»DU BIST DER Freund, von dem Ace gesprochen hat?«, fragte Sophie, als sie sich dem Allosaurus vorsichtig näherte.
Der Fleischfresser, dessen Art ursprünglich im Oberjura lebte, schien ein Jungtier zu sein. Normalerweise maß ein ausgewachsener Allosaurier um die acht bis neun Meter Länge. Einige Exemplare sogar mehr. Auch die charakteristischen Höcker über seinen Augen waren noch nicht besonders ausgeprägt und sein Körperbau vergleichsweise zierlich. Dennoch überragte er die Mädchen ein ganzes Stück und die messerscharfen Zähne und Klauen wirkten alles andere als harmlos. Im Gegensatz zu Scotty, dem T-rex, hatte dieser Dinosaurier kaum Spuren von Federn am Körper. Nur einige wenige, mehr Filamente oder sogenannte Protofedern, zierten seinen Rücken, Teile des Halses und des Schwanzes. Sie passten sich dem gemusterten Grünton seiner reptilienartigen Haut an, die im Licht dezent schimmerte.
»Ich wusste nicht, dass Allosaurier sich derart gut tarnen können, obwohl sie so groß sind«, kam Celine aus dem Staunen über das vermeintlich plötzliche Verschwinden des Räubers nicht heraus.
»Versuchst du dich wieder bei mir einzuschleimen, hm?«, stellte der Saurier eine provokante Gegenfrage.
»Das war meine Schwester, die dich mit Scotty verglichen hat. Ich bin schon immer eher Team Allosaurus gewesen«, bemühte sich die Elfjährige um Schadensbegrenzung. »Dennoch bin ich überrascht … ähm, positiv überrascht, endlich einen Echten zu sehen. Du bist aber noch nicht ausgewachsen, oder? Ich dachte Allos sind 12 Meter lang.«
»Celine, du wolltest dich doch bei ihm katzbuckeln. So wird das nichts«, kicherte Sophie, als sie bemerkte, dass der Fleischfresser die bernsteinfarbenen Augen verdrehte.
»Schon gut, ist ja richtig«, gab dieser schließlich nach. »Ich bin noch ein ganz jünger Hüpfer. Dreieinhalb Jahre, laut eurer Rechnung. Dafür bin ich aber ziemlich groß, meint ihr nicht? Und zwölf Meter erreichen nur wenige Allosaurier. Die gehören jedoch einer anderen Art an.«
»Dann wollen wir nichts gesagt haben!«, gaben ihm die Schwestern gleichzeitig recht.
»Hast in deinem Alter schon ganz schön was mitgemacht, wie ich sehe«, stellte Celine fest und zeigte mit dem rechten Zeigefinger auf einige Narben an seinem Körper und im Gesicht.
Der Allosaurus schwieg kurz und atmete tief ein, bevor er antwortete. »Nun, ich bin eben sehr mutig und lege mich gern mit anderen Dinos an. Mich erschreckt nichts«, brüstete sich der Jungspund schließlich und reckte den großen Kopf in die Luft.
»Du meinst, wenn du dich nicht gerade hinter einem Baumfarn versteckst?«, stichelte Sophie erneut an seinem großen Ego.
»Noch kann ich das. Wenn ich älter bin, verändert sich meine Farbe. Das Grün geht in einen Braunton über und dann muss ich im offenen Gelände jagen«, er senkte seine Stimme, als er das erzählte, schüttelte gleich darauf aber seinen Kopf und verbesserte sich augenblicklich: »Was mir natürlich nichts ausmacht. Ich kann es kaum erwarten, diesen Kükenlook endlich loszuwerden und als das angesehen zu werden, was ich bin – ein gnadenloser Jäger, der die größten Sauropoden zur Strecke bringt, jawohl!«
»Dürften wir erfahren, wie dieser unerschrockene und gnadenlose Jäger heißt?«, erkundigte sich Sophie grinsend nach dem Namen des Tunichtguts.
»Wer?«, fragte dieser panisch zurück und blickte sich nervös um. »Ach, ich? Ja, sicher. Al. Ich heiße Al.«
»Sag bloß?! Du meinst nicht wirklich, dass du der berühmte Big Al bist, oder?«, rief Celine daraufhin erstaunt auf und klatschte in die Hände.
»Der berühmte Big Al? Hatten wir uns nicht darauf geeinigt, dass ich noch eine ganze Menge zu wachsen habe?«, schmunzelte das Reptil. »Wer sagt denn, dass ich Big Al bin? Ich habe das nie zuvor gehört. Aber es schmeichelt mir. Es sei denn, es kommt von diesem Einfaltspinsel Scotty. Dann ist es seine neue Masche, sich über mich lustig zu machen. O- oder ha- hat etwa, nein, sagt nicht, dass Hermes mich so nennt! Das wäre wirklich big!« Al blähte aufgeregt seine Nüstern, riss die Augen weit auf und schwang seinen langen Schwanz unruhig von links nach rechts.
»Ja, also – nein. Von Hermes stammt das nicht«, gestand Celine und hatte ein wenig Bedenken, dass sie ihren neugewonnen Freund damit kränken könnte.
»Mir sagt das ebenfalls nichts«, gab sich auch Sophie ahnungslos, woher ihre Schwester diese Bezeichnung hatte.
»Das stand letztens in der Fernsehzeitung!«, löste Celine endlich das Rätsel, konnte Al damit freilich nicht zufriedenstellen.
