Als Nantwin wieder zu sich kam, waren seine Hände gefesselt. Er blieb für einen Moment liegen, blickte sich um, damit er keine Aufmerksamkeit erregte. Jemand hatte ihn auf eine Liege gelegt, die Teil eines Raumschiffes zu sein schien. Neben ihm stand ein Tisch, an der Wand waren Kisten und Säcke gestapelt. Eine offen stehende Tür führte in einen anderen Bereich, doch konnte Nantwin nur einen mit Kabeln geschmückten Teil eines Ganges erkennen.
Doch schienen sowohl Gang als auch Raum verlassen. Soweit so gut. Er wendete den Kopf und versuchte zu erkennen, womit er gefesselt war. Das war ohne Fall ein Fortschritt der technischen Entwicklung: Es gab Fesseln, die man kaum spürte. So auch bei diesen. Unscheinbare weiße Bänder waren um seine Handgelenke geschlungen und scheinbar nur mit einer Schleife gesichert, die besser in das Haar eines kleinen Mädchens gepasst hätte, als an die kräftigen mit Narben und Schwielen übersäten Arme eines Soldaten. Aber Nantwin kannte dieses Zauberwerk, das elektrische Schläge verpassen würde, wenn er versuchen würde, die Schleife zu lösen. Am Ende würden sie bis zur Ohnmacht und schließlich, wenn es so eingestellt worden war, zum Tod.
System 31101517 hörst du mich?, formulierte er leise.
Ja, entgegnete die Computerstimme.
Kannst du das System der Handschellen lesen?, fragte er, während er anfing vorsichtig seinen Körper nach Verletzungen abzutasten.
Ja. Schon immer war er dankbar für die Wortkargheit des Computers gewesen.
Kannst du es überschreiben und die Befehle durch neue ersetzen?
Für einen Moment herrschte schweigen.
Nein, dafür ist das System zu stark.
Er fluchte leise. Ein paar Mal hatte das schon funktioniert. Er überlegte. Schon mehrmals hatte er schwere Stromschläge erlitten und es war wahrlich keine angenehme Erfahrung. Um sicher zu gehen, ließ er das System die eingestellte Stärke überprüfen und wusste sofort, dass das zu viel war. Wenn er die Macht der Energie verteilen könnte…
Kannst du die Energie auf die Wände des Schiffes verteilen, ohne dabei das Steuersystem zu beeinflussen?
Ersteres ja, allerdings besteht die Gefahr, dass das Schiff für einen Moment funktionsuntüchtig wird.
Einen Moment?
Etwa zehn bis zwanzig Sekunden, spezifizierte sein Computer.
Für einen Piloten konnte das eine sehr lange Zeit sein, aber Nantwin wusste, dass er es, wenn er nicht in Gefangenschaft bleiben wollte und so seine Ehre beschmutze, wagen musste. Es war schwer genug gewesen, sich nach seiner ersten Gefangenschaft seinen Platz zurückzuerobern, eine zweite Gefangenschaft würde ihn in den Augen seines Volkes nutzlos wirken lassen. Und das durfte er nicht riskieren. Er hatte Frau und Kinder, die von seinem Sold abhängig waren.
Okay.
Es wird einige Minuten dauern.
Seine erste Gefangenschaft hatte vier Monate gedauert. Was machten da schon ein paar Minuten?
Dass nicht alles geklappt hatte, bemerkte er an der Warnsirene des Schiffes und dem schrillen Piepen des Computersystems, sowie den immer noch festsitzenden Fesseln.
Schnelle Schritte ertönten und eilig richtete Nantwin sich auf. Wenn er einem Gegner entgegnen treten sollte, dann nicht liegend und wehrlos.
Zum ersten Mal sah er wirkliche Wut auf Layiels Gesicht, als dieser hereinstürmte, gefolgt von zwei Kampfrobotern. Allein ihre Anwesenheit zeigte, dass Layiel ihn nicht unterschätzen würde.
