Was wäre, wenn … Allyster, Elred und Karja versklavt werden?
Fortsetzung von „Die Küste der wilden Bärenkrieger“, Kapitel 16.
Die schweren Ketten um dein Handgelenk sind aus grob behauenem Eisen. Ihr Gewicht zieht an deinen Schultern. Jeder Schritt wird schwerer als der vorherige, dein Atem geht immer mühsamer.
Allyster und Elred sind vor dir angekettet. Die Steuereintreiber haben euch in ihre Mitte genommen. Es sind große, blonde Hünen. Ob sie nur so groß wirken, weil die Ketten dich nach unten ziehen? Außerdem greifen die Bärenkrieger mit weiten Schritten aus, sodass ihr rennen müsst, um mit ihnen mitzuhalten. Du bist bereits völlig außer Atem. Die Bewohner dieses Landes sind extrem stark und schnell. Ob sie erkennen werden, dass ihr nicht zu ihnen gehört? Schon allein euer Aussehen dürfte sie misstrauisch machen, doch soweit du weißt, gehören die Bärenkrieger zu jenen Völkern, die auch Fremde aufnehmen. Aber irgendwann werden sie sich fragen, wie solche Schwächlinge wie ihr akzeptiert wurden.
Andererseits weißt du nicht, was euch jetzt bevorsteht. Du hast nie etwas über die Steuergesetze in Flutheim erfahren. Vielleicht spielt es keine Rolle, ob die Krieger euch als Feinde erkennen oder nicht.
Das werdet ihr sehen müssen. Stumm wechselst du einen Blick mit deinen beiden Begleitern. Allyster hatte noch keine Chance, den Selenit einzusetzen. Sobald ihr die Chance dazu bekommt, muss er das tun. Dann wisst ihr vielleicht, wie ihr euch verhalten solltet.
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Diese Chance erhaltet ihr jedoch erst spät. Nach einer Reise von zwei Tagen erreicht ihr die Stadt Flutheim am frühen Abend. Ihr seid von der Reise erschöpft, denn euch wurde kaum Ruhe gegönnt. Dennoch versuchst du, so viele Einzelheiten der Stadt wie möglich aufzunehmen.
Eine Palisade aus Holz umgibt die eher niedrigen Reedhütten. Viele Wachen sind überall rings um die Siedlung verteilt. Flutheim scheint sich in höchster Alarmbereitschaft zu befinden. Als Sklaven erhaltet ihr jedoch kaum Beachtung. Ohne diese Tarnung wäre es schwierig gewesen, überhaupt in die Stadt einzudringen. Glück im Unglück!
Danach bringt man euch in ein Viertel nahe beim ‚Jarlsdorf‘, wo sich der Sitz des Herrschers von Flutheim befinden muss. Ihr könnt die zweite Mauer sehen, die das Herz Flutheims beschützt, doch ihr werdet in ein längliches Gebäude vor dieser letzten Hürde gesperrt. Hier seid ihr nicht die einzigen Gäste. Es gibt noch mehr Unglückliche, denen wie euch am Tor die Handschellen abgenommen wurden. Krieger, magere Greise, erschreckend viele Kinder – sie beachten euch kaum, als ihr mit in den stinkenden, mit Stroh ausgelegten Raum gestoßen werdet.
Insgesamt seid ihr etwa fünfzig Leute. Ihr drei sucht euch einen Platz an der Wand. Die Waffen wurden euch abgenommen, aber die beiden Schöpfersteine haben Elred und Allyster verbergen können. Jetzt umfasst der Zauberer seinen Stein schweigend, worauf sich seine Augen sofort verdrehen. Ihr stützt Allyster und schirmt ihn vor Blicken ab, während er die Möglichkeiten der Zukunft für euch erforscht.