»Fernseh- was?«, fragte er und schaute das Mädchen schief an.
»Das ist etwas, womit wir Menschen uns Nachrichten übermitteln. Über ein Ding, in dem Sachen zu sehen sind, auch Dinosaurier!«
»Menschen? Das ist eure Art? Ich hatte ganz vergessen, zu fragen, wer oder was ihr überhaupt seid, stelle ich fest.« Al verengte seine Augen und schien nachzudenken, während er ins Leere guckte.
Sophie erklärte dem Allosaurier mithilfe einer kleinen Vorstellrunde und Kurzzusammenfassung ihrer bisherigen Erlebnisse den aktuellen Stand der Dinge. Dieser nickte daraufhin aufgeregt.
»Das gibt es ja nicht! Das bedeutet, dass alles, was Hermes uns als Küken erzählt hat, wahr ist! Diese Wilhelmine, die kein Dinosaurier war und aus einer anderen Welt kam, um uns zu helfen, hat es allen Ernstes gegeben und ihr seid ihre Enkel? Das muss ich erst mal sacken lassen.«
»Am besten du erzählst dieser Wunderblume nichts weiter darüber, was in der Fernsehzeitung stand«, flüsterte Sophie ihrer Schwester ins Ohr. »Er macht da nur ein Riesen-Fass auf. Mich würde eher interessieren, was ihm Hermes berichtet hat. Al?«, wand sich die Vierzehnjährige wieder dem Dinosaurier zu. »Ist Hermes so etwas wie dein Lehrer gewesen?«
»Hermes? Oh ja!«, beendete das Tier glücklicherweise sein ehrfürchtiges Schweigen und erzählte den Schwestern ein paar interessante Details aus seiner Kindheit.
Die Sonne stand mittlerweile hoch über dem Wald und die Luft wurde wärmer. Der Gesang der Vögel verstummte fast und machte unbekannten Rufen Platz, die aus allen Himmelsrichtungen kamen. Den Mädchen liefen die Schweißperlen über die Stirn, während sie den Erzählungen ihres neuen Freundes lauschten.
»Dann werdet ihr quasi eingesammelt und in eine Art Schule für besonders begabte Dino-Kinder gebracht? Das ist ja wie bei Harry Potter! Ich kann mir Hermes sehr gut als eine Art Dumbledore vorstellen«, kicherte Sophie, nachdem Al seinen letzten Satz beendet hatte.
»Und wer sind jetzt wieder Harry … ähm, und Dunkelmoor?«, fragte sich Al, doch Celine überzeugte ihn, dass diese Namen nicht von Belang seien.
»Ihr seid komische Tierchen«, zog Al ein weiteres Resümee, bevor er weitererzählte. »Jeder junge Dinosaurier, der sich als Wieder-Geborener herausstellt, bekommt eines Tages Besuch von einem kleinen Pterosaurier. Bei mir war es ein Peteinosaurus namens Pietro. Ich hatte zeitlebens den Eindruck, dass ich anders war, als meine Geschwister. Ich konnte nicht allein mit ihnen und unserer Mutter kommunizieren, sondern ebenso mit anderen Dinosauriern.« Al pausierte kurz und schloss die Augen, bevor er weitersprach. »Es hat mir damals das Herz gebrochen, als sie einen jungen Dryosaurus erbeuteten, mit dem ich zuvor Freundschaft geschlossen hatte. Sie lachten mich logischerweise aus. Es ist für die Ersten unverständlich, wie es uns geht und ich war froh, als Hermes mich zu sich rief und ich dort auf Gleichgesinnte traf. Ich hatte ab diesem Zeitpunkt echte Freunde verschiedener Saurierarten, konnte allerdings kein gewöhnliches Allosaurus-Leben mehr führen, das stand fest.«
Celine und Sophie sahen sich wortlos an. Ihnen wurde klar, dass dieser Witzbold auch eine ernste und nachdenkliche Seite hatte.
»Weil ihr eine Aufgabe habt?«, hakte Celine nach und widerstand dem Drang, diesem Raubsaurier tröstend die Hand zu tätscheln.
»Korrekt. Wir erfuhren nicht nur, was uns von den anderen Reptilien unterschied, sondern darüber hinaus, dass wir diese Gabe nutzen sollten, um uns und unsere Welt zu schützen«, bejahte Al Celines Frage.
»Vor Discordia und ihren Plänen, euch auszurotten, um diese Seite des Flusses für sich zu beanspruchen«, ergänzte Sophie und ihr Blick verdunkelte sich.
Al nickte stumm.
»Warum fresst ihr großen Fleischfresser diese Biester nicht alle auf? Dann währt ihr das Problem los. Und gleichzeitig gesättigt bis zum St. Nimmerleinstag«, schlug Celine in ihrem jugendlichen Leichtsinn vor.
»So einfach ist das nicht«, schüttelte Al mit dem Kopf. »Wir können sie nicht alle aufessen. Sicher kam auch mir das ein oder andere Mal dieser Gedanke. Es waren nicht wenige, die ich mir bereits einverleiben konnte. Dennoch ist es schier unmöglich, sie alle zu fressen. Frisst du einen, kommen drei Weitere rüber und zerstören unsere Gelege und Brutplätze. Man könnte meinen, Discordia hätte den Begriff Rache erfunden. Und sie ist skrupellos.«
»Wir haben vorhin einen ihrer Anhänger gesehen. Er hatte ein Ei bei sich, welches er aus dem Nest von Diana und Ace gestohlen hat«, erzählