Olga knöpfte ihren Mantel auf, als sie auf der obersten Treppenstufe ankam. Das Treppenhaus war deutlich wärmer im Vergleich zur Straße und die vier Etagen ohne Aufzug brachten einen ganz schön ins Schwitzen. Dann zog sie den Schlüssel aus der Manteltasche und hielt inne.
Kurz blickte sie über ihre Schulter. Der junge Mafiosi war zwei Stufen unter ihr stehengeblieben und hatte seine Hände in den Taschen seines eigenen Mantels vergraben. Er wirkte unsicher.
Mit einem leisen, kaum hörbaren Seufzen schloss sie die Tür auf. Sie war nicht von gestern. Sie wusste, was es hieß, wenn ein Mann fragte, ob er noch auf einen Kaffee mitkommen durfte. Der ganze Abend war so eine seltsame Angelegenheit gewesen, dank seinem Unwillen gänzlich den Vorwand eines Geschäftsessens fallen zu lassen.
Würde sie das hier wirklich tun? Sie konnte ihn wegschicken. Es blieb nur die Tatsache, dass er ihr gefiel - etwas, woran auch der Ring an seinem Finger nichts änderte.
Also öffnete sie Tür und trat in ihre relativ kleine Wohnung. Sie hatte sich entscheiden müssen ob sie eine zentrale Lage oder eine große Wohnung bevorzugte. Ihre Entscheidung war auf ersteres Gefallen. Doch es war gemütlich und die Wohnung traditionell eingerichtet.
Ein Bellen verriet ihr, dass Yefim auf sie gewartet hatte. Sie bückte sich, noch bevor sie den Fuchs sah und begrüßte ihn. „Hast du etwa kein Futter mehr?“, fragte sie ihn leise, während ein buschiger Fuchsschwanz hin und her wedelte.
Victor stand hinter ihr. „Das ist …“ Er war unsicher. „Das ist dein Familiar?“
Olga schaute ihn an. „Ja. Das ist Yefim.“ Sie richtete sich auf, schlüpfte aus dem Mantel, hängte diesen an die Garderobe und schaltete erst dann das Licht der kleinen Diele an. „Wenn Sie wollen, können Sie ihren Mantel auch aufhängen, Herr Dracovic“, meinte sie betont distanziert und verschwand in der Küche.
Auch hier musste sie das Licht einschalten, machte sich dann aber daran die Kaffeemaschine zu befüllen, während Yefim hungrig hinter ihr herwuselte. Als sie inne hielt sah er sie mit großen, bettelnden Augen an.
Sie verdrehte die Augen, wandte ihre Aufmerksamkeit jedoch dennoch wieder der Kaffeemaschine zu.
Erst als diese lief fischte sie das Futter aus dem Schrank über der Spüle und öffnete die Dose. Yefim bekam die meiste Zeit einfaches Hundefutter. Dennoch leuchteten die Augen des Fuchses auf, als er die Dose sah. Familiare waren intelligenter als normale Tiere, aber mindestens genau so fresssüchtig.
Victor war in der Tür der Küche stehengeblieben. Seine Schultern waren deutlich angespannt und ehe er sich beherrschen konnte, fuhr er sich mit der Hand durchs schwarze Haar.
„Sie wollten doch einen Kaffee, nicht war, Herr Dracovic?“, meinte Olga.
Victor schürzte seine Lippen. „Bitte. Nenn mich Victor.“
„Aber technisch gesehen stehen Sie in der Organisation über mir“, erwiderte sie spitz. Sie wartete darauf, dass er die Initiative ergriff. Das würde sie ihm sicher nicht abnehmen. Wenn er es nicht zustande brachte, sie wirklich zu umwerben … Nun, es gab andere Männer in Moskau.
Er erwiderte nichts.
„Wollen Sie sich setzen?“, fragte sie daher und nickte in Richtung des kleinen Tischs, ehe sie sich daran machte, Yefims Futternapf zu befüllen.
„Danke“, meinte er und zog sich einen Stuhl vor.
Während Yefim sich gierig über das Futter hermachte, beobachtete Olga wie die Kaffeekanne sich langsam füllte. Zugegebenermaßen war das hier ohnehin keine gute Idee. Victor war verheiratet, selbst wenn man sagte, dass es eine politische Heirat gewesen war. Aber davon abgesehen war er ebenfalls der Sohn von einem der Oligarchen, die durch Öl, Kohle und illegale Gewerbe sich das Geld angehäuft hatten. Es konnte schlecht für ihren Ruf sein, ihre Treue zur Familie in Frage stellen – selbst wenn Victor dieser ebenso seine Treue geschworen hatte.
Als der Kaffee durchgelaufen war, holte sie zwei Tassen aus dem grünlichen Hängeschrank und füllte ein. Mit den Tassen in der Hand kam sie zum Tisch zurück, setze sich.
Dankbar nahm er die Tasse, trank einen Schluck und verzog das Gesicht, als er sich fraglos die Lippen verbrannte.
Olga kam nicht umher zu lächeln, wartete selbst ein wenig, dass ihr Kaffee abkühlte.
Stille.
Die Uhr über der Küchentür tickte unglaublich laut.
Endlich räusperte sich Victor. „Olga“, setzte er an.
Sie hob eine einzelne Augenbraue und wartete, als er verstummte.
„Ich hatte dich eigentlich fragen wollen, ob du mit mir ausgehen wollen würdest.“
„Wir waren heute aus, oder?“, erwiderte sie.
Er verzog das Gesicht, seufzte aber dann. „Nun, ich dachte eher daran, den Vorwand des Geschäftsessens ganz zu lassen …“
„Wenn es kein Geschäftsessen sein soll, dann …“
„Ein Date“, beantwortete er die unvollendete Frage. „Ich wollte dich Fragen, ob du an einem Date mit mir interessiert seist.“
Ganz unwillkürlich wanderte ihr Blick zu seiner linken Hand, die er unter dem Tisch verschwinden ließ.
„Sie sind verheiratet, Herr Dracovic“, meinte sie.
„Und du weißt genau so gut wie alle anderen, dass es keine Wahl war, die ich getroffen habe.“
„Das weiß ich wohl.“ Sie schaute ihn herausfordernd an, was ihn jedoch nur in ein weiteres Schweigen verfallen ließ.
Er atmete durch. „Was ich sagen will“, meinte er schließlich, „ist, dass ich dich mag. Und ich habe zumindest die Hoffnung, dass du nicht unähnlich über mich denkst.“
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Fingerübung
Stichwort: Mantel
Victor ist ein Nebencharakter in Mosaik.
Olga ist außerdem Hauptcharakter in meiner kleinen russischen Urban Fantasy Geschichte Die Geister der Unterwelt.
https://belletristica.com/de/books/21305-die-geister-der-unterwelt