Schließlich öffnet er keuchend die Augen. „Also gut … Elred, bei der Präsentation musst du einen Bogen verlangen. Karja, bist du bereit, ihnen schöne Augen zu machen?“
„Jederzeit“, murmelst du belustigt. „Aber fang bitte vorne an.“
„Stimmt …“ Verdutzt nickt der Zauberer. „Gut, hört zu …“
Von eurem Magier erfahrt ihr, dass bereits morgen eine Art Auktion stattfinden wird, bei der Interessierte die Sklaven erstehen können. Wer euch dabei wählt, bestimmt über euer weiteres Leben. Die meisten Sklaven werden irgendwo auf den Bauernhöfen weiter draußen als Arbeiter eingestellt. Da sie ihren eigenen Unterhalt nicht – oder, im Falle der Kinder, noch nicht – selbst bestreiten können, werden sie kostenlose Arbeiter für andere Bärenkrieger, die im Gegenzug für Unterkunft und Speisen aufkommen werden.
Ihr dürft jedoch nicht so weit weg von der Hauptstadt! Denn der Schöpferstein aus Flutheim, der Zirkon, befindet sich tatsächlich im Jarlsdorf. Um von einer Familie in der Stadt genommen zu werden, müsst ihr besondere Talente vorweisen. Allyster will sich als Schriftkundiger verdienen. Auf diese Weise wird er irgendwann, wenn er sich in die Runen von Flutheim eingearbeitet hat, beim Jarl selbst landen.
„Das wird nicht leicht, denn ich muss der beste von allen werden. Aber gemeinsam mit dem Selenit wird es mir gelingen! Ihr dagegen müsst jetzt jeden Schritt erfahren. Prägt sie euch gut ein!“
Für Elred hat er einen Pfad als Jäger vorgesehen. Der Elf kann das Tigerauge nutzen, um die Zeit zu verkürzen, die er zum Zielen benötigt. Mit der nahezu übernatürlichen Treffsicherheit kann er morgen die Wachen auf sich aufmerksam machen und wird von ihnen gewählt werden. „Du musst aber aufpassen, dass niemand jemals den Stein sieht! Verstecke ihn immer gut, wenn du schlafen gehst, egal, wie müde du bist.“
Elred nickt ernst. Diese Warnungen kommen sicher nicht von ungefähr.
Dann wendet Allyster sich dir zu. „Dein Weg ist schwieriger. Du kannst dich natürlich als Dirne anbiedern. Wenn du dich gut anstellst, kommst du irgendwann zur gleichen Zeit wie wir zum Jarl. Aber das darf nicht geschehen, bevor ich die Runen gelernt habe.“
„Was sind die Alternativen?“ Du bist sofort hellhörig geworden. Natürlich wirst du tun, was nötig ist, aber wenn du die Wahl hast, ist es dir lieber, die Kontrolle über deinen Körper zu behalten.
„Ich … habe eine Zukunft gesehen, in der du Sängerin bist“, sagt Allyster. „Die Zukunft scheint sogar stabiler zu sein, denn du wärst nicht nur einmal beim Jarl! Stattdessen würden sie dich für viele Feste einladen, bei denen ich sowieso anwesend bin und Elred aufgrund der verstärkten Wachen ebenfalls.“
„Aber?“
„Aber es besteht nur eine geringe Chance, dass du morgen eine Familie überzeugen kannst, dich zu nehmen. Niemand kommt zur Auktion, um Sänger zu suchen. Die meisten wollen Arbeiter, Köche oder Kindermädchen. Es … klappt nicht immer.“
Du wägst beides gegeneinander ab. Als Hure hättest du offenbar den Job sicher, doch dann gibt es nur eine Chance, den Zirkon zu stehlen. Als Sängerin, so schwierig das auch ist, musst du nur die erste Hürde überwinden.