„Was soll das?“, fauchte er, „Ich kenne Euren Kampstil seit sieben Jahren und habe genug Geschichten gehört, um zu wissen, dass ich Vorkehrungen treffen muss. Aber anscheinend macht Ihr immer noch den Fehler, meine Fähigkeiten zu unterschätzen.“ Er stockte, dann musterte er ihn scharf. „Ich weiß, wer Euch das gelernt hat und niemand würde diesen Mann unterschätzen.“
„Wollt Ihr mich für die Taten meines Vaters verantwortlich machen?“, fragte Nantwin mit erwachendem Zorn.
„Nein“, entgegnete der Rahosi, „Es war nur eine Feststellung. Ich weiß, dass Ihr bei ihm aufgewachsen seid und er hat Euch vieles gelehrt.“
„Nun, das stimmt sicherlich. Allerdings habe ich meinen Vater seit siebzehn Jahren nicht mehr gesehen und weiß nichts über seine aktuellen Tätigkeiten und Entwicklungen.“
Layiel lachte auf. „Bitte. Selbst ich habe von seinem Angriff auf Cahosi gehört. Und Euer Versuch das System zu umgehen, erinnert nur dezent an den Programmcode mit dem Euer Vater die Befehle der Roboter überschrieben hat, die daraufhin den gesamten königlichen Rat getötet haben, woraufhin Cahosi von den Laskaar eingenommen wurde. Aber lassen wir das sein, reden wir lieber von Euch…“
„Warum habt Ihr mich nicht getötet?“, unterbrach Nantwin den ungewohnt emotionalen Redeschwall. „Ich meine, Ihr hasst meinen Vater und ich habe Euren Bruder getötet.“
Layiel stockte. Schließlich entgegnete er: „Weil mein Volk im Gegensatz zu deinem, den Stolz und die Ehre nicht über alles stellt, sondern gelernt hat, dass es manchmal Zeit ist, die Wunden zu verbinden und zu vergeben.“
„Vergeben? Vergessen?“, höhnte Nantwin, dann grinste er. „Aber als Euer Gefangener sollte ich wohl besser schweigen, nachher müsst Ihr mich noch töten und das wollt Ihr ja anscheinend nicht. Wir würden es also beide bedauern.“
„Ihr beschwert Euch? Was soll ich denn dann sagen? Ihr habt mich getäuscht, mir Freundschaft vorgegaukelt, nur um zu versuchen, mich umzubringen. Ich hätte jeden Grund mich zu beschweren.
„Habt Ihr das?“ Nantwin stand auf und begann im Raum umherzugehen. Layiel brachte keine Einwände vor. „Ich habe ein Wort ausgesprochen, dessen Bedeutung ich nicht kenne, gelächelt und Euch zugehört. Ich brauchte Euch, Ihr brauchtet mich. Es war ein überlebensnotwendiges Bündnis„Die Informationen, die Ihr mir gegeben habt, werden meinem Volk noch dienlich sein“
„Und wenn ihr nicht mehr davon erzählen könnt?“
„Ihr wollt mir drohen?“, fragte er lachend, „Wir beide wissen doch, dass Ihr nicht dazu in der Lage seid.“
„Das ist alles, was Ihr zu sagen habt?“, fragte Layiel und Nantwin konnte den Schmerz in seinen Augen sehen. Das war gut. Es würde ihn unaufmerksamer machen.
Er zog nur eine Augenbraue hoch.
Für einen kurzen Augenblick wandte der Rahosi ihm dem Rücken zu und Nantwin bereitete sich innerlich – für was auch immer vor, als sich dieser wieder umdrehte und mehrere Schritte auf ihn zuging. Seine Körpergröße mochte gering sein, dennoch war allein die geschmeidige, leichte Art, wie er sich bewegte, beeindruckend. Direkt vor ihm blieb er stehen. Seine grüngelben Augen schienen ihn zu durchbohren. Seltsamerweise schämte Nantwin sich seines Verhaltens für einen Moment.
