Was wäre, wenn … Allyster und Elred dank Karjas Opfer entkommen?
Fortsetzung von „Die Küste der wilden Bärenkrieger“, Kapitel 27.
Es ging alles furchtbar schnell, selbst mit der Macht des Tigerauges, das Elred nutzte. Starr vor Entsetzen kannst du nur noch zusehen, wie Karja durchbohrt wird. Du weißt, dass ihr der Piratin nicht mehr helfen könnt. Ihr würdet euch nur als ihre Verbündeten verraten und damit euch selbst in Gefahr bringen.
Dieses Wissen macht es jedoch nicht einfacher. Zwar begleitet euch Karja noch nicht sehr lange, doch sie war zu einem wertvollen Mitglied eurer Gruppe geworden. Einer Freundin.
Im folgenden Chaos bemerkst du aus dem Augenwinkel etwas Blaues, das von verschiedenen Stiefeln getreten über den Boden rutscht. Erstaunt erkennst du den Schöpferstein. Karja muss ihn in eure Richtung geworfen haben.
Dein Rücken protestiert mit einem stechenden Schmerz, als du nach vorne springst und dich nach dem Stein bückst. Jemand rempelt dich an, das Ende einer Pike stößt in deine Seite. Dann kannst du den Schöpferstein ergreifen. Der blaue Zirkon flackert in deinem Griff auf. Du fasst den erwärmten Stein fester und spürst trotz der grausigen Lage ein Gefühl der Euphorie.
Dein Stein! Der Zirkon akzeptiert dich als Träger! Im nächsten Moment wird dir klar, dass das Karja hätte retten können. Wenn es bloß du gewesen wärst, der den Stein genommen hätte!
Du weichst an die Seite von Elred zurück. Der Elf hat nichts mitbekommen und wirft dir einen fragenden Blick zu. Verstohlen zeigst du ihm den schwach leuchtenden Stein in deiner Hand.
Die Ablenkung durch Karja ist auch rasch vorbei. Die Krieger brauchen nicht lange, um sie zu töten. Als sich alles etwas beruhigt, springt der Jarl auf. „Bringt mir den Stein!“
Wächter durchsuchen Karjas Leiche, doch ohne Erfolg. Ehe ihr überhaupt darüber nachdenken könnt, zum Tor zu schleichen, werden alle Zugänge zur Halle bereits verriegelt.
Du tauscht einen besorgten Blick mit Elred. Die Wachen beginnen, jeden Winkel der Halle abzusuchen, aber es wird nicht lange dauern, bis sie den Schöpferstein bei einem der Gäste vermuten. Es ist zu wahrscheinlich, dass jemand ihn eingesteckt hat.
„Du musst ihn nutzen“, flüstert Elred dir zu.
Unsicher siehst du auf den Stein. Du weißt nicht, welche Kraft er besitzt. Was, wenn er ähnlich wie der Selenit ist, dich in Trance versetzt und euch keine Möglichkeit zur Flucht eröffnet?
Elred stößt dich an. „Na los!“
Du schließt die Faust um den Stein, noch immer unsicher, was du tun sollst. Dann, ganz plötzlich, weißt du es. Das Wissen strömt einfach in dich hinein, als hättest du es schon immer gewusst. Der Zirkon hat dich akzeptiert, jetzt gibt er dir alles, was du wissen musst. Es ist so viel leichter als die Magie, die du dein Leben lang studiert hast, und der Zirkon flüstert dir zu, dass du alles vergessen musst, was du gelernt hast.
Als du deine Kraft in den Stein fließen lässt, springen fauchende, blaue Flammen um dich herum aus dem Boden. Die Krieger und Gäste des Jarls schreien auf. Die Hitze nimmt dir für einen Moment den Atem, so heftig schlägt sie auf dich ein. Doch der Stein verschont sowohl dich als auch Elred mit der Fülle seiner Macht.
Du schwingst den Zirkon auf die Tore zu und verbrennst die Wachen, das Holz der Tür und alle anderen Hindernisse.
„Unmöglich!“, brüllt der Jarl auf seinem Thron. „Niemand kann den Stein nutzen!“
Da erfährt wohl jemand gerade ein unerfreuliches Erwachen. Ihr sprintet Seite an Seite durch die Lücke in der Halle nach draußen.
Hinter euch erklingt lautes Gebrüll. Als du dich umdrehst, folgen euch mehrere riesige Bären aus der Halle, selbst auf allen Vieren höher als ein Mann. Dazwischen siehst du Wölfe, große Raben – ihre Flügelspanne entspricht der Körperlänge eines Mannes! – und andere Tiere, aber die Bären ziehen deinen Blick auf sich. Sie sind gigantisch, wütend und schnell!
Dein Herz hämmert vor Panik. Du sendest eine gewaltige Feuerwelle auf die Angreifer. Der Angriff ist ungezielt und verbraucht viel zu viel Kraft, ganz anders als die eleganten Zauber, auf die du sonst so stolz bist – doch der Schöpferstein verstärkt deine Kraft so sehr, dass es keine Rolle spielt. Und es zeigt Wirkung: Die vorderen Angreifer werden restlos verzehrt, viele weitere springen brennend und brüllend zurück.
