen hatte das Labor bis zu meinem erneuten Besuch verlassen. Sie mussten also noch im Gebäude sein. Nach mehreren Minuten des Kriechens durch dunkle Lüftungsschächte gelangte ich über das Hauptlabor. Jenes Hauptlabor, was mir Stunden zuvor als unschuldige Versuchsstätte für freie Kreative Kerne gezeigt wurde, war nun eine Folterkammer in Form eines Labors geworden. Bella war nach meinem Besuch von den Laborkräften überwältigt worden und an einen Labortisch gekettet worden. Sie sah ziemlich mitgenommen aus und schien sich vor Schmerzen zu winden. Fünf der Chefwissenschaftler standen um sie herum und starrten auf Stoppuhren. Ihre Tortur musste zu diesem Zeitpunkt bereits vier Stunden gedauert haben, da einer der Wissenschaftler zur Panoramascheibe rief, dass es nun Vierstunden und fünfzehn Minuten seien, der neue Rekord mit Kern. Sie hatte also auch einen dieser Kerne eingepflanzt bekommen und befand sich nun im Sterben. Ich konnte nicht tatenlos zu sehen und stürzte mit unbändiger Wut in die Szenerie. Rasch setzte ich die Wissenschaftler außer Gefecht und erhaschte einen Blick auf die, hinter Panzerglasscheibe sitzenden, Spießgesellen. Es waren drei, ein Geflügeltes Geschöpf mit Klauen und gelben Augen, eine Hakennase mit silbergrauen, krausen Haar und runzliger Stirn, sowie eine Person, die vollkommen im Dunkeln saß. Sie erkannten mich wohl als den Feenberufenen Ritter, den sie am Mittag in ihren Hallen bereits vorstellig hat und entsandten Salven von zerstörerischer Energie. Es gelang mir diese zu Blocken, doch die Kraft war gewaltig. In diesem Moment ging ein Leuchten von Bella aus. Der Kern war im Begriff zu explodieren. Das Knacken der Kernschalle war laut zu hören, ehe ein gleißendes Licht alles um mich herum erfasste. Ich wurde ohnmächtig und als ich erwachte, war das gesamte Labor in Schutt und Asche gelegt, Rauch stieg in den abendlichen Himmel auf. Dort wo die drei Gestalten saßen, war nichts mehr. Der Ritterorden geht inzwischen davon aus, dass sie bei der Explosion verstorben sind. Bella lag neben mir, regungslos. Sie schien aber noch zu atmen. Ich selbst schien an Verletzungen nicht zugenommen zu haben und rief mein Geflügeltes Wort Pandora herbei. Auf den schwarzen Schwingen der Stute brachte ich Bella in den Biotopenpark. Es wäre schneller gewesen mit der Regenbogenbrücke, doch Bellas Zustand erschien mir für eine Reise mit dieser nicht der Geeignetste. Generell schien es mir, dass ihr Zustand sich immer weiter verschlimmerte. Ich brachte sie in mein Labor und versuchte alles um ihr Leben zu retten. Es vergingen einige Stunden und als ich glaubte sie gerettet zu haben, erwachte Bella aus ihrer Bewusstlosigkeit. Doch vollkommen gerettet war sie nicht. In dem Moment als ihr Bewusstsein erwachte, sie sich aufrichtete, verlor ihr Körper die materiellen Eigenschaften. Als ich ihr die Hand reichen wollte, griff ich ins Leere. Bella ist seit jenem Tag ein Wesen geformt aus einem Kreativen Kern und einer unschuldigen Userseele, die für niedere Beweggründe geopfert wurde. Ihr Zustand veränderte sich nicht mehr und so fristet sie seit jeher ein Leben als Enzyklopädischer Poltergeist. Ich bot ihr an bei mir zu bleiben, was sie glücklicherweise tat.“, beendete Felix seine Erzählung. Jedes Mal, wenn er den Kreativen Kern erwähnte, zuckte Bella zusammen. Zwei Jahre hatte Bella darauf gewartet, dass die Verursacher ihres Zustandes vor Gericht kommen würden. Doch nachdem der Untersuchungsausschuss seine Ermittlungen abgeschlossen hatte, waren die Wissenschaftler wie auch die finsteren Gestalten als Tod erklärt worden. Die Leichen der Wissenschaftler konnten geborgen werden, die der drei Gestalten waren, durch eine Explosion der Unkreativen Geschütze vernichtet worden.