„Wusstet Ihr, dass Euer Name einer alten Erdensprache entstammt und ‚mutiger Freund’ bedeutet?“
Das hatte er nicht gewusst. Namen aus alten Erdensprachen zu verwenden, war zu seiner Geburt in Mode gewesen, doch diese Bedeutung war mehr als nur ironisch.
Er entgegnete Layiels Blick.
„Nun, ich war ja auch ein guter Freund und habe an einer festen Freundschaft gebaut, die traurigerweise durch Euch zerstört worden ist.“ Er war nie ein Mann der großen Worte und Freundschaften gewesen, aber für die wenigen, die ihm kostbar gewesen waren, hatte er gekämpft.
Zu seinem Erstaunen nickte der Rahosi.
„Ihr habt Recht daran, dass ich ihn getötet habe. Ebenso wie Ihr meinen Bruder getötet habt. Ich denke, dass es an der Zeit ist, diesen Kampf zu beendigen und die Waffen niederzulegen.“
„Meine Antwort“, entgegnete Nantwin, „bleibt dieselbe. Ich bin gekommen, um einen Namen zurückzuerobern und so wird es geschehen.“
„In Ordnung.“ Wie konnte dieser Rahosi bloß immer noch lächeln? Es mochte klein sein, aber zugleich unübersehbar.
„Dann werden wir warten.“ Ohne sich weiter um seinen unfreiwilligen Gast zu kümmern, setzte er sich auf die Liege und begann irgendein Lied zu summen.
„Worauf?“
Aber Layiel schwieg nur.
Mit einem Schulternzucken setzte Nantwin sich neben ihn und versank in seinen eigenen Gedanken.
Was für ein seltsamer Vogel.
Den ganzen Flug über sprachen sie nicht ein weiteres Wort. Ab und an verschwand Layiel im Cockpit, vielleicht um Berechnungen oder den Kurs zu überprüfen. Wer das Schiff steuerte, wusste Nantwin nicht, aber vermutlich handelte es sich dabei um einen Roboter oder manuelle Steuerung. Andere Menschen und organische Lebewesen schien es nicht zu geben. Wohin sie flogen, verriet der Rahosi nicht. Dank seinem Computersystem wusste er immerhin, dass sie nach Nordosten flogen – in Richtung eines der rahosischen Territorien, von denen es reichlich viele gab, auch wenn die meisten sehr klein waren.
Schließlich, als sie sich wieder einmal gegenüber saßen und sich anschwiegen, fragte Nantwin: „Warum kämpft Euer Clan eigentlich auf Seiten der Sorastug?“
Layiel richtete sich auf und drehte seinen Oberkörper zu ihm hin.
„Ist das wieder ein Versuch, mich auszuhorchen?“, fragte Layiel mit Bitternis in der Stimme. Sei mir lieber dankbar. Die Welt wird dich nicht freundlicher behandeln.
„Nein, reines Interesse“, erwiderte er wahrheitsgemäß. Seine Kommandanten scherten die Gründe, warum sich jemand mit ihren Feinden verbündet hatte, wenig, solange sie wussten, dass sie verbündet waren. Es wurde als unwichtig angesehen und sich den Kopf im Krieg darüber zu zerbrechen, galt als Zeitverschwendung. Doch hier in diesem Raumschiff und auf dem Planeten zuvor, schien der Krieg weit entfernt zu sein, fast irrelevant, wenn nicht die Vergangenheit gewesen wäre.
Er erwartete schon, dass Layiel ablehnen würde, so lang dauerte dessen Schweigen an, als er schließlich begann zu sprechen: „Ich habe Euch von den Bäumen erzählt, ohne die wir uns nicht fortpflanzen können. Vor ein paar Monaten hat ein feindlicher Clan uns angegriffen, Teile unseres Landes annektiert und der Bevölkerung getötet. Wir sind Aschajar, baumlos und damit zum Aussterben verdammt. Geschützt wurden wir eher durch unsere Abgeschiedenheit, denn durch die Anzahl unser Krieger. Weil wir nicht die Macht hatten, den Feind wieder zu vertreiben, entschied unser Anführer in seiner Weisheit, dass wir uns mächtige Verbündete suchen müssen. Und deshalb…“ Er breitete die Arme aus. „…bin ich jetzt hier.“
„Also kämpft ihr für die Sorastug aufgrund eines Versprechens, dass sie euch euer Land zurückerobern?“, fasste Nantwin zusammen.
