Erik Walther stand vor seinem Haus und wartete auf die versprochene Abholung.
Immer wieder schaute er sich die Gewinnbenachrichtigung des Gewinnspiels an, bei dem er gar nicht mitgemacht hatte.
Hat sich da einfach nur jemand einen Scherz erlaubt? Er seufzte.
Für gewöhnlich mochte Erik keine Überraschungen. Struktur war für ihn das wichtigste im Leben und Überraschungen waren das genaue Gegenteil.
Trotzdem hatte etwas an diesem Schreiben seine Neugierde geweckt, sodass er sich entschieden hatte, alle anstehenden Termine abzusagen.
Jetzt werde ich ja herausfinden, wer dahinter steckt.
Auch der Aufforderung für angemessene Kleidung war er nachgekommen. Doch da er nicht einmal wusste, wohin es ihn heute Abend verschlagen würde, hatte er sich für einen normalen Anzug mit passender Krawatte entschieden. Damit hatte er noch keine schlechten Erfahrungen gemacht.
Als er ein Auto in seine Straße einbiegen hörte, schaute er auf und sah einen schwarzen Rolls-Royce Ghost vorfahren. Den würde er sofort wiedererkennen, denn dieses Modell besaß er ebenfalls als Dienstwagen.
Der Wagen hielt direkt vor ihm. Der Fahrer, ein junger Mann, der höchstens Mitte Zwanzig sein konnte und dessen strohblonde Haare seine strahlend blauen Augen betonten, stieg aus dem Wagen und grüßte Erik freundlich.
„Sind Sie Mister Erik Walther?“, fragte der Jungspund und trat an ihn heran.
„Genau der bin ich. Sie sind hier, um mich abzuholen?“
„Richtig, steigen Sie doch bitte ein.“
„Verzeihen Sie meine Vorsicht“, bremste Erik den jungen Mann etwas aus, „aber wo genau geht es denn nun eigentlich hin?“
„Das ist noch ein Geheimnis.“ Der Fahrer lächelte ihn freundlich an. „Doch Sie können sich sicher sein, dass niemand Ihnen etwas böses möchte.“
Erik schluckte.
An diese Möglichkeit habe ich ja noch gar nicht gedacht!
„Wissen Sie, vielleicht ist das doch keine so gute Idee“, zögerte Erik. „Ich weiß ja gar nicht, wer Sie sind, oder was mich am Ziel erwartet.“
„Jemand sehr wichtiges, der mit Ihnen sprechen möchte“, antwortete der Fahrer flink und deutete auf die offene Tür. „Ich verspreche Ihnen, nichts und niemand wird Ihnen etwas antun.“
Das flaue Gefühl in Eriks Magen drohte sich auszubreiten, doch während seiner Karriere in der Politik hatte er viele gefährliche Treffen in Krisengebieten überstanden.
Dann werde ich das auch noch überleben.
Er straffte den Sitz seines Anzugs und stieg in den Wagen.
Der Fahrer schloss die Tür und stieg vorne ein, der Motor wurde angelassen.
Erik fand sich zwischen zwei Männern wieder, die wie ausgebildete Personenschützer wirkten. Beide waren stämmig gebaut, hatten unauffällige Anzüge an und Sonnenbrillen auf den Nasen, die ihre Augen verdeckten. Auch die Münder zeigen keine Gefühlsregung.
„Ähm, guten Abend“, versuchte Erik es mit einer normalen Begrüßung, doch die beiden Männer schienen ihn einfach zu ignorieren.
Der Fahrer setzte den Wagen in Bewegung. Die Fahrt selbst verlief sehr ruhig und führte Erik aus der Stadt hinaus.
„Von Ihnen wird mir sicher niemand sagen, wohin es denn nun gehen soll?“, wagte Erik einen erneuten Kommunikationsversuch.
Doch erneut wurde seine Frage nur mit verdrossenem Schweigen beantwortet.
„Habe ich mir gedacht. Dann muss ich mich wohl überraschen lassen, was?“
Er lachte unsicher und spürte das wallende Gefühl der Verunsicherung weiterhin in seinen Eingeweiden.
Vielleicht war das alles doch keine so gute Idee. Warum sagt mir niemand, wo es hingeht? Und warum sitzen diese beiden Schränke an meiner Seite?
Stumm blickte er aus dem Fenster und sah die Bäume einer Allee vorbeiziehen. Ihm war klar, dass es nun eh zu spät war. Mehr als Abwarten konnte er nun nicht mehr.
