Ich holte meine Tasche aus dem Auto und schloss mit einem erleichtertem Seufzen die Klappe des Kofferraums. Den ganzen Tag war ich mit meinen Freunden auf einer Geburtstagsparty gewesen. Nicht, dass mich das gestört hätte. Wir hatten einen sehr schönen Tag, doch nach einer gewissen Zeit, mit anderen Leuten um mich herum, bevorzugte ich doch die gemütliche Ruhe. Die Zeit, wenn ich mit meinen Gedanken alleine war.
Genießen konnte ich das am besten, wenn ich mich am Wasser aufhielt. Also hatte ich mich dazu entschlossen, einen kleinen Ausflug zu meinem Lieblingssee zu machen. Der See selbst lag ziemlich gut versteckt hinter einem Wald, die meisten Leute kannten den Platz gar nicht. Das war mir auch nur recht so. Wie gesagt, alleine sein mit meinen Gedanken und so.
Es war noch recht früh am Abend und die Sonne stand noch relativ hoch am Himmel, schließlich war es ja Hochsommer. Dementsprechend warm war es auch, aber die Wärme hatte mir noch nie etwas ausgemacht.
Ich war ziemlich tief in meinen Gedanken versunken und hatte schon die Hälfte des Weges zum Wasser zurückgelegt, als ich nichts ahnend gegen ein gelbes Absperrband lief, welches zwischen zwei großen, kräftigen Baumstämmen gespannt war und den Weg zum Wasser versperrte.
Ich verdrehte die Augen mit einem Ächzen und suchte nach einem Hinweis, weshalb mich dieses Band von meinem See fernhalten wollte. Da fand ich schließlich ein kleines Schild an einem Holzpfahl, der mir vorher nie aufgefallen war. Daher schloss ich darauf, dass man ihn erst vor kurzem in den Boden gerammt haben musste. Und das nicht gerade ordentlich, so schief, wie der da in die Höhe ragte.
„GESPERRT AUFGRUND DER ENTGIFTUNG DES WASSERS“, oder etwas in der Art, stand dort auf dem Schild.
Was für ein Blödsinn, dachte ich mir und tauchte unter dem Absperrband hindurch. Was für eine Entgiftung sollte das sein? Dieser See galt als sauber, das hatte ich extra beim dem dafür zuständigen Amt nachgefragt. Zu der Zeit hatten sie gerade erst frische Proben genommen, das war noch gar nicht so lange her. Das Amt hatte mir daraufhin bestätigt, dass alles in Ordnung sei. Also setzte ich meinen Weg zum Wasser fort.
Als ich das Ende des Walds erreichte und zwischen den Bäumen hervortrat, durchfuhr mich dann der Schreck.
Auf der ganzen Wiese, welche sich nach dem Waldstück bergab bis zum Wasser herunter erstreckte, standen verschiedenste Einsatzfahrzeuge verstreut. Da bekam ich es mit der Angst zu tun, denn mit rechten Dingen konnte das ja nicht zugehen. Seit wann brauchte man Polizei, Feuerwehr und Notärzte, wenn man einen See entgiften wollte?
Also versteckte ich mich schnell hinter einem der Bäume, holte mein Handy heraus und begann damit, das ganze Schauspiel zu filmen.
Merkwürdig erschienen mir dabei auch die schwarzen Vans, die zwischen den anderen Fahrzeugen standen und dadurch irgendwie fehl am Platz wirkten. Aus den Vans stiegen Männer in Anzügen, die sich zwischen den Polizisten und Rettungskräften bewegten. Irritiert folgte ich mit der Kamera den Blicken, die die Menschen auf der Wiese austauschten.
Und da erst sah ich sie; vier riesige Kristalle – ich glaube, es waren Prismen – die über dem Wasser schwebten und langsam um sich selbst kreisten und sich dabei im Kreis drehten. Ähnlich wie die Erde um die Sonne, nur dass der Mittelpunkt anscheinend etwas im Wasser war.
Was zum Teufel ist hier nur los, fragte ich mich selbst, weil mein Verstand nicht verarbeiten konnte, was meine Augen dort unten sahen. Ich wusste einfach nur, dass aus meinem gemütlichen Abend am See nichts mehr werden würde.
Das ganze verschlimmerte sich noch, als aus den Kristallen plötzlich eine Art Faden herausschoss und sich in die Leute bohrte, die am Wasser standen. Was genau passierte konnte ich jedoch nicht sehen, weil ich so viel Angst bekam, dass ich mich mit dem Rücken an den Baum drückte und einfach nur hoffte, dass man mich nicht dort gesehen hatte. Was auch immer da vorging, es kam mir wie ein Alptraum vor. Und ich hatte mich bis jetzt noch nicht getraut, die Aufzeichnung auf meinem Handy anzuschauen. Denn die Hand mit dem Handy hatte ich weiterhin herausgehalten und gefilmt, obwohl ich in diesem Moment gar nicht wusste, ob ich das Handy richtig hielt.
Als mein Puls sich beruhigt hatte, klammerte ich mich an den Baumstamm und wagte noch einen letzten Blick zum Wasser. Doch was ich dann mit ansehen musste, entzog sich meinem Verständnis komplett. Es muss sich wahrscheinlich verrückt anhören, doch ich sah, wie eine Art Kristallmenschen – anders kann ich es leider nicht erklären – aus dem Wasser stieg. Von den Rettungskräften und den Männern in den Anzügen fehlte aber jede Spur. Lediglich diese kristallenen Wesen standen am Ufer des Sees und schienen nach etwas Ausschau zu halten.