„Es ist unsere einzige Hoffnung“, bekannte Layiel freimütig, „Ansonsten stirbt mein Clan und mit ihm meine Familie aus.“
Diesen Grund konnte Nantwin verstehen. Wenn die Gemeinschaft starb, würde es auch mit der kleinsten Zelle, der Familie, geschehen. Layiel musste also kämpfen. Es gab deutlich schlechtere Beweggründe.
„Ich wünsche, dass Euch das gelingen wird“, erklärte er.
Sein Gegenüber hob abrupt den Kopf.
„Ist das Euer Ernst?“
„Warum sollte ich das nicht?“, entgegnete Nantwin, „Ihr seid mein Feind, aber ich kann Euch dennoch für Eure Leistungen und Fähigkeiten respektieren.“ Für einen Moment zögerte er, dann fügte er hinzu. „Außerdem kann Euer Clan auch ohne Euch überleben.“
Zunächst war Layiels Miene gleichgültig, aber bald schlich sich ein Lächeln auf seine Züge, dann war er den Kopf in den Nacken und lachte laut.
„Ihr seid wahrlich unverbesserlich“, gluckste er. „Und vermutlich sollte ich Euch dafür ebenfalls respektieren.“
„Vielleicht.“ Nantwin zuckte mit den Schultern, als wäre ihm das gleichgültig. In Wahrheit freute er sich über das Lachen. Es war lange her, dass er zuletzt ein solch ungezwungenes vernommen hatte. Und die Art, wie Layiel es tat, herausbrechend und nicht darüber nachsinnend, was andere von ihm denken würden, erinnerte ihn an seinen jüngsten Sohn.
„Seid Ihr immer so unnahbar?“, fragte der Rahosi nun.
Nantwin musterte ihn zunächst, dann rang er sich zu einer Antwort durch: „Ich habe gelernt, dass es der beste Schutz zum Überleben ist.“
„Oh ja“, entgegnete der Andere, „Und die beste Möglichkeit, um einsam zu werden.“
„Es ist Krieg, Leser. Außerdem hätte ich zwei Tage nach der Schlacht Heimurlaub gehabt.“ Das war überhaupt der bitterste Tropfen. Er hatte seine Familie ein halbes Jahr nicht gesehen und wer wusste, wann er wieder in Freiheit sein würde.
„Eure Familie?“
„Ich möchte nicht darüber reden“, würgte er ab, was Layiel mit einem Nicken akzeptierte.
Danach schwiegen sie wieder und die Zeit verging.
„Kommt.“ Auf einmal stand Layiel in der Tür und Nantwin schreckte auf. Verdammt. Eilig richtete er sich auf. Hatte er sich nicht vorgenommen, nicht zu schlafen?
Er stand auf und folgte dem Rahosi, der ihn durch einen Gang und dann eine Treppe hinabführte. Helles Licht strahlte ihm entgegen, so dass Nantwin für einen Moment die Augen schließen musste. Layiel bemerkte es und blieb stehen.
Schließlich deutete er hinaus. „Kommt“, wiederholte er.
Nantwin fühlte sich seltsam bloß, als er die Rampe hinunter trat und neben Layiel auf dem Boden stehen blieb. Die Steppenlandschaft war weithin offen und gut zu überblicken, nirgends war eine Person zu sehen. In der Ferne erblickte er eine Gruppe ihm unbekannter Tiere, die das Schiff allerdings mieden.
„Wo sind wir?“, fragte er verwundert. War hier eine Station der Sorastug? Aber warum waren sie dann alleine?
Er blickte zu Layiel, der sein Buch in der einen Hand hielt und die Feder in der anderen.
