Eines nicht ganz so wunderbaren Montagmorgens, wachte Mouna auf und erschrack sofort. Ein leises Gefühl von "Wo bin ich" und "Was tue ich hier" schlich sich von hinten an und überfiel sie mit einem eiskalten Schauer. "Nicht schon wieder" dachte sie sich.
Es war jeden Montag das gleiche. Sie erwachte in ihrem Bett und fühlte sich, als wäre sie nicht dort, wo sie sein sollte. Die Märchenbücher, die sie am Vorabend gelesen hatte, lagen kreuz und quer in ihrem Zimmer und in ihrem Bett verteilt. Die traumhaft samtig-roten Einbände passten so wunderbar zu ihrer bunten Tapete. Sie liebte dieses Zimmer, es war so schön winzig und voller Sachen, die ihr gehörten. Hier fühlte sie sich am befreitesten. Das kleine Bett voller wolkengleicher Kissen, ihre scheinbar unbedeutenden Zeichnungen an der Wand über dem Schreibtisch. Sie sahen hübsch aus, die kleinen feinen Bleistiftlinien auf weißem Papier, feinsäuberlich aneinandergereiht. "Die sehen hübsch aus", das bekam sie immer zu hören, wenn sie jemanden in ihr Zimmer ließ. Und "Danke" antwortete sie jedes Mal. Das dämpfte ihre Freude über ihr eigenes kleines Reich ein wenig. Deshalb hatte sie auch nicht gern Besuch, zumindest nicht in ihrem Zimmer. Aber wenn die Familie da war, hatte sie zumeist keine andere Wahl. Vor allem ihre Großmutter, Rosi, meinte immer: "Die Bilder sehen ja so düster aus". Aber was wusste Oma Rosi schon. Für sie war die Welt immer schön, immer toll, immer rosig. Auch wenn sie es nicht war. Denn Oma Rosi hatte auch schon viel erlebt. Zahllose Enttäuschungen, viele Bemühungen, die umsonst waren und sogar ihren eigenen Sohn musste sie begraben. Mouna war dabei und sah, wie Oma Rosi so schrecklich weinen musste. Und für einen kurzen Moment tat es ihr leid, ihre Großmutter so kaputt zu sehen. Und es tat ihr leid, dass sie immer so schlecht von ihr gedacht hatte. Aber Oma Rosi war doch selbst Schuld. Nicht an den Enttäuschungen und nicht an dem Tod, sondern an ihrer überwältigenden Traurigkeit. Sie hätte sich doch ihren Problemen stellen, sie konfrontieren und sie klären können. Aber dazu war sie nicht in der Lage und das tat Mouna noch viel mehr leid. Denn nun lachte Oma Rosi wieder und war glücklich und das Leben war schön und toll und rosig. Bis sie wieder allein war, da war sich Mouna sicher. Denn dann kam die Trauer und für Oma Rosi war das alles zu viel, denn sie schaffte es nicht allein. Aber warum auch irgendwem zeigen, wie es einem wirklich ging? Warum auch nach Hilfe fragen? Es könnte ja dadurch alles besser werden. Aber der Stolz siegte. Er siegte immer.
Mouna dachte oft darüber nach. Über Oma Rosi, über ihre eigenen Zeichnungen, über ihre Familie, die weitestgehend aus zersplitterten Einzelteilen bestand. Über ihre Mutter, die arme, die immer und immer wieder verlassen wurde. Und inmitten dieses Gedankens wurde sie unterbrochen.
"Mouna komm, du musst zur Schule! Ich habe dir auch Frühstück gemacht." schrie es von unten hinauf. Und Mouna lief die Treppe hinunter. Nur ein paar Stufen lang fühlte sie sich wie in einem großen Schloss. Sie schreitete über die Mamorstufen runter in das goldbehangene Foyer, als würde sie ein pompöses Ballkleid mit der längsten Schleppe der Welt über den roten Teppich tragen. Sie richtete sich auf, das Kinn weit oben gehalten, der Rücken gerade, die Füße sanft voreinander gestellt, damit sie nicht fiel. Wie eine Prinzessin sah sie aus und die ganze Welt schien ihr zu Füßen zu liegen. Und mit der nächsten Stufe der knarrenden Holztreppe wurde sie aus ihrem Tagtraum gerissen. Sie verfiel wieder in die übliche Haltung, des kleinen schüchternen Mädchens und nahm die letzten Stufen bis in die Küche, wo ihre Mutter schon auf sie wartete.