„Soll ich dir einen Notarzt rufen?“, hörte Herbert seinen alten Freund Frank vor sich feixen.
Herbert, seines Zeichens Anwalt, war diese viele Bewegung nicht mehr gewohnt. Und das rächte sich nun. „Lach du nur.“
Frank blieb stehen und wartete auf seinen Begleiter. „Du brauchst einfach mehr Training, das ist alles.“
Herbert seufzte, lehnte sich an einen Baum am Wegesrand und wischte sich mit einem Arm den Schweiß von der Stirn. Er hasste es, zugeben zu müssen, dass Frank Recht hatte. Aber er schwitzte wie eine Sau auf dem Grill, das war eine Tatsache. Was aber nach diesem Gewaltmarsch, welcher sein Freund „Spaziergang“ nannte, auch kein Wunder war.
Er schaute zum wolkenlosen Himmel hinauf. Die Sonne brannte ohne Gnade auf ihn herab und wenn er es nicht besser gewusst hätte, hätte er schwören können, dass der leichte Duft von gegrilltem Steak in der Luft lag.
„Du musstest mit dem Ausflug ja auch bis zum Sommer warten, was?“, grummelte Herbert und erntete ein verschmitztes Grinsen von seinem sportlichen Freund.
„Was denn? Im Winter hat mein Hotel geschlossen. Dann ist es hier auch nicht halb so schön.“
„Schön?“ Herbert schaute sich um. Sie standen auf einem Wald- und Wiesenweg, vereinzelt wuchsen schmale Bäume in die Höhe, umgeben von Sträuchern und wildem Gras. Hinter den Zäunen erstreckten sich zu beiden Seiten viele Hektar an Land. Felder, Grünflächen, Wälder soweit das Auge reichte. Und das alles gehörte seinem Freund. „Ja, okay. Du hast Recht. Es ist schon schön. Ich glaube, ich bin einfach nur mit mir selbst unzufrieden.“
„Na komm, wir sind fast am See. Da kannst du dich dann ausruhen. Jetzt sollte das Wasser so um die zwanzig Grad haben.“
„Schwimmen. Eines der wenigen Sachen, die ich am Sommer gut finde.“ Herbert löste sich von dem stützenden Baumstamm und ging langsam mit seinem Freund weiter. Frank reichte ihm eine Wasserflasche, die er dankend annahm.
„Sag mal“, fragte Herbert seinen Freund zwischen zwei Schluck aus der Flasche, „wie schaffst du es eigentlich, so in Form zu bleiben? Du hast so viel Land und ein Hotel zu verwalten. Wie machst du das?“
„Ich schaufle mir die Zeit dafür frei“, antwortete Frank und nahm ebenfalls einen Schluck Wasser. „Und ich habe gute Mitarbeiter, denen ich alles anvertrauen kann. Sie arbeiten wirklich sehr fleißig und zuverlässig, und ich bin froh über jeden einzelnen.“
„Du zahlst ja auch ziemlich gut, hm?“
Frank lachte herzhaft auf. „Zu viel im Vergleich zum normalem Lohn, denke ich. Ich bin kein Geschäftsmann, war ich noch nie. Aber es läuft gut, und ich möchte, dass meine Mitarbeiter auch etwas davon haben. Das ist nur fair. Immerhin ist es ja auch zum großen Teil ihr Verdienst, dass es nach dem Tod meiner Eltern so reibungslos weiterlaufen konnte.“
„Du warst schon immer ein Weltverbesserer.“ Herbert grinste, während er die Worte aussprach, denn er freute sich, dass sein Freund so ein guter Mensch war. Auch, wenn er manchmal etwas naiv und träumerisch wirkte.
„So bin ich. Und niemand wird das je ändern können, glaube ich. Aber du verbesserst die Welt doch auch, nicht wahr? Anwalt. Ich hatte mit vielen gerechnet, aber dass du ein Rechtsverdreher wirst, damit nicht.“
„Ich kann davon leben und verhindern, dass unschuldige Menschen zu Unrecht Strafen erhalten. Nun ja, die meiste Zeit jedenfalls.“
„Ich habe gehört, dass deine Kanzlei einen ziemlich guten Ruf genießt?“
„Kann man so sagen, ja. Ich habe ein paar Präzedenzfälle geschaffen, aber es geht mir nicht um Ruhm oder Ansehen. Auch, wenn Ansehen wichtig für den Beruf ist. Je mehr gewonnene Fälle, desto mehr neue Kunden.“
„Immer gut, einen Anwalt zum Freund zu haben“, scherzte Frank.
„Oh, ich würde dir jetzt ja meine Visitenkarte geben, aber die hab ich im Hotel gelassen.“
Während sie sich unterhielten kamen sie schlussendlich an ihrem Ziel an. Vor den beiden Freunden erstreckte sich eine große Wiese. Saftiges, grünes Gras wuchs aus dem Boden, zusammen mit vielen verschiedenen, bunten Blumen. Ein farbenfrohes Bild ergab sich dadurch, mit einem stillen, großen See im Hintergrund. Es war keine Menschenseele zu sehen. Nur die Bienen, die Herbert auf dem Weg zum Wasser entdeckte, waren die einzigen, weiteren Gäste. Sie flogen von einer Blüte zur nächsten und gingen ungestört ihrer Arbeit nach, während ein paar Vögel ihre Kreise am Himmel zogen.
„Das hier wollte ich mit dir genießen“, sagte Frank und stellte seinen Rucksack auf den Boden. „Nächste Woche beginnt die Saison, die Zimmer sind ausgebucht und damit beginnen auch wieder die Ausflüge. Dann habe ich kaum noch Zeit, den Sommer richtig zu genießen.“
Herbert setzte sich zusammen mit seinem Freund ins Gras und ließ den Blick über das Wasser schweifen. Das andere Ende des Ufers war kaum zu erkennen.
„Aber als du mir vor vier Monaten von deinem Urlaub erzählt hattest“, fuhr Frank fort, „wusste ich, dass wir uns mal wiedersehen mussten. Und ich dachte, dies wäre der beste Zeitpunkt dafür.“
„Ich bin froh, dass es geklappt hat.“ Herbert störte sich nicht mehr an der Hitze, die unablässig versuchte, ihn zu grillen, oder an den Allergien, die sich langsam zu regen schienen. Er hatte den Sommer noch nie gemocht, so schön er für andere auch sein mochte. Jetzt aber genoss einfach die Zeit, die er mit seinem ältesten und besten Freund in der Natur verbringen konnte. „Ehrlich.“
„Und? Das Wasser wartet, wollen wir? Für danach hab ich auch noch ein paar Schnittchen mit dabei.“
Herbert grinste. Sein Freund wusste ganz genau, dass er zu Schnittchen niemals nein sagen konnte.