„Ich singe“, sagst du deshalb entschlossen. „Ich kenne eine Menge Shanties aus meiner Heimat! Und wenn es morgen nicht klappt, kann ich immer noch den anderen Weg versuchen.“
Allyster nickt. Er klopft auf den in seiner Tasche verborgenen Selenit. „Ich werde euch im Blick behalten. Wenn wir uns wiedertreffen, gebe ich euch ein Zeichen, wenn wir zuschlagen. Ich kann alles vorbereiten, aber vielleicht müssen wir zwei oder der Gelegenheiten verstreichen lassen, bevor wir es machen.“
Nach dieser Besprechung ergreift Allyster den Selenit erneut und versucht, so viele Details wie möglich aus den Visionen herauszuziehen. So kann er dir die Lieder vorsummen, die die größten Erfolgschancen für dein Vorhaben versprechen. Anhand seines Summens erkennst du sie. Elred wird vor einem schlecht gearbeiteten Pfeil gewarnt, der im Flug zerbrechen und seine Chancen zunichte machen würde. Die gesamte Nacht plant ihr im Flüsterton, den nächsten Morgen hindurch und bis zum Mittag, wo die Auktion beginnt. Dann werdet ihr alle gefesselt und du wirst von deinen Gefährten getrennt. Auf einem kalten, schneebedeckten Platz wartest du gemeinsam mit den anderen Frauen auf die Interessenten.
Allyster ist mit euch tausende Eventualitäten durchgegangen. Ihr wisst, wie ihr diese Gefangenschaft überstehen könnt. Solange nichts Unvorhergesehenes passiert …
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Am Ende gelingt es dir. Deine Lieder überzeugen eine adelige Familie, dich als Gesellschafterin anzustellen. Du lernst rasch neue Melodien und die Sprache der Krieger, deine Auftritte bei Feierlichkeiten werden beliebt. In deiner Zeit als Botschafterin der Mondsee hast du auch einige Lieder anderer Lande gelernt, was dich unter den anderen Sängern aus Flutheim hervorstechen lässt. So wirst du schließlich zum neuen Jahr ins Jarlsdorf eingeladen.
Dort siehst du nach langen Monaten Elred zum ersten Mal wieder. Er gehört, wie geplant, zu den Wachen, die die Feierlichkeiten überblicken. Doch Allyster ist noch nicht angekommen. Dein Herz wird schwer, als dir klar wird, dass du dieses falsche Leben noch länger führen musst.
Es ist nicht leicht. Als Sklavin hast du keine Rechte, obwohl du als beliebte Sängerin noch ziemlich gut behandelt wirst. Dennoch musst du früh aufstehen, jedem Befehl deiner Besitzer gehorchen und darfst nicht einmal deine Räumlichkeiten ohne Erlaubnis verlassen. Da deine Stimme das wertvollste an dir ist, musst du sie schonen. Abgesehen von deinen Vorführungen und den täglichen Übungen darfst du nicht sprechen! Mehr und mehr fühlst du dich wie ein Rassepferd, das stolz vorgeführt wird, aber niemals auf einer Weide galoppieren darf. Ein Schiff mit perfekter Bemalung, das niemals auf den Wellen segeln wird.
All das überstehst du nur, weil du dich an die Gewissheit klammerst, dass ihr den Zirkon stehlen und entkommen werdet. Schließlich ist es auch wirklich so weit: Beim dritten Mal, das du im Jarlsdorf auftrittst, befindet sich Allyster unter den Beratern des Jarls. Auch Elred ist da. Als ihr verstohlene Blicke tauscht, nickt Allyster euch unmerklich zu.
Ihr habt seit über einem Jahr nicht mehr miteinander gesprochen, und doch wisst ihr sofort, dass heute der Tag eurer Flucht ist. Den Zirkon trägt der Jarl als Teil seines Schmucks. Er ist zum Greifen nah für Allyster, doch der Magier wartet noch ab. Als der Abend fortschreitet, fließt auch der Alkohol. Schließlich kommt dein Auftritt. Als alle Blicke auf dich gerichtet sind, bemerkst du, wie Allyster zu Elred und dann zum Kamin gestikuliert.
