Was wäre, wenn … Arthrax und Brenna allein im Dschungel sind?
Fortsetzung von „Gefangen im Dschungel der Kannibalen“, Kapitel 9.
Du atmest erleichtert auf, als Elreds Amsel zum Elfen zurückkehrt. Der Vogel kommt aus dem morgendlichen Nebel über den Feldern Kalynors geflogen. Ihr befindet euch auf der Rückreise von Flutheim, seid kurz vor der Grenze, und du hast viel zu lange nichts mehr von deinem Lehrling gehört.
Gut, um ehrlich zu sein, besonders lange brauchte die Antwort nicht, gemessen an der Strecke, die der schwarze Singvogel zurücklegen musste. Dennoch kam es dir wie eine halbe Ewigkeit vor. Angefüllt mit den Schreckensbildern von allem, was schiefgehen könnte, wenn Aji und die Sundergeer-Geschwister alleine unterwegs sind.
Brenna und Arthrax sind nicht eben vernünftig. Es fühlt sich an, als hättest du drei Kinder in den Dschungel geschickt. Wie sollen sie den Schöpferstein in Oylen ja Bereenga finden und entkommen, wenn kein Erwachsener bei ihnen ist? Und besonders um Aji machst du dir Sorgen. Als Magier benötigt er besondere Anleitung. Magie muss durch Disziplin und Übung in die richtigen Bahnen gelenkt werden. Selbst wenn die Schöpfersteine anders funktionieren, Aji hat auch ein normales Talent für Magie. Er wird sicherlich nicht trainieren, er hasst die anstrengenden und oft – zugegeben – langweiligen Übungen. Doch hast Sorge dafür, dass seine Ausbildung in sich zusammenbricht.
Endlich habt ihr eine Nachricht von euren Verbündeten. Du kannst kaum warten, bis Elred die Botschaft entrollt hat. Der Elf liest und runzelt die Stirn.
Ein merkwürdiger Druck breitet sich in deinem Magen aus. „Was ist?“ Du treibst Melréd näher zu Coritas, bis du dem schweigenden Elred die Nachricht aus den Fingern reißen kannst.
Nur, dass es keine Nachricht ist. Es steht nicht ein Wort auf dem Papier. Stattdessen starrst du verständnislos auf einige Kinderzeichnungen.
„Was ist das?“ Wütend drehst du die Nachricht um, doch es gibt keine Erklärung. „Finden sie das witzig?“
„Allyster, ich … ich glaube nicht, dass es witzig gemeint ist“, sagt Elred behutsam.
Auch Karja hat inzwischen aufgeschlossen. Sie wirft einen Blick auf das Papier und schnappt entsetzt nach Luft. Was haben die beiden denn? Was entgeht dir?
Die krakelige Zeichnung zeigt drei Personen, von denen eine liegt. Die anderen sind verziert mit Linien aus tropfenförmigen Punkten, die zunächst neben ihren schiefen Füßen beginnt und dann sogar die Zeichnung überschneidet.
„Was sollen wir mit dem Mist? Warum haben sie nichts geschrieben? Wo ist die Antwort auf unseren Brief?“
„Ich glaube, das konnten sie nicht. Brenna und Arthrax.“ Elred sieht dich an. „Sie können weder lesen noch schreiben.“
„Aber Aji kann doch …“ Du siehst wieder auf die Zeichnung. Die liegende Person ist kleiner als die beiden Stehenden. Als Augen hat sie zwei Xe, während die anderen Figuren Punktaugen haben, wo auch die Tropfenlinien beginnen.
Dann verstehst du. Es ist eine Darstellung der anderen Gruppe. Brenna und Arthrax sind an ihren Frisuren zu erkennen, und an den Säbeln und der Axt, die die Figuren tragen. Sie weinen. Und die liegende Person …
Das Papier zittert in deiner Hand. Wie kann das sein? Aji ist tot? Wie … wie können die beiden Krieger sich erdreisten, es dir auf diese Weise mitzuteilen? Wie konnten sie ihn sterben lassen?
Ihr habt eure Pferde längt gezügelt. Karjas leise Mitleidsbekundung hörst du schon nicht mehr, als du aus dem Sattel steigst. Dein Kopf ist plötzlich wie leergefegt. Du setzt dich auf die Erde. Hättest du es irgendwie verhindern können? Dich gegen Ajis Willen durchsetzen können?
°°°
Am nächsten Tag ist dir klar, dass du antworten musst. Noch einmal studierst du die Botschaft der Sundergeer-Geschwister. Du kannst förmlich vor dir sehen, wie sie mehr und mehr Tränen zu dem Bild hinzugefügt haben. Die einzige Sprache, in der sie ihr Bedauern aussprechen konnten. Sie wollten nicht so brutal sein, wie die Zeichnung dich getroffen hat. Aber ohne die Möglichkeit, gewählte Worte zu schreiben, mussten sie improvisieren.
Nach und nach erkennst du Details der Zeichnung. Blumen wurden um Aji gemacht. Er wurde offenbar von Speeren getroffen, die nun unter ihn gemalt sind. Er scheint darauf gebettet wie ein Held aus den alten Sagen. Du vermutest, dass es eine Nachricht ist. Er ist als Held gestorben.