„Und dann bin ich direkt zu Ihnen gekommen“, schloss George seine Schilderung des Vorfalls ab. Mit einem Tuch, welches er von einer freundlichen Empfangsdame bekommen hatte, wischte er sich den Schweiß von der Stirn.
Er war sofort nach dem Vorfall zur Redaktion der lokalen Zeitung gelaufen und saß nun im Büro des Chefredakteurs persönlich. Die Schalusien waren halb geschlossen, sodass nur das Licht der Bürolampen für etwas Helligkeit im Raum sorgte.
„Ich bin einfach nur weggelaufen und wusste nicht wohin. Die Geschichte würde mir doch sonst niemand glauben.“
Michael Worth, Chefredakteur der örtlichen Zeitung, nickte verständnisvoll, während er sich ein paar Notizen aufschrieb. „Sie haben etwas von einer Handyaufnahme gesagt. Haben Sie die dabei?“
„Natürlich!“ George kramte in seiner Jackentasche herum und reichte dem Chefredakteur das Handy mit dem geöffneten Video. „Ich möchte mich nochmals dafür bedanken, dass Sie sich meine Geschichte überhaupt anhören. Ich wusste nicht, was ich sonst hätte tun sollen.“
Michael rückte seine Brille zurecht und schaute interessiert auf das Handydisplay. „Es war genau die richtige Entscheidung, hierher zu kommen“, sagte er schließlich mit einem freundlichen Lächeln auf den Lippen und legte das Handy zur Seite.
„Sie glauben mir also?“ George spürte Hoffnung in sich aufkeimen. Immerhin hatte er Beweise und er hatte das Funkeln in den Augen des Chefredakteurs gesehen, als dieser sich das Video angeschaut hatte.
Wahrscheinlich ist das seine Vorfreude auf die nächste Titelstory, schlussfolgerte George für sich selbst. Ihm konnte das egal sein. Hauptsache, jemand würde diesem Spuk auf den Grund gehen.
Michael nahm den Hörer seines Telefons, wählte eine Nummer und wartete einen Moment. „Ja, Worth hier. Sie können jetzt reinkommen.“
„Und?“, hakte George nervös nach. „Werden Sie es drucken?“
„Was? Die Story von einem Verrückten, der in mein Büro platzte und etwas von Kristallwesen faselte?“ Der Chefredakteur lachte gehässig. „Machen Sie sich doch nicht lächerlich!“
„Wie bitte?!“ George sprang empört auf. „Aber ich habe Beweise! Sie haben es selbst gesehen!“
In diesem Moment wurde die Tür zum Büro geöffnet und zwei Männer betraten den Raum, deren Statur man am besten mit der eines Gorillas vergleichen konnte. Ohne zu zögern, stellten die beiden Männer sich hinter George und hielten ihn an beiden Armen fest.
„Was soll das?“, protestierte George und versuchte sich zu befreien. „Was haben Sie vor?“
Michael Worth kam, mit dem Handy in der Hand, hinter seinem Schreibtisch hervor und stellte sich, mit einem gewinnenden Grinsen auf den Lippen, vor George. „Sie, Sohn eines Menschen, sind Zeuge des Erwachens geworden.“
„Des Erwachens? Was faseln Sie denn da?“
„Lassen Sie es mich demonstrieren.“ Michael nahm eine Fernbedienung von seinem Schreibtisch und ließ die Schalusien hochfahren.
Sonnenlicht flutete den Raum, doch nicht davon wurde George, der sich noch immer im Griff der beiden Gorillas wandte, geblendet. Das Licht wurde von der Haut des Chefredakteurs gebrochen und spiegelte sich in den Farben des Regenbogens wieder. Michaels Gesicht war komplett verschwunden, und seine Haut bestand ganz aus Kristall.
„Sehen Sie es jetzt?“, höhnte das gesichtslose Wesen. „Sie haben gesehen, was Sie nicht mehr aufhalten könnten. Wir Kristalline werden uns wieder erheben und zurückfordern, was einst uns gehörte. Bevor die Menschen uns in das Wasser verbannten und sich unser Land nahmen.“
George Körper war mittlerweile starr vor Schreck. Sein Verstand war nicht in der Lage, den Anblick, der sich ihm bot, zu verarbeiten. Die Worte des Wesens klangen hohl in seinem Kopf wieder, als würde es über Gedanken mit ihm sprechen.
Das Kristallwesen schloss die Schalusien wieder und vor George stand der unschuldig dreinblickende Michael Worth. „Es tut mir Leid, dass ich Ihnen nicht anders helfen kann. Aber die Einrichtung, in welche diese beiden freundlichen Herren Sie bringen werden, wird sich hervorragend um Sie kümmern.“
George erwachte aus seiner Starre und wollte gerade um Hilfe rufen, als ihm ein Knebel in den Mund gesteckt wurde. Ein schwarzer Sack wurde über seinen Kopf gezogen, etwas kratziges über seine Arme gestreift. Dann wurden sie unsanft nach hinten gezogen.
Erfolglos versuchte er sich zu wehren und zu schreien, doch die Zwangsjacke und der Knebel verhinderten jeden Laut und jede Bewegung.
Das letzte, was er unscharf durch den Stoff des Sacks sah, war der Chefredakteur, der sich wieder hinter seinen Schreibtisch setzte. „Schafft den Menschen fort. Dorthin, wo auch die anderen sind. Und dann lasst sie verschwinden. Unser großer Tag ist gekommen, und es muss noch viel vorbereitet werden.“
Grobe Hände packten George an den Schultern und führten ihn ab.
Wo auch immer sie mich hinbringen, ich werde einen Ausweg finden. Und dann werde diese Wesen aufhalten, was immer auch dafür nötig sein wird!
Aber er wusste, dass dort nur die Verzweiflung aus ihm sprach.