Der Söldner versteht sofort, was dir nicht gelungen wäre. Doch Elf und Zauberer kennen sich schon lange. Während du singst, schlägt Elred zu und wirft den Alkohol ins Feuer. Im folgenden Chaos ergreift Allyster den Zirkon und Elred schießt auf den Jarl. Als du dich umdrehst, siehst du ein Seil hinter dir und kletterst instinktiv hinauf. Das hat sicherlich Allyster dort platziert! Über den wachsenden Flammen erreichst du das Gebälk, wo auch Elred auftaucht. Ihr eilt zu einem Fenster und springt auf einen Haufen aus Stroh und Stoffen, der unter diesem platziert ist.
Als ihr euch aus dem weichen Haufen befreit, kommt Allyster herausgerannt.
„Los!“ Er winkt euch zu einem Schiff, das im Jarlsdorf vor Anker liegt. Ein Fluss führt durch die gesicherte Siedlung und hinaus auf die stürmische See im Süden. Während die Jarlshalle hinter euch in Flammen aufgeht, springt ihr ins Schiff, kappt die Taue und lasst euch von der Strömung mitreißen. Ihr seid frei!
„Du hast das Tigerauge dabei, ja?“, fragt Allyster den Elfen. Der erste Satz, den ihr nach über einem Jahr miteinander wechselt.
Der Elf nickt. „Natürlich. Aber was machen wir jetzt? Wie kommen wir nach Kalynor?“
„So weit habe ich nicht in die Zukunft geblickt“, sagt Allyster. „Ich denke, wir schlagen einen Bogen und dann …“
„Allyster“, unterbricht Elred ihn. „Hast du es denn nicht gehört? Der Krieg hat begonnen.“
„Was?“, entfährt es dir. In deinem goldenen Käfig hast du ebenfalls nichts mitbekommen.
„Die Jenseitsvölker haben damit begonnen, Kalynor anzugreifen!“ Entgeistert sieht Elred euch um. „Das war doch Stadtgespräch!“
„Ich durfte mit niemandem sprechen“, sagst du leise.
„Und ich war eigentlich nur in den Bibliotheken.“ Allyster ist ein wenig blass geworden. „Wie schlimm ist es?“
„Noch steht Kalynor. Dass einige der Steine verschollen sind, schafft ein Machtvakuum. Der Rest unserer Gruppe wurde scheinbar auch noch nicht geschnappt. Aber Kalynor ist von den Armeen der verschiedenen Länder umzingelt. Ein dichtes Netz aus Gräben, Soldaten, Wachen … Wir brauchen schon viel Glück, um da durchzukommen.“
Allysters Blick ist milchig geworden. Es dauert jedoch nicht lange, bis er aus der Zukunftsvision zu euch zurückkehrt. „Scheiße“, stellt er fest. „Ich war so auf den Diebstahl des Zirkons fokussiert, ich habe den Rest nicht mehr bedacht! Ich … ich glaube, ich habe diesen Angriff sogar ermöglicht. Das war es, was mir das Vertrauen des Jarls eingebracht hat.“ Er sieht gen Flutheim. Die Stadt an der Küste gerät rasch außer Sicht. „Tut mir leid. Ich habe auf die Schnelle nicht einen Weg gesehen, um zu überleben …“
Die Freude darüber, dass euch endlich die Flucht gelungen ist, ist rasch verflogen. Wenn der Krieg bereits begonnen hat, seid ihr zu spät. Selbst Elred, der nicht von dieser Botschaft überrascht wurde, wirkt niedergeschlagen. Vermutlich hoffte er, dass Allyster eine Lösung wusste. Doch der Zauberer ist ratlos.
Ihr habt versagt! Noch dazu habt ihr heute ganz Flutheim verraten, wer ihr seid und wo sie einen Teil der verlorenen Schöpfersteine suchen müssen. Eure Lage ist noch hoffnungsloser als zuvor.