Doch dir wäre es lieber gewesen, die beiden Krieger hätten auf das Kind aufgepasst! Aji war viel zu jung, um irgendein Risiko einzugehen, das zu seinem Tod führen könnte.
Für einen Moment musst du an Langfinger denken. Dieser Krieg fordert seine Opfer unter den Unschuldigen …
Doch nun müsst ihr einen Plan fassen. Die wichtigste Frage ist, wie es um die Schöpfersteine steht. Von ihnen gibt es keine Spur in der Zeichnung. Also setzt ihr drei euch zusammen und versucht, eine bildliche Frage nach den wertvollen Kristallen zu formulieren. Elred übernimmt das Zeichnen, denn er hat einen feinen Strich. Karja, die einmal mit der Verständigung unter den Jenseitsvölkern beauftragt war, hat den Vorschlag, eine Art Auswahl zu zeichnen, bei der Arthrax und Brenna nur ankreuzen müssen, was stimmt. Zunächst macht ihr eine Erklärung. Elred zeichnet eine stilisierte Version der beiden Krieger in mehreren Varianten, umringt von Steinen, die er farblich kennzeichnet. Darüber gibt es ein Bild der gleichen Krieger, die sich eine kleinere Version der Liste ansehen, dann Steine aus ihren Taschen holen und schließlich die korrekte Auswahl ankreuzen.
Wenn die beiden bloß lesen könnten! Dann wäre diese einfache Frage eine Zeile Text. Stattdessen verbraucht ihr zwei Bögen Papier, selbst als Elred so klein wie möglich malt. Mehr kann die Amsel auch gar nicht tragen. So entsendet ihr den Vogel mit dieser einzigen Frage in den Nebel über den Äckern.
Ihr konntet nicht fragen, was geschehen ist. Und auch keine Anweisungen mitschicken, denn ihr kennt die Situation der beiden noch nicht. Wenn sie Steine verloren haben, müssen sie diese zurückerlangen. Ohne die magischen Kristalle habt ihr keine Chance, diesen Krieg zu gewinnen. Wenn ihnen der Stein aus Oylen ja Bereenga noch fehlt, wird es schwieriger, abzuschätzen, ob du sie auf die Suche nach diesem schicken sollst. Es wäre der letzte Schöpferstein, abgesehen vom Aventurin der Drachen, der keine Option darstellt. Der Aventurin ist mächtig. Kalynor wird vermutlich alle Steine benötigen, um sich zur Wehr zu setzen. Doch es wäre auch ein Risiko, die beiden Krieger ohne Aji und dessen Steine loszuschicken.
Ach, Aji … Dein Herz wird schwer bei diesem Gedanken. Du hättest ihn niemals ziehen lassen sollen.
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Die Tage kriechen leer dahin. Ihr erreicht die Taverne, wo ihr auf die Rückkehr der Amsel wartet. Ohne zu wissen, was los ist, könnt ihr keine Anweisungen entsenden.
Schließlich trifft der schwarze Vogel jedoch ein. Kaum dass Elred dich an diesem Morgen geweckt hat, beugt ihr euch im Schein einer Kerze über die Antwort. Karja und Elred sind mit auf dein Zimmer gekommen.
Brenna und Arthrax haben eine Option angekreuzt, in der sie fast alle Steine haben. Arthrax den Vesuvian und den Ammonit, Brenna den Blutjaspis und den Imperial, und auch Ajis Ametrin und der Obsidianspiegel sind bei ihnen. Nur der Stein aus Oylen ja Bereenga fehlt. Doch für diesen haben die beiden eine kleine Zeichnung eingefügt. Sie zeigt eine Art Dreieck mit gezackten Kanten entlang der beiden nach oben weisenden Seiten. Eine Pyramide? Aus … Stufen? Der Stein scheint darüber zu schweben.
„Sie wissen, wo der Eilath ist!“, erkennt Elred schneller als du.
„Und sie wollen ihn holen.“ Besorgt deutet Karja auf einige Pfeile am Boden der Zeichnung, die du für nachträglich hingeschmiert gehalten hast.
„Diese Idioten!“, brummst du gereizt. Inzwischen sind sie nicht nur aufgebrochen, sie haben den Diebstahl sicherlich bereits versucht. Hoffentlich ist dabei nichts schiefgelaufen!
Sofort fertigt ihr eine neue Zeichnung an, welche die Taverne zum Teufelsochs zeigt. Es ist eine hastige Zeichnung, doch Elred fängt sie gut ein: Das Schild an seiner Aufhängung vor dem Tor, Türen und Fenster, die matschige Straße. Ihr zeichnet euch drei und dann Karja und Arthrax. Sie sollen zu euch kommen!
Mit diesem Bild schickt ihr die Amsel los und wartet angespannt darauf, dass sie zurückkehrt. Tage verstreichen. Tage, in denen du dich hilflos fühlst, und in denen du immer und immer wieder von der Erkenntnis getroffen wirst, dass Aji fort ist. Dein Groll auf die beiden Krieger wächst. Wie haben sie das zulassen können?