Weißt du, wo wir sind?, fragte er sein System, aber dieses schwieg. Anscheinend war es immer noch geblockt.
„Wo sind wir?“, fragte er erneut und wiederum antwortete der Rahosi nicht. Stattdessen schrieb er mit feinen Bewegungen in sein Buch.
Plötzlich spürte er, wie sich das Band um seine Handgelenke löste. Ohne etwas von seiner Macht zu offenbaren, fiel es harmlos zu Boden.
Verblüfft sah er zu Layiel, der sein Buch soeben wieder einsteckte.
„Was für ein Spiel ist das“, rief er ihm zu.
„Ein Spiel? Es ist kein Spiel, nur Natürlichkeit“, entgegnete dieser so gelassen, als wäre das, was hier geschah, tatsächlich normal und für jeden verständlich.
„Wir sind auf Saraosos“, beantwortete er schließlich seine vorige Frage, „Irgendwo in dieser Richtung liegt einer eurer Stützpunkte. Wo genau musst du wissen.“
„W-Was?“
„Nun geh schon!“, befahl Layiel.
„Was“, wiederholte Nantwin und blieb weiterhin auf der Stelle stehen. Hier ging etwas vor sich, was sein Verstand nicht greifen, nicht verstehen konnte. „Nach allem, was geschehen ist, soll ich einfach gehen?“
„Aber das ist es doch, was Ihr die ganze Zeit gewollt habt, oder?“ Hatte er das? Er konnte es nicht wirklich beurteilen.
„Nun“, erklärte er mit einem Grinsen, das nur aufgesetzt war, „Zuvor würde ich Euch doch bitten, mein System wieder frei zuschalten und mir meine Besitztümer wiederzugeben.“
Als Layiel tatsächlich nickte und einen Befehl ins Innere des Raumschiffs rief, war er dennoch überrascht. Wie konnte er nur darauf eingehen, ihn zu bewaffnen? Glaubte er wirklich immer noch, dass er Nantwin besiegen konnte?
Er sah zu ihm hinüber. Erneut beugte sich der Rahosi über sein Buch und schrieb etwas hinein. Nantwin beobachte ihn dabei. In seinem Gesicht lag ein Ausdruck, den er nicht zuordnen konnte. Gleichgültigkeit? Unmut? Dass er Stunden zuvor noch herzlich gelacht hatte, schien nun ein unvorstellbarer Gedanke zu sein. Er steckte das Buch wieder ein, doch blieb sein Kopf gesenkt und er sah noch nicht einmal auf, als ein Roboter über die Rampe zu Nantwin kam und ihm seine Waffen und verbliebenen Habseligkeiten reichte. Sein Lichtschwert behielt er in der Hand.
Endlich sah der Rahosi auf.
„Nun geht schon“, wiederholte er. Müde, schoss es Nantwin in den Sinn, er ist müde.
Weiterhin rührte sich der ehemalige Pilot nicht von der Stelle.
Als Layiel dieses Mal aufsah, blickte er ihm direkt in die Augen.
„Was ist denn? Wollt Ihr immer noch den Namen erobern? Dann holt ihn Euch.“ Sollte es wirklich so einfach sein? Sollte sein alter Freund wirklich so gerächt werden? Hätte er es gewollt.
„Nein“, antwortete er, „Ihr habt mir Ehre erwiesen, also werde ich Euch Ehre erweisen. Ihr seid unbewaffnet, ich kämpfe nicht gegen Euch.“
Layiel schnaubte, als könne er nicht verstehen, warum sein Gegenüber auf solchen Kleinigkeiten beharrte. Doch selbst dieses Aufschnauben wirkte kraftlos, lustlos. Mit einer Handbewegung befahl er dem Roboter, ihm seine Waffen zu bringen.
„Nein“, entgegnete Nantwin und trat einen Schritt auf den Rahosi zu. „Ihr versteht nicht. Ich lasse mich nicht von Euch benutzen.“ Denn das war es, was Layiel von ihm wollte. Nun erkannte er es.
