Am Rande des großen Eissees im Süden Islands sind sie mir zum ersten Mal begegnet: die Eiskälber. Eigentlich hatte ich sie für Sagenwesen gehalten, doch auf der Insel am Rande des Polarkreises ist ja so manches lebendig, was anderenorts nicht als Mitgeschöpf anerkannt wird. Während einer Tour mit einem dieser motorisierten Schlauchboote erzählte mir der Isländer noch von ihnen. Wir hielten sogar an, um einen großen Zapfen aus dem Wasser zu angeln. "Jeden Tag einmal dran lecken, das hält die Liebe jung und beständig", riet er uns. Es handle sich um ein Stück von einem Eiskalb, klärte er uns noch auf. Aber wir sollten uns keine Gedanken machen, weil wir Vegetarier sind. "Die sind zähe Wesen, denen macht es nichts aus, wenn sie mal so ein kleines Stückchen verlieren." Nicht schlimmer als für einen Baum, einen Apfel zu verlieren. Oder für einen Menschen zum Friseur zu gehen. "Die ändern sowieso beständig ihre Form", meinte er noch.
Als wir zurück am Ufer waren, den Eisblock sicher in einer Plastiktüte verstaut, betrachteten wir noch den majestätischen Ausläufer des Oräfajökull. Eine Skua war nicht sehr begeistert von uns und machte das mit einem lauthals angekündigten Sturzflug klar. Ihre Flügelspitze streifte meinen Kopf. Vor Schreck geriet ich ins Taumeln, die Wolkendecke brach auf und ein Sonnenstrahl fiel auf die obere Kante der Gletscherzunge. "Dadada!" Zu mehr blieb mir nicht die Zeit, schon sprang mit gewaltigem Krachen ein mordsmäßig riesiges Stück hinab und landete im See. Erst nun wurde mir klar, dass ich gar nicht wankte, sondern dass es die Bewegung des Eiskalbs war, das ich eben entdeckt hatte. Staunend blieb ich stehen, doch meine Beobachtungen wurden von einem weiteren Ruf der Skua unterbrochen. Energisch forderte sie einen Rückzug. Dabei verlor ich die Eiskälber aus den Augen. Ja, aber wunderschön und lebendig sind sie. Das kann ich mit Sicherheit bestätigen.
Es hat ein hellblaues, silbriges oder weißes Fell, das Eiskalb.
Am liebsten lebt es in kalten Regionen, wo es manchmal alleine umherstreift, gerne aber auch in Gruppen. Mit seinen wunderschönen großen Augen schaut es in die Welt und ist dabei derart verträumt, dass es manchmal nicht merkt, wenn es einem Abgrund zu nahe kommt.
Dort stürzt es dann unvermittelt hinein und versetzt alle, die es mitbekommen, in hellen Aufruhr.
Man sollte nicht zu nahe dabei sein, sonst wird man von den auftretenden Wellen mitgerissen.
Doch keine Sorge: Dem Eiskalb geschieht dabei nichts.
Im Gegenteil, es wacht dann sehr plötzlich aus seiner Träumerei auf und jauchzt laut.
Klingt wie dumpfes Poltern, ist aber Ausdruck reinster kindlicher Freude.
Ist eben ein Eiskalb. Das muss so sein.
Deswegen macht es diese Stürze manchmal auch mit Absicht, springt voller Begeisterung vorwiegend in Seen in Gletschernähe.