Luan hatte aufmerksam der Geschichte gelauscht und war schockiert von den Ereignissen zu erfahren. Es herrschte für einige Sekunden ein betretendes Schweigen im Labor. Bis Luan sich daran machte, dieses aufzulösen. Das Schülerwesen drückte sein Bedauern und Mitgefühl für den Enzyklopädischen Poltergeist aus. Weiter fragte das Schülerwesen, ob Bella in dem linken Zimmer des Obergeschosses wohnen würde. Es hielt die dortige Tasche, für die Tasche des Poltergeistes. Dieser war aber nicht der Besitzer der Tasche und wohnte bisher im Labor. Felix erläuterte, dass Bella, bisherige Versuche des Meisterbellologen, des Einzugs umzusetzen verweigert hatte. Auch jetzt wusste Bella nicht ganz, was sie antworten sollte. Sie konnte sich nicht vorstellen, dass die beiden als Mitbewohnerin haben wollten. Doch das energische Auftreten des Schülerwesens und seines Lehrmeisters erlaubten keinen Widerspruch. So willigte Bella ein, dass sie fortan in dem linken Zimmer im Obergeschoss wohnen würde. Die Tasche, so versprach der Meisterbellologe, würde er irgendwann seiner Besitzerin wiederzubringen. Er griff, nachdem Erlenmeyer-Kolben, denn darin schlief Bella, da sie durch Glas nicht schweben konnte und so keine Angst haben musste im Schlaf auf- oder abzusteigen. Der Meister-Bellologe verabschiedete sich und machte sich daran das Glasgefäß nach Haus zu bringen. So verblieben Luan und Bella im Labor. Bella berichtete etwas über ihre Arbeit, dass sie hauptsächlich Studien mit dem Meisterbellologen für Arten anfertige oder im Archiv Unterlagen raussuchte und ihm brachte. Wie sie es auch am Morgen getan hatte, als Luan und Bella sich erstmalig hörten. Lu fragte nach einiger Zeit, wie so Bella, nach allem was passiert war, noch immer als Wissenschaftlerin tätig sei. Bella entgegnete, dass die Liebe zur Wissenschaft nicht durch die finsteren Taten untergraben wurde. Außerdem konnte sie dem Meisterbellologen für seine Rettung wenigstens etwas Gutes tun. Mit einem fröhlichen Funkeln in den Augen zeigte Bella, was sie gerade im Labor ausarbeitete. Sie arbeitete gerade am Sir-Amöbozyten-Lysat-Test, der dafür genutzt wurde, um Bakterientoxine zu ermitteln. Nach einiger Zeit verließ auch Luan den Enzyklopädischen Poltergeist, um den freien Nachmittag mit einer Erkundungstour im Biotopenpark zu gestalten.
*
Irgendwo in den Schatten eines Raumes hatte sich eine Runde an einem Tisch versammelt. Kaum Licht drang in die finstere Gruft und es schien, als sei es vom Mond. An dem Tisch aus Schiefer saßen drei Gestalten, welche einer vierten lauschten. Der Bericht der stehenden Gestalt hatte geendet und wurde stumm von den Anwesenden zur Kenntnis genommen. Langsam trottete der Winterdämon aus dem Raum, einen seiner Arme hinter sich herziehend. Das Geflügelte Wesen legte die langen, spitzen Finger aneinander und beleckte seine Zähne. Die rechts von ihm sitzende Hakennase kratzte sich am silbergrauen Bart, während ihn ein Wesen, was ganz im Schatten verweilte, mit durchbohrendem Blick beobachtete. Die Hakennase ergriff das Wort: „Ihr sagtet, er würde schwächer sein. Der Spähtrupp und der Spamer sind Tod. Er aber lebt noch immer.“
„Er ist schwächer geworden“, erwiderte das Flügelwesen und begann sich im Gesicht zu kratzen. „Die Winterdämonen waren nur ein kleiner Test, ich habe nicht erwartet, dass sie überleben werden.“
„Was hast du vor?“, fragte die Hakennase.
„Auf nach Belletristica!“