Die Unversehrten wirken geschockt, dass das Feuer ihnen überhaupt etwas antun konnte. Dachten sie, sie wären unverwundbar? Selbst Tiere müssten doch eigentlich klüger sein!
Ihr rennt auf das Tor der Jarlssiedlung zu. Erneut kannst du die Wachen einfach verbrennen, und das Tor mit dazu. Diesmal ist der Flammenstoß schon gezielter. Die Kraft, die der Zirkon dir verleiht, ist unbeschreiblich berauschend. Kein Wunder, dass die Schöpfersteine über das Schicksal des Krieges bestimmen!
Mithilfe des Zirkons kannst du eure Feinde leicht auf Abstand halten, bis ihr das Gasthaus erreicht und eure Pferde holt. Was aus eurem jungen Stadtführer geworden ist, weißt du nicht. Es ist dir auch egal – ihr müsst aus der Stadt heraus. Langfinger muss selbst auf sich aufpassen. Obwohl ihr nun extrem wehrhaft seid, tauchen immer mehr riesige Tiere auf, um euch anzugreifen. Ihre Fellzeichnungen enthalten Runen, die du von der Kleidung der Krieger kennst. Sie können sich verwandeln!
Die Bärenkrieger haben nicht vor, euch kampflos gehen zu lassen. Selbst als ihr im Galopp aus der Stadt flieht, folgen sie euch. Ohne den Zirkon wärt ihr verloren. Die Bären sind schneller als eure Pferde, stärker und brutaler. Nur das Feuer rettet euch, vor dem die verwandelten Bären seltsamerweise kaum Angst zu haben scheinen. Während ihr flieht, rennen viele der Kreaturen direkt ins Feuer, und bremsen erst, wenn sie bereits brennen. Vielleicht gibt es etwas, das sie vor normalem Feuer beschützt, doch der Zirkon ist glücklicherweise mächtiger.
Ihr gelangt aus der Stadt und in die Wälder. Armbrustbolzen fliegen euch hinterher. Elred feuert ein paar Pfeile nach hinten, damit die Wachen in Deckung gehen.
Ihr taucht in die Deckung der Stämme ein, doch die Wachen folgen euch weiterhin. Während ihr durch die lichteren Bereiche der Wälder reitet, erklingt Wolfsgeheul hinter euch.
„Sie werden uns folgen“, meint Elred. „Wir können sie im Wald abschütteln.“
Du verneinst mit einem Kopfschütteln. „Sie werden uns wittern. Wir nehmen die Straße, dort sind wir schneller!“
Elred zuckt mit den Schultern und lenkt Coritas aus dem Wald heraus. Du folgst dem Pferd des Elfen auf die Straße, wo die Hufe eurer Tiere mehr Halt finden. Ein Blick über die Schulter zeigt dir, dass mehrere riesige Wölfe hinter euch her hetzen. Du schleuderst ihnen eine weitere Welle aus blauem Feuer entgegen. Diesmal weichen sie aus – die Nachricht, dass euer Feuer gefährlich ist, hat sich offenbar herumgesprochen.
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Du hast deine Kräfte bereits ziemlich beansprucht. Je länger die Flucht dauert, desto erschöpfter fühlst du dich. Als selbst die Pferde vor Müdigkeit taumeln, erreicht ihr den Bergpass, durch den ihr gekommen seid. Die Pferde schleppen sich im Trab weiter. Ihre Ohren zucken nervös, wann immer ein Wolf hinter euch heult.
Die Meute folgt euch, gerade außerhalb der Reichweite des Zirkons. Mehrere Bären haben sich zu den Wölfen gesellt. Es kommt dir vor, als würde die Gruppe hinter euch größer werden, wann immer du zurücksiehst.
„Das ist nicht ideal gelaufen“, murmelt Elred schließlich. „Was denkst du? Werden sie aufgeben, wenn wir ihre Grenze hinter uns gelassen haben?“
„Sicherlich nicht. Dafür ist der Zirkon zu wertvoll.“ Du seufzt. Ihre Taktik ist vermutlich ebenso einfach wie effektiv. „Sie warten, bis wir schlafen müssen. Dann holen sie sich ihren Stein zurück.“
„Und … was können wir tun?“
Du wirfst dem Elfen einen müden Blick zu. Gemessen an den Maßstäben seines Volkes ist er noch jung. Er hat nur etwas mehr als die Hälfte der Sommer gesehen, die du verstreichen sahst. Trotzdem sollte er wissen, wie hoffnungslos eure Lage ist. Er ist nicht dumm.
Ihr seid erschöpft. Bis Kalynor ist es ein weiter Weg, den ihr nicht ohne Rast zurücklegen könnt. Wenn ihr euch vor Müdigkeit nicht mehr im Sattel halten könnt, werdet ihr leichte Beute sein. Natürlich könntet ihr euch an den Sattel binden und abwechselnd schlafen, aber auch das wird nicht ewig gutgehen. Wenigstens die Pferde werden irgendwann eine Pause benötigen.
Noch immer siehst du Elred schweigend an. Langsam tritt ein resignierender Ausdruck auf sein Gesicht, der beweist, dass ihm die Wahrheit schon die ganze Zeit über klar war. Jetzt könnt ihr euch nicht länger einreden, dass Karjas Opfer einen Sinn gehabt hatte.