CN: Tod, Gewalt, Spritzen
Leben war zerbrechlich, das hatte Joachim schon immer gewusst. Es gehörte zum Beruf eines Arztes von Zeit zu Zeit Leute sterben zu sehen. Das machte es jedoch nicht einfacher, das Mädchen vor sich liegen zu sehen in der Lache ihres eigenen Blutes. Er hatte alles versucht, aber sie hatte zu viel Blut verloren. Seine Heilmagie hatte das nicht wettmachen können. Erst hatte sie aufgehört zu atmen, dann hatte ihr Herz aufgegeben. Er hatte eine Herzmassage versucht, hatte sich dafür verflucht, keinen Defibrillator in seinem Notfallkoffer gehabt zu haben. Doch es war zu spät gewesen.
Noch immer durchschnitt das Knallen von Schüssen die Luft, während sich Victors Leute noch immer eine Schießerei mit den … nun, wer auch immer sie waren. Man hatte es ihm nicht gesagt. Alles was er wusste, war, dass die einen Leute das Bordell der Vory angegriffen hatten, dass Victor ihn hinzugerufen hatte, dass es für diese Frau – wahrscheinlich eine der Prostituierten – zu spät gewesen war.
Er lehnte sich gegen die Wand und schloss seine Augen. Das Adrenalin rauschte noch immer in seinen Adern. Er hatte alles versucht, das wusste er. Wäre er früher da gewesen … Doch er war nicht früher dagewesen. Er hätte nicht früher da sein können. Kapstadt war zu groß.
Wie lange würde er noch auf die Art weitermachen. Diese kleinen Jobs für Victor, die zwar irgendwie sein Essen bezahlten, doch nichts mit dem zu tun, wofür er studiert hatte. So dankbar er auch war …
Ein Schrei. Ein Schrei in seiner Nähe. Sofort war er auf den Beinen, nahm seinen Koffer und sah sich um. Er war in diesem Raum allein – von der Leiche der Frau abgesehen. Vorsichtig zog er seine Pfeilpistole und ging zur Tür hinüber. Er öffnete diese ein wenig und schaute hinaus, doch auf der Galerie vor der Tür war leer.
Er lauschte. Die Schüsse waren weniger geworden, kamen von unten. Der Schrei also auch?
Er hatte es Victor versprochen, dessen Leuten hier auszuhelfen. Auch wenn er sich nie sicher war, ob Victors Leute wirklich eine Wahl gehabt hatten, ob sie überhaupt hatten hier sein wollen, so war es seine Aufgabe ihr Leben zu retten – wenn möglich. So ging es wohl auch einem Feldarzt beim Militär. Immerhin war Krieg wahrscheinlich nicht viel illegaler oder verwerflicher, als das hier – jedenfalls wenn man Joachim fragte.
Also traute er sich auf die Galerie, lauschte und beschloss, dass das leise Schmerzstöhnen wirklich von unten kam, wo die Lobby des Bordells komplett zerschossen war. Da war ein umgekipptes Sofa, hinter dem zwei Leute kauerten. Joachim wusste nicht mal ob die zu den Vory oder zu den Gegnern gehörten. Als Arzt konnte es ihm eigentlich egal sein, oder? Selbst wenn er nicht darüber nachdenken wollte, was mit den Gegnern geschah, die dank ihm überlebten und als Gefangene endeten. Er vertraute Victor, machte sich aber keine Illusionen: Victor war immer noch ein Berufskrimineller. Ein Mafiaboss. Er würde seine Gefangenen nicht mit Glitzer bestreuen.
Wieder zwei Schüsse.
Joachim presste sich an die Wand und bewegte sich nun langsam in Richtung der Treppe, die natürlich an der Rückwand des Raumes nach unten führte. Von allem was er wusste wunderbar im Sichtfeld der … wer auch immer sie waren. Wahrscheinlich irgendeine lokale Gang. Wenn es um Bordelle ging, waren die Möglichkeiten eh gering: Gang oder Likedeeler. Gerade da die Likedeeler die Stadt nun einmal als ihren Turf ansahen und gerade Prostitution nicht von anderen akzeptieren wollten.
Egal. Runter. Zwei Mal atmete er tief durch, dann sprintete er die Treppe hinunter, rutschte dabei beinahe auf einem Blutfleck aus. Ha. Das würde ihn zu seinem Patienten führen. Denn tatsächlich war da eine Blutspur, die zur Bar im Eingangsbereich führte.
