"Okay, ich weiß das war ziemlich schockierend, aber könnte mir vielleicht doch jemand helfen? Allein kann ich das Fenster nämlich nicht auf den Boden stellen." sprach eine laute Stimme in Mounas Kopf, doch sie fand nicht den Weg durch ihre Stimmbänder und ihren Mund nach draußen, sodass alle ihre Gedanken hören konnten. Stattdessen sahen nur ihre Augen ein wenig verzweifelt drein und wanderten zu ihrem Mathelehrer, der nach wie vor und wie alle anderen scheinbar zu Eis gefroren vor der Klasse stand.
Dann, endlich begann er zu ihr zu eilen.
"Carmen, Markus setzt euch woanders hin, ich muss an das Fenster herankommen." sagte er mit gefasster aber sehr ernster Stimme.
Die beiden, die Herrn Scharo bisher noch den Weg zur anderen Seite des Fensters versperrten, bewegten sich langsam und benommen von ihren Plätzen weg. Er nahm Mouna das Fenster aus der Hand und stellte es vorsichtig auf dem Boden ab, wobei das dumpfe Geräusch des Aufpralls den ganzen Raum einnahm.
Erst jetzt spürte Mouna, wie sehr ihre Hände wehtaten. Das massive alte Holzfenster war nicht so leicht, wie es von außen aussah. Es war doppelt verglast und das splittrige Eichenholz hatte sich tief in ihre Hände gebohrt.
Sie sah, wie sich ihre Handfläche mit kleinen roten Tröpfchen überzog.
"Jack, begleite Mouna doch bitte einmal ins Krankenzimmer. Und alle anderen bleiben hier und beruhigen sich erstmal." sagte die ernste Stimme, scheinbar überfordert mit der Situation, denn es musste sich niemand beruhigen. Die Stille im ganzen Raum war so intensiv, dass man das Ausströmen der trockenen Heizungsluft tatsächlich hören konnte.
Mouna war nicht verwundert, dass Jack gebeten wurde, sie zu begleiten, denn er war einer der besten Schüler, den ihre Schule jemals gehabt hat, das stand fest und sogar niedergeschrieben in der Schülerzeitung. Er war jedoch nicht zu verwechseln mit einem Musterschüler, denn so streberhaft, schleimig und unnatürlich freundlich hatte ihn Mouna nie empfunden. Er war einfach er selbst auf eine ganz eigene Art und Weise, wirkte immer cool und unnahbar, aber doch irgendwie herzlich, je nach Situation.
"Geht es dir gut?"
"Oh Jack, wenn du wüsstest." dachte Mouna nur und sagte "Ja klar, mir ist ja nichts passiert."
Ende des Gesprächs.
Mouna hätte eher sowas erwartet, wie "Ich habe dich noch nie so schnell in Bewegung gesehen" oder "Woher hast du gewusst, dass das Fenster runterfällt" oder "Warum solltest du ausgerechnet Carmen retten?"
Aber nein, die letzte Frage war keine, die sie von Jack erwartete. Vielmehr fragte sich Mouna selbst, warum sie das getan hatte.
Am Krankenzimmer angekommen, klopfte sie an der Tür, drehte sich dabei zu Jack um und meinte mit gesenktem Blick: "Du kannst jetzt wieder hochgehen."
"Schon gut, ich warte hier, bis du fertig bist und bringe dich zurück." sagte er recht kühl und solide, aber mit einer leichten Freundlichkeit in der Stimme.
Das war wirklich nett von ihm, aber angesichts der Tatsache, dass in ihrer Hand nur ein paar Splitter steckten, völlig überflüssig. Vielleicht wollte er aber auch nur möglichst lange dem Unterricht fern bleiben, denn... wer würde das nicht wollen, wenn sich die Möglichkeit bieten würde?
"Oh Kindchen, was hast du denn gemacht?" Frau Zerl, kam Mouna entgegengestürzt, als sie ihr mit der leicht blutverschmierten Hand von der Tür aus zuwinkte.
"Ich habe mir nur ein paar Splitter zugezogen." sagte Mouna nüchtern.
"Wie kann hier sowas nur passieren, wir sind doch eine Schule!" rief Frau Zerl empört mit ihrer schrillen, singenden Stimme.
"Scheinbar nicht die neueste, wenn die Fenster schon aus ihren Rahmen fallen" dachte Mouna. Aber es schien Frau Zerl nicht wirklich zu interessieren, was genau passiert war. Je weniger sie wusste, desto weniger hatte sie zu tun und jemand anderes würde sich drum kümmern. Wer könnte es ihr verübeln.. immerhin spielte sie als stellvertretende Schulleiterin Krankenschwester für die undankbaren Kinder und war auch sonst eher das Mädchen für alles. Und wer hätte erahnen können, dass mitten am Tag die Schule auseinander fällt?