„Warum habt Ihr verhindert, dass ich Euch im See töte?“, fragte er.
„Weil es noch nicht an der Zeit war“, antwortete sein Gegenüber mit schwacher Stimme, „Ihr habt mich sieben Jahre verfolgt und ich bin bereit, mich zu verteidigen. Lasst uns darum kämpfen um der Akzeptanz willen, die Ihr für mich empfindet.“
Einen weiteren Schritt trat Nantwin noch näher. Jetzt stand er direkt vor dem Rahosi. War er schon immer so klein gewesen, oder kam ihm das nur so vor?
„Nein“, wiederholte er, „Ihr versteht noch immer nicht. Ihr mögt noch so gut mit einer Rüstung geschützt sein und ich werde dennoch nicht gegen Euch antreten. Es wäre kein Sieg, der Ehre bringen würde, wenn der Gegner nicht siegen will.“
„Wovon sprecht Ihr? Natürlich will ich siegen.“ Selbst seine Empörung war schlecht gespielt.
„Nein“, widersprach Nantwin, „Ihr wollt sterben, weil Ihr keine Hoffnung mehr habt. Ihr wollt sterben und wollt mich dafür benutzen, weil es ehrenvoll ist, im Kampf zu sterben. Ist dem nicht so?“ Er konnte es sogar verstehen. Selbst für Nantwin war es schrecklich, seine Familie so lange nicht zu sehen, doch für einen Rahosi, bei dessen Volk die Familie das höchste Gut war, musste es grausam sein. Umso mehr, wo er nicht an das Versprechen der Sorastug glaubte und wusste, dass sein Clan und mit ihm alles, was ihm teuer war, dem Untergang geweiht war. Um dieses Schicksal nicht mehr miterleben zu müssen, hatte er sich entschieden, lieber sterben zu wollen.
Layiel antwortete nicht, aber sein Blick sagte alles, was Nantwin wissen musste.
„Aber ich hasse es, mich benutzen zu lassen. Ja, ich will den Namen meines besten Freundes zurückerobern und ja dafür ist Euer Tod Voraussetzung, aber es wäre kein ehrenvoller Sieg und eine Schande in den Augen meiner Brüder.“
Immer noch schwieg der Rahosi und blickte ihn nur an.
„Findet Eure Hoffnung und Eure innere Widerstandskraft wieder, dann werde ich mit Freuden gegen Euch kämpfen.“ Mit diesen Worten ging er einige Schritte rückwärts und stellte erneut einen Abstand zwischen ihnen her.
„Ist das Euer letztes Wort?“, fragte Layiel kläglich.
„Das ist es“, bestätigte Nantwin, „Lebt wohl!“
Und er wandte sich um und schritt davon.
Fast erwartete er, dass Layiel ihm folgte oder ihm einen Pfeil nachsandte, aber nichts geschah.
Nur Stille, während er über die Steppe schritt.
Er sah nicht zurück.
Der Sand unter seinen Füßen knirschte, hing in seiner Kleidung und rieb in seinen Stiefeln. Dennoch hätte Nantwin nicht glücklicher sein können. Heimat. Der Pilot, der ihn von Fjanonk, der Hauptstadt, zu seinem kleinen Heimatort bringen sollte, hatte nur kurz den Kopf geschüttelt, als Nantwin ihn gebeten hatte, ihn ein paar Kilometer vorher abzusetzen, aber ihm war es egal gewesen. Ihn machte es glücklich, durch diesen Sandkasten zu laufen, wie sein ältester Sohn die Kasak-Wüste, an dessen Rand Nantwin lebte, nannte.
Das Haus war etwas außerhalb des Ortes an einem Wasserloch erbaut worden und besaß eine runde, kugelartige Form, damit es weniger Windwiderstand bot. Zusätzlich war es halb in den Boden eingegraben.
Schon von weitem hörte er das Geklapper der Stöcke, das Lachen von Kindern und laute Gespräche. Zuhause.