All diese Gedanken gingen durch seinen Kopf, während er rannte. Gerade so entging er einem Schuss, der vielleicht, vielleicht auch nicht für ihn bestimmt war. Dann warf er sich hinter die Bar und fand, was er suchte: Ein schwarzer, junger Mann – wahrscheinlich nicht älter als das Mädchen oben – saß hier und hielt seine Seite. Blut quoll zwischen seinen Fingern hervor.
„Lass mich das sehen“, forderte Joachim und warf seinen Koffer auf. „Ich bin Arzt.“
Der Mann sah ihn für eine Sekunde, die sich wie eine Ewigkeit anfühlte, an. „Zu wem gehören Sie?“, fragte er. Seine Stimme klang gepresst durch den unterdrückten Schmerz.
„Victor Dracovic hat mich hergerufen“, erwiderte Joachim.
„Vory …“, murmelte der Mann.
Also gehörte er wohl nicht zu ihnen? „Ja“, antwortete Joachim und sah ihn an.
Für einige Sekunden starrte der Mann ihn an, als würde er irgendetwas aus Joachims Gesicht lesen wollen, dann aber ließ er seine Hand sinken. „Wenn Sie mich nicht gehen lassen, dann können Sie mich gleich erschießen.“
„Ich werde Sie nicht gefangen nehmen oder sonst etwas machen. Ich bin nur Arzt“, erwiderte Joachim. „Ich kann Sie versorgen. Für alles andere sind Sie selbst verantwortlich.“
Der Mann nickte schwach. Seine Hand lag noch immer auf einer Pistole, das war Joachim durchaus aufgefallen. Was sollte er tun. Was er gesagt hatte entsprach der Wahrheit: Er war Arzt. Er würde seinen Job machen.
So schob er das Shirt des Mannes hoch, zeigte die Wunde. Der Mann hatte Glück gehabt: Es war ein glatter Durchschuss. Nun. Glück im Unglück. Wenn das Glück nicht ganz so gut gehalten hatte, hatte es Organe verletzt. Schlimmstenfalls die Niere.
Daran konnte er im Moment wenig machen. Also tat er, was in seiner Macht lag: Er reinigte die Wunde grob mit trockenem Mull, nahm dann den Desinfektionsalkohol. Damit säuberte er die Haut um den Einschuss, dann die Wunde selbst. Für einen Moment zögerte er und griff in seinen Koffer – da war noch seine Spezialität: Der Heiltrank. Nun, ein einfacher Heiltrank, der Blutungen stillte und die natürliche Heilung beschleunigte. Einige davon in kleine Spritzen gepackt füllten die eine Wand des Koffers. Er nahm eine raus.
„Keine Medikamente“, stöhnte der Mann. „Keine Betäubung.“
„Keine Betäubung“, versicherte Joachim. „Es ist nur gegen die Blutung. Ich verspreche, Sie nicht gefangen zu nehmen.“
Mit einer Hand versuchte der Mann ihn abzuwehren, gab dann aber auf und ließ es zu, dass er die Spritze in die Nähe der Wunde setzte. Das sollte die Chancen des Mannes zu überleben wenigstens erhöhen.
Joachim seufzte. Zu gerne hätte er einen Druckverband gemacht, doch war das an der Taille nicht so leicht. Deswegen beließ er es bei den simpelsten Notwendigkeiten: Er klebte die Wunde ein wenig, packte dann das größte Pflaster drauf, das in seinem Koffer zu finden war.
Er sah den Mann an. Es war erstaunlich still im Raum geworden. „Es gibt ein Fenster in der Küche. Wenn du hier lebend rauswillst, würde ich dir das empfehlen.“ Er zeigte auf die Tür die zur kleinen Küche, die wahrscheinlich wieder einmal mehr Alkohol- und Drogenlager war. „Du musst zu einem richtigen Krankenhaus, hörst du?“
Der Mann nickte, musterte ihn aber noch immer mit misstrauischem Blick.
„Geh!“, presste Joachim hervor. „Hau ab.“ Er wollte nicht für Folter oder dergleichen verantwortlich sein.
Der Mann ging auf alle Viere, verzog dabei noch immer das Gesicht vor Schmerz. Er sagte nicht „Danke“, schwieg nur, krabbelte dafür zur Tür hinüber und verschwand durch diese, während Joachim gegen die Rückseite der dankbarerweise stahlverstärkten Bartheke sank.
Er hatte hiervon wirklich genug. Als Arzt wusste er, wie zerbrechlich ein Leben war, doch die ganze Zeit darüber nachdenken, dass auch seine Freunde Leben nahmen, das wollte er nicht.
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60-Minutes-Challenge
Stichwort: Zerbrechlichkeit
Die Geschichte spielt in Kapstadt und gehört ebenfalls zu Mosaik, spielt allerdings ein paar Monate vor Beginn der Handlung.