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Die Amsel kommt vor Arthrax und Brenna zurück. Schon als du das Papier siehst, das Elred aus dem nur schlecht verschlossenen Röhrchen zieht, wird dir klar, dass etwas schiefgegangen ist. Das Papier ist von getrockneten Blutflecken durchtränkt.
Die Zeichnung zeigt Brenna mit einer Pfeilwunde und Arthrax mit zahlreichen Schrammen. Sie kauern hinter einem Baum oder so, auf dessen anderer Seite wütende Gestalten mit Speeren herumlaufen.
Ihr antwortet mit einem Bild von euch auf den Pferden. Ihr werdet zu ihnen kommen! Jetzt kommen dir die langen Wochen in der Taverne nur noch verschwendeter vor. Wieso habt ihr bloß abgewartet? Es war doch klar, dass nichts Gutes dabei herauskommen konnte!
Ihr brecht noch in derselben Stunde auf. Du willst nicht länger untätig abwarten. Stattdessen willst du die Geschwister finden – und ihnen die Ohren abschneiden, dafür, dass sie nicht auf Aji aufgepasst haben!
Die Amsel schwingt sich vor euch in einen düsteren, grauen Himmel. Der Wind peitscht euch entgegen, während ihr über die Straße galoppiert. Ihr passiert Truppen von Soldaten mit ängstlichen Gesichtern, die jenem Krieg entgegenziehen, den ihr verhindern wollt. So schnell ihr auch reist, die Nachrichten von ersten Grenzscharmützeln überholen euch. Ihr hört von Angriffen aus allen Richtungen. Doch von Oylen ja Bereenga wisst ihr noch nichts.
Und so reit ihr weiter, in der verzweifelten Hoffnung, dass ihr euer Land noch retten könnt.
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Schließlich findet euch die Amsel an der Nordgrenze von Sonnengrund. Ihr habt Kalynor fast durchquert.
Diese Botschaft ist noch schlechter an dem Vogel befestigt. Es ist ein Wunder, dass das Blatt nicht verloren gegangen ist.
Das Papier ist zerknittert, aber nicht blutig. Dafür ist die Nachricht mehr als kryptisch.
„Was sollen uns zwei Bögen sagen?“ Ratlos drehst du das Papier hin und her. Unter dem einen Bogen liegt die Axt, unter dem anderen zwei Säbel. Heißt das, die Bögen müssen nach oben zeigen? Oder sind es Körbe mit den Waffen darin?
„Ich … glaube, es sind Gräber“, murmelt Elred tonlos.
Du hast keine Ahnung, wie er das so rasch erkannt hat. Schweigend siehst du auf die hastig gekritzelte Botschaft. „Aber … was ist passiert?“
Ihr reitet weiter. Noch einmal entsendet ihr die Amsel, doch sie kehrt ohne Botschaft zurück. Dafür kann euch der Botenvogel nun zu Arthrax und Brenna führen.
Ihr findet sie am Rand des Dschungels, Seite an Seite, bereits verwesend. Ihre Rüstungen sind zerrissen. Während die alten Wunden – jene aus der vorletzten Botschaft – bereits verheilten, haben neue Pfeile sie getroffen. Kleine Blasrohrpfeile, von denen Karja sofort sagt, dass sie vergiftet sind.
Dazu passt auch, dass Arthrax den Vesuvian in der kalten Hand hält. Er muss bis zuletzt gekämpft haben. Brenna ist eine ganze Weile länger tot. Du schluckst, als dir klar wird, dass ihr Bruder sie aufgegeben hatte, um sich länger am Leben zu erhalten. Es scheint, als hätte er Brenna mühsam in dieses Versteck gezogen, wo ihr die beiden vorgefunden habt.
Ohne die Amsel, die euch immer zu ihnen geführt hat, hättet ihr sie nie gefunden.
Schweigend betrachtet ihr die toten Krieger. Keiner von euch spricht ein Wort. Worte können die Situation nicht mehr retten. Schließlich bückst du dich und sammelst die Schöpfersteine ein, die die Gruppe bei sich hatte. Alle sind da. Arthrax hat sie treu verwahrt. Damit besteht immerhin eine geringe Chance, den Jenseitsvölkern Widerstand zu leisten – wenn ihr neue Träger für die sechs Steine der Gruppe und einen für den Eilath findet!
Ihr begrabt die beiden Krieger. Aji dagegen wird für immer im Dschungel verschollen bleiben. Wieder und wieder denkst du an seinen zornigen Blick, als ihr euch getrennt habt. Was hast du nur falsch gemacht? Wie konntest du deinen einzigen Lehrling verlieren, jenen, der das Erbe deiner Magie antreten sollte? Es ist, als hättest du deinen Sohn verloren. Denn du weißt bereits, dass du nie wieder einen Jungen ausbilden kannst. Damit wird all dein Wissen mit dir sterben.
Es ist gemeinsam mit Aji bereits im Dschungel gestorben.