"Willkommen im Bus Richtung Hölle" begrüßte der Busfahrer sie mit einem breiten freundlichen Grinsen im Gesicht, als Mouna einstieg. So eine aufheiternde Begrüßung hatte sie schon lang nicht mehr gehört und so entlockte sie sich selbst ein zaghaftes Lächeln. Sie setzte sich auf ihren gewohnten Platz direkt hinter dem Busfahrer. Ein Einzelplatz, an dem sie ganz ungestört aus dem Fenster sehen und träumen konnte.
Die Bäume und Häuser, die Straßen und die Autos, an denen sie vorbeifuhren, verschwommen in der Geschwindigkeit zu einem malerischen Bild. Als würde sie in einer Kunstgalerie auf ein lebendiges Naturportrait blicken. Das Bild sah ganz anders aus als die Straßen, die sie jeden Tag vor sich hatte. Plötzlich wirkte alles viel ruhiger und der Bus formte sich zu einem kleinen, standhaften Gebäude. Sie befand sich nun in einem kleinen Haus, vollständig aus Holzbalken. Mouna spürte den beruhigenden Stillstand um sie herum. Als sie aus dem Fenster des Hauses sah, erblickte sie den wunderschönen weitläufigen Wald aus dunkeln Bäumen, die ab und zu einen Sonnenstrahl an sich hinunter gleiten ließen, den sie zuvor nur auf dem Gemälde betrachtet hatte. Sie ging vom Fenster zur Tür, drückte die Klinke runter und machte einen Schritt hinaus, auf die schmale, hölzerne Terrasse. Noch ein Schritt und sie berührte den moosigen Waldboden mit ihren nackten, empfindlichen Füßen. Es war weich, wie Wolle und kitzelte ein wenig, wirkte aber so schön kalt und beruhigend. Sie drehte sich, um das Haus von außen betrachten zu können. Da fiel ihr auf, dass das Fenster, aus dem sie hinaussah, überhaupt keine Scheibe hatte. Und auch sonst keines. Selbst die Tür war aus massiven, runden Holzbalken gebaut. Als sie das Holz berührte, fühlte es sich feucht an und ein wenig glitschig. Ihre Mutter hätte hier wahrscheinlich sofort angefangen zu putzen. Aber Mouna genoss es, mal etwas anderes zu spüren, als nur die kalten metallischen oder lackierten Oberflächen des kahlen Gebäudes, das sie ihr Zuhause nannte.
Durch die Fenster konnte sie nun auch das Innere des Holzhauses deutlicher erkennen. Als hätte es keine Möbel geben, als sie noch darin stand, sah sie nun einen alten verrußten Ofen, der sich bis nach oben durch das Spitzdach zog und zu einem Schornstein aus Backsteinen wurde. Alles andere war aus Holz: die Stühle, der kleine Tisch und sogar das Bett. Es sah gemütlich aus, wie alles eingerichtet war, als hätte sich jemand nur diesem Haus hingegeben. Als wäre jemand von weit her gekommen und hätte sein ganzes Leben nur darauf gewartet, solch ein Haus mit all seiner Liebe bewohnen zu können und wäre dann hier friedlich verstorben und hätte es ihr hinterlassen. So sehr Zuhause hatte sich Mouna noch nie gefühlt. Und doch zog es sie in diesem Moment hinaus in den Wald. Mit aufrechter Haltung sprangt sie von einer moosbedeckten Fläche zur nächsten und drehte sich dabei um sich selbst und ließ sich auf den nassen Boden fallen. Sie schloss die Augen, atmete den frischen Duft des Waldes ein und fing an zu lächeln. Es war kein verschüchtertes Klein-Mädchen-Lächeln, wie sie es dem Busfahrer gezeigt hatte. Es war ein herzliches Lächeln, fast schon ein Grinsen. Dass sie zu so etwas in der Lage war, machte sie noch so viel glücklicher, als sie ohnehin schon war. Sie öffnete die Augen und erblickte hinter sich eine Lichtung mitten zwischen den dunklen Bäumen, die ihr so mystisch erschienen. Sie stand auf und die Lichtung, die ihr für einen kurzen Moment am Himmel zu sein schien, rückte näher, während sie darauf zulief. Kichernd sprang sie über jeden Baumstamm, jeden Ast, der sie auf ihrer Reise zu begleiten schien. Und plötzlich hielt sie inne. Sie stand direkt auf der Lichtung, um sie herum der große mystische Wald. Sie sah nach links und rechts, nach vorne und nach hinten. Um sie herum in jeder Himmelsrichtung ein Stein mit einem Symbol darauf, das sie noch nie zuvor gesehen hatte. Sie blickte an sich hinunter und wo zuvor die blaue Jeans und der graue Pullover war, befand sich nun ein weißes langes Kleid aus Leinen. Die Träger des Kleides waren schmal und lagen völlig unbeschwert auf ihren Schultern. Sie blickte nach oben und spürte nun auch die Sonnenstrahlen auf der Haut, die ihr wehendes Kleid zum leuchten brachten.
Sie fühlte sich ein wenig wie die Prinzessin, die sie Zuhause auf der Treppe für so kurze Zeit war, nur ohne den Zwang. Ohne das schwere Ballkleid und ohne den roten Teppich, der ihr zeigte wo sie hingehen müsste, wo sie hingehörte. Sie konnte gerade gehen, ohne die schweren goldenen Kronleuchter über dem riesigen leeren Foyer.
Und mit einem Ruck wurde sie wieder aus ihrem Tagtraum gerissen. Sie spürte ihre Stirn schmerzen, als wäre sie gegen eine Glastür gelaufen. Als sie wieder aus dem Fenster sah, fand sie kein Naturbild in einer Galerie wieder. Stattdessen ragte ein riesiges graues Gebäude vor ihr empor und stellte alle Bäume, kleine Häuser und sogar die große Grünfläche vor ihr in den Schatten, als hätte sich die Sonne selbst verdunkelt, um sich vor dem bevorstehenden Unheil zu schützen.
Mouna atmete einmal tief durch, nahm ihre Tasche in die Hand und umklammerte sie mit einem festen Griff, stieg aus dem Bus und ging mit gesenktem Kopf in Richtung des großen dunkeln Höllentors mit der Aufschrift "Schule".