Nach ungefähr einer Stunde Fahrt bog der Wagen von der Hauptstraße ab und fuhr über einen holprigen Seitenweg.
Erik musste sich nicht einmal festhalten, denn die beiden Männer kesselten ihn so sehr ein, dass er vom Rumpeln des Autos nicht viel mitbekam.
Dann kam der Wagen plötzlich zum Stehen. Der Fahrer stieg aus, ging um den Wagen herum und öffnete die Hintertür.
„Wir sind am Ziel. Sie können nun aussteigen“, sagte er freundlich.
„Dann wünsche ich Ihnen noch einen schönen Abend“, verabschiedete Erik sich von den beiden stummen Männern, doch entgegen seiner Vermutung stiegen diese ebenfalls aus. „Oh, Sie kommen wohl doch mit.“
„Wir sind für Ihre Sicherheit verantwortlich bis sie Ihr Ziel erreicht haben“, klärte der junge Fahrer Erik auf. „Wie versprochen, Sie müssen sich keine Sorgen machen.“
„Würden Sie sich keine Sorgen machen an meiner Stelle? Ich habe an diesem Ausschreiben nicht einmal teilgenommen und habe gewonnen. Das ist schon mehr als kurios.“
„Da haben Sie wohl Recht. Aber ich denke, Sie werden ihre Meinung bald ändern. Dort vorne müssen wir hinein.“ Er deutete auf etwas, das für Erik wie eine Art verfallene Ruine aussah.
„Nicht sehr vertrauenswürdig“, flüsterte er leise zu sich selbst.
Trotzdem folgte er dem Fahrer, der nun die Führung übernommen hatte.
Was habe ich denn für eine andere Wahl?
Zusammen betraten sie die Ruine. Der Fahrer führte ihn und die beiden Bewacher zielsicher durch die wirren Gänge, bis sie vor einer Art Tor anhielten, welches ebenfalls von zwei Männern bewacht wurde, welche den beiden an Eriks Seite erschreckend ähnelten.
Kommen die aus einer Familie?
Der Fahrer nickte den beiden Männern am Tor zu. Daraufhin stellte sich einer der beiden vor den Durchgang und klopfte dreimal gegen das mit Eisen verstärkte Holz.
Auf der anderen Seite des Tors hörte Erik, wie sich Mechanismen in Gang setzten und zu arbeiten begannen. Dann schwangen die Torflügel auf.
Erik stockte der Atem. Er hatte mit so vielen gerechnet, was sich hinter diesem Tor hätte befinden können. Ein Kerker vielleicht, in dem er verschwinden sollte, während einer seiner politischen Gegner seinen Posten übernahm.
Aber mit dem, was sich ihm nun als Anblick bot, hatte er nicht gerechnet.
Vor sich sah er eine Art riesigen, hell erleuchteten Festsaal.
Der Raum war beeindruckend groß und hoch. So hoch sogar, dass er die Decke nur erkennen konnte, wenn er seinen Kopf in den Nacken legte. An dieser Decke waren kräftige Ketten befestigt, die imposante Kronleuchter hielten, welche dem Raum zusammen mit Kerzen und Fackeln an den Wänden ein warmes Licht spendeten.
In der Mitte des Saals stand ein langer Tisch, auf dem eine Art Bankett aufbereitet stand. Daneben standen kleinere Tische, an welchen sich Wesen wie aus einer anderen Welt tummelten.
Doch bevor er sich einen genaueren Eindruck bilden konnte, wurde er vom Fahrer sanft in den Raum gestoßen. Fanfaren dröhnten plötzlich von irgendwo aus dem Saal.
„Es tritt ein: Ehrengast Erik Walther aus der Menschenwelt!“, verkündete ein Mann, den Erik beinahe gar nicht neben sich wahrgenommen hatte, da dieser gerade einmal so groß wie ein Kind war.
Dann spürte er, wie sich alle Blicke im Saal auf ihn richteten.
W-Was wird hier gespielt? Was soll das ganze?
Angst breitete sich ihn Erik aus und war im Begriff, seinen Geist zu vernebeln.
Schnell drehte er sich um und wollte aus dem Saal fliehen, doch das Tor war verschwunden. Hinter ihm war lediglich eine nackte Mauer aus festem Stein.
„Ah, unser Ehrengast ist eingetroffen“, rief eine Frau von der anderen Seit des Saals aus, ihre Stimmte wurde mit einem leisen Echo durch den Raum getragen. „Bitte, Sir Walther, setzt Euch doch zu mir.“
Zwei Gestalten in Ritterrüstungen stellten sich neben Erik, fassten jeweils einen seiner Arme und führten ihn durch die Reihen von Wesen, welche er nur aus Sagen und Märchen kannte.