Norwin war der Erste, der ihn bemerkte. Mit einem Aufschrei ließ er das hölzerne Schwert seinem Bruder auf die Füße fallen, der daraufhin ebenfalls aufsah.
„Papa! Papa!“
Sein Ältester ließ Arved hinter sich, sprintete auf ihn zu und sprang in seine Arme. Nantwin, der inzwischen niedergekniet war, bettete den Kopf des Jungen auf seiner Brust und strich ihm über das dunkle Haar.
„Du bist schnell geworden, mein Sohn“, war das Erste, was er sagte. „Ich bin stolz auf dich“, das Zweite.
Doch blieb Norwin wenig Zeit für eine Antwort, denn jetzt erreichte auch Arved auf seinen kurzen Beinen den Ankömmling und klammerte sich ebenfalls an ihn.
„Ich hab dich vermisst, Papa“, nuschelte er und drückte ihm einen Schmatzer auf die bärtige Wange.
„Ich dich auch, mein Junge“, murmelte der Soldat gerührt.
Nach einer Weile löste er Arveds Arme von seinem Hals und setzte Norwin von seinem Schoß.
„Ich möchte Eure Mama begrüßen“, erklärte er.
„Oh ja“, antwortete der Jüngere und klatschte in die Hände, „Sie wird sich ganz doll freuen.“
„Bestimmt.“
Noch bevor sie den Hauseingang erreichten, hörte er sie: „Norwin! Arved! Kommt, es gibt Essen.“ Ein zweiter Ruf erschallte, dann öffnete sich die Tür. „Wo seid Ihr denn? Kommt, das…“ Abrupt brach sie ab, schlug die Hände vor dem Mund und blieb stocksteif auf der Stelle stehen.
„Nantwin…“ Langsam ließ sie die Hände sinken, während Tränen über ihre Wangen rannten. „Du bist zurück.“ Ein erstickter Schluchzer, der sich mit Lachen mischte, erklang.
„Ja“, entgegnete er mit rauer Stimme, „Ich bin zurück.“
War es ein halbes Jahr? Ein Jahr? Eine Ewigkeit. Und jetzt stand sie ihm gegenüber.
„Du bist zurück“, wiederholte sie, als sie sich umarmten. „Ich erhielt eine Nachricht, dass du verschollen bist und…Du bist zurück. Ich…“
„Ist schon gut.“ Beruhigend strich er ihr über den Rücken und die langen Flechten, die ihr darüber flossen. „Ich hatte es ja versprochen.“
„Oh ja, das hast du. Aber dieses Mal.“ Sie hielt inne. „Dieses Mal. Ich habe mir einfach Sorgen gemacht“, schloss sie kläglich.
„Es war auch knapp“, gestand er, „und nicht gerade einfach.“
„Und wem verdanke ich deine Rückkehr?“, fragte sie und er war glücklich über das schelmische Lächeln, das er in ihrem Gesicht fand. Sie kannte ihn so gut. Und er würde ihr nur die Wahrheit erzählen, auch wenn es Tage dauern mochte, bis er seine Gedanken geordnet hatte und sich über die Geschehnisse im Klaren war.
„Einem ehrenwerten Feind“, antwortete er schließlich.
„Dann solltest du, wenn sich eure Wege das nächstes Mal begegnen, ihm gegenüber Gnade zeigen“, schlug sie vor.
„Vielleicht sollte ich das“, entgegnete er und drückte seine Frau an sich.
„Ganz bestimmt solltest du das“, lachte sie, schob die Kinder, die sich wieder an seine Beine geklammert hatten, ins Haus und ging voran.
Er folgte ihr.
Zuhause – und dennoch dachte er weiterhin an jenen Moment, als Layiel wehrlos vor ihm gestanden hatte. Weshalb hatte er das getan? Warum?
Er wusste es nicht, doch jetzt – nach den Worten seiner Frau – akzeptierte er auch seine eigene Entscheidung.
Manchmal war Frieden doch wertvoller als Rache.
Er lächelte.