"Herrje die sitzen aber ganz schön tief. Nun gut, Kindchen. Augen zu und durch, ich verspreche ich bin auch ganz vorsichtig."
Sie war nicht vorsichtig. Und es tat höllisch weh, was man da wohl ziemlich gut an Mounas Gesicht hätte erkennen können, wenn Frau Zerl einen Moment nach oben geschaut hätte, während sie einen Splitter nach dem anderen aus Mounas Hand zog.
Während sie den inneren Drang einen Schrei loszulassen wieder zurück in ihr Unterbewusstsein schob, sah Mouna aus dem kleinen Dachfenster hinauf zum Mond. Er stand immer noch dort, wo er auch vor dem Drama stand und blickte silbern und beruhigend auf alles unter ihm. Erwartungsvoll und doch voller Ruhe, sodass sich Mounas Herzschlag allmählich verlangsamte und sie den Schmerz kaum noch spürte, bis es endlich vorbei war.
"Siehst du, das war doch gar nicht so schlimm."
"Dankeschön" sagte Mouna ganz ehrlich.
Zurück auf dem Schulflur hatte Mouna schon fast vergessen, dass Jack noch auf sie wartete, bis sie fast in ihn hineinrannte. Sie war versunken in ihren Gedanken und er gerade dabei sich eine Zigarette zu drehen. Glücklicherweise gab es nicht wirklich einen Zusammenprall, sonst wäre Jack wohl aus der Haut gefahren, bei dem ganzen teuren Taback, der dann auf dem Boden gelandet wäre.
"Zigaretten?" fragte Mouna verdutzt, da sie nicht erwartete, dass Jack illegalerweise rauchte und erst recht nicht in der Schule.
"Sieht so aus, oder? Man bekommt eben nicht viele Gelegenheiten sich eine zu drehen. Zuhause meine Eltern, hier die ganzen Lehrer.. man ist ständig unter Beobachtung."
"Warum rauchst dus dann überhaupt?"
"Ich glaube die Frage lautet eher, warum du es nicht machst. Immerhin raucht doch jeder. Es wäre also viel zu aufwändig jeden einzelnen zu fragen, was seine Gründe dafür sind, wo man doch die Minderheit fragen könnte, warum sie keine Raucher sind."
"Eine ziemlich lange Antwort für jemanden, der es nur aus Gruppenzwang tut." sagte Mouna und konnte fast nicht glauben, dass sie tatsächlich ihren Gedanken ausgesprochen hatte.
"Ich habe nicht gesagt, dass ich es nur aus Gruppenzwang tue. Das hast du nur geschlussfolgert."
Hätte sie ihre Gedanken mal für sich behalten. Das war definitiv nicht die Antwort, die sie erwartet hätte. Und nun wusste sie nicht mehr, was sie sagen sollte.
Auf dem Weg zurück zum Mathematikraum wurde kein Wort mehr gesprochen. Nicht nur Mouna und Jack waren völlig still, auch in den Schulfluren um sie herum herrschte absolute Ruhe, schließlich war jetzt gerade niemand unterwegs. Weder Schüler noch Lehrer noch sonst irgendwer. Mouna spürte diese unangenehme Spannung, die ihr durch alle Gliedmaßen zog. Wenn sie doch nur den Mut hätte, etwas zu sagen.
Als sie nun endlich das oberste Geschoss erreichte, war Mouna wahnsinnig erleichtert. Nicht nur weil diese seltsame Nicht-Unterhaltung mit Jack endlich vorüber war. Sondern auch, weil sie die ganzen Schüler aus dem Mathematikraum strömen sah. Das konnte nur eins bedeuten: die Stunde war vorbei. Aber nicht nur das.
Als Herr Scharo auf sie zugesteuert kam, berichtete er niedergeschlagen, dass der heutige Schultag abgebrochen wurde, damit die Schüler sich von dem Schock erholen konnten.
Jack entfernte sich sofort von Mouna, ohne ein Wort zu sagen. „Wahrscheinlich muss er schnell vor die Tür, um seine Zigarette zu rauchen“ dachte Mouna grimmig, denn Raucher konnte sie am aller wenigsten leiden.
“Oder er ist einfach froh, dass er keinen Unterricht hat, wie alle anderen“ war ihre nächste Erklärung, die ihr irgendwie zu simpel für jemanden wie Jack erschien.
Doch er wirkte auf sie nicht, wie ein Raucher, den sie von Anfang an grundlos verabscheut hätte. Irgendetwas gab ihr bei ihm das Gefühl, er sei nicht so wie die anderen. Doch sie wusste nicht, was es war, das ihr dieses Gefühl gab oder was an ihm anders war.
“Fühlt sich so an, als würde ich darüber noch eine ganze Weile nachdenken“ dachte Mouna während sie ihr Tasche packte und nach Hause ging.