Schließlich stand er vor einer Frau, die ebenso groß war wie er und ein ein faszinierendes, violettes Kleid trug, welches bis auf den Boden reichte. Ihre schwarzen Haare hatte sie hochgesteckt, sodass ihre spitzen Ohren offen zu sehen waren. Die hohen Wangenknochen ließen das das Gesicht der Frau um den Mund mit den vollen, rot geschminkten Lippen herum spitz wirken. Ihre grünen Augen fixierten seine blauen mit einem durchdringenden Blick.
„Das muss gerade sehr viel für Euch sein, Sir Walther.“ Ihre Stimme klang sanft und doch sehr fest und sicher. „Bitte, setzt Euch.“ Sie deutete auf einen der Stühle neben sich.
„Was ist hier los? Was soll das Ganze?“, fragte Erik mit zittriger Stimme. Er hatte schon vieles erlebt, aber so etwas noch nicht.
„Ich werde es Euch erklären, in Ruhe natürlich. Bitte setzt Euch erst einmal und trinkt etwas.“
Die Ritter, die Erik durch den Raum geleitet hatten, waren inzwischen wieder verschwunden. Auf ein Zeichen der Königin hin setzte wieder leise Musik ein, die aufgehört hatte zu spielen, als er den Raum betreten hatte.
Erik setzte sich, doch seine Nerven lagen blank. Er fühlte sich absolut fehl am Platz, nicht nur wegen seiner Kleiderwahl, sondern auch, weil er anscheinend der einzige Mensch im Raum war.
Vielleicht ist das alles nur ein böser Traum?
Er kniff sind leicht in seinen Arm, doch der kurze Schmerz war real.
„Das ist kein Traum, Sir Walther“, sagte die Frau neben ihm und kicherte leise. „Auch wenn ihr mir vorstellen kann, dass das wie einer auch Euch wirken muss.“
„Wer sind Sie? Was ist das alles? Wo bin ich hier?“ Die Fragen sprudelten nur so aus Erik heraus. Er wollte Klarheit haben, was man ihm für einen Streich spielte.
Die Frau goss etwas Wasser in einen kleinen Kelch und reichte ihn ihrem Gast. „Ich bin Awena, die Königin der Elfen. Und Ihr seid in Arbolon, der Heimat der Elfen, Sir Walther.“
„Elfen“, hauchte Walther und schaute auf das Wasser in seinem Kelch.
„Es ist kein Gift. Wir wollen Euch nichts tun, das versichere ich Euch. Ihr seid hier, weil Ihr uns hoffentlich helfen könnt.“
Vorsichtig nahm Erik einen Schluck. Es war tatsächlich nur Wasser. „Und wie sollte ich Ihnen helfen können?“, wollte er wissen, nachdem er den Becher geleert hatte. Sein Hals fühlte sich furchtbar trocken an.
Awena schien das zu ahnen und goss noch etwas Wasser nach. „Seht, Sir Walther, unsere Welt existiert schon seit tausenden von Jahren. Einst war sie durch Kriege zwischen den Rassen gespalten, doch nun, nach vielen Bemühungen meinerseits und jener meiner Vorfahren, haben wir alle es geschafft, Frieden zu schließen und zusammen zu leben.“
Während Erik der Königin zuhörte, beobachtete er kleine bunte Lichtpunkte, die vor seiner Nase schwebten.
„Beachtet sie gar nicht“, unterbrach Awena ihre Ausführungen. „Feen sind sehr verspielt, wie kleine Kinder.“
„Verstehe“, antwortete Erik wenig begeistert.
Er auch immer sich hier einen Spaß mit mir erlaubt, er hat sich viel Mühe gegeben.
„Jedenfalls haben unsere Kundschafter vor zirka einhundert Jahren ein Portal in eine andere Welt entdeckt. In Eure Welt, Sir Walther. Seht, hier gibt es keine Menschen, und bei Euch gibt es keine Wesen wie uns. Keine Magie. Doch alle Versuche, in Eurer Welt Kontakt aufzunehmen, sind gescheitert.“
„Weshalb?“, fragte Walther und schaute die Königin direkt an.
„Ich weiß es nicht. Doch auf keine unserer Anfragen wurde jemals geantwortet, egal wie wir es versucht haben. Doch dann haben wir Euch gefunden, Sir Walther.“
„Mich? Wie soll ich Ihnen denn helfen? Ich bin nur ein Politiker und dazu nicht mal ein großer. Mein Einfluss reicht höchstens dazu aus, mein Distrikt zu bewältigen.“
„Wir haben Euch beobachtet“, gestand Awena. „Und wir haben gesehen, was Ihr für Eure Untergeben leistet.“
„Wähler“, korrigierte Erik. „Ich habe keine Untergeben. Diese Menschen sind Wähler, die mich in mein Amt erhoben haben. Und für diese Menschen stehe ich ein.“
„Und genau deshalb erhoffen wir uns, dass Ihr auch für uns einstehen könnt und unser Repräsentant werden könnt.“
Erik hätte beinahe den Schluck Wasser ausgespuckt, den er gerade genommen hatte. „Ich soll Sie … repräsentieren? Aber wie?“
Langsam habe ich das Gefühl, dass das doch alles kein schlechter Scherz ist. Aber das würde bedeuten, dass ich wirklich gerade ein einem Saal sitze, zusammen mit Sagengestalten aus Märchen.
„Ihr, Sir Walther, könnt unser Sprachrohr sein.“ Sie schaute ihn bittend an. „Sprecht für uns. Führt Eure Rasse heran an den Gedanken, dass es uns gibt. Und dass wir auf den ersten, friedlichen Kontakt mit ihr warten. So wie jetzt gerade.“
Erik wusste nicht, was er sagen sollte. Die ganzen Eindrücke und die Erkenntnis, dass das, was er gerade erlebte, Wirklichkeit waren, setzten ihm mehr zu als er zugeben wollte.
Und während er mit einer echten Elfenkönigin sprach, feierten um sie herum zahlreiche andere Wesen eine Art Party.
„Deshalb haben wir auch dieses Gewinnspiel erfunden“, fuhr die Königin fort. „Wir haben herausgefunden, dass Eure Rasse für Glücksspiel empfänglich ist. Daher dachten wir, dass das der einfachste Weg wäre, Euch überhaupt erreichen und hier her bringen zu können. Und ich bin froh, dass es geklappt hat.“
„Verzeihen Sie“, sagte Erik nur und fuhr sich mit einer Hand durch die Haare. Er fühlte sich ziemlich hilflos und überfordert. „Das ist alles gerade ein wenig viel für mich.“
„Das habe ich erwartet“, antwortete die Königin. „Vielleicht nehmt Ihr ja mein Angebot an und bleibt für eine Nacht unser Gast. Morgen früh werde ich Euch alle Fragen beantworten und Euch zeigen, wie wir hier leben. Danach könnt Ihr frei entscheiden, ob Ihr uns helfen möchtet, Sir Walther.“
Er schaute der Königin direkt in die Augen. „Und wenn ich mich dagegen entscheide?“
„Das wäre wirklich bedauerlich für uns. Doch wir würden auch diese Entscheidung akzeptieren und Euch nach Hause bringen.“
Ich bin jetzt sowieso schon hier, also kann es nicht schaden, das Angebot anzunehmen.
„In Ordnung. Ich werde für eine Nacht hierbleiben und morgen anhören, was Sie zu sagen haben. Danach werde ich eine Entscheidung treffen.“
„Wundervoll!“ Die Königin stand auf und winkte eine Gestalt heran, die für Erik wie eine Art Kobold aussah. „Grena hier wird Euch den Weg in Euer Quartier zeigen und ein heißes Bad für Euch einlassen. Solltet Ihr sonst noch etwas brauchen, wird sie es für Euch besorgen.“
Unsicher, wie er sich verabschieden sollte, reichte er der Königin aus Gewohnheit die Hand.
„Was bedeutet das?“, wollte die Königin wissen und schaute irritiert auf seine Hand.
„Oh, verzeihen Sie. Ich wollte mich nur gebührlich verabschieden. Dafür reicht man sich in meiner Welt einfach die Hand.“
Sie griff seine Hand und schüttelte sie einmal. „Ich muss wohl viel Neues lernen“, gestand sie mit einem Lächeln. „Ich sehe Euch dann morgen zum Frühstück. Grena wird Euch rechtzeitig wecken.“
Dann folgte Erik Grena zu seinem Quartier. Seine Gedanken kreisten unruhig und versuchten das, was er erlebt hatte, zu verarbeiten. Nur bei einer Sache war er sich sicher, nämlich dass der nächste Tag mehr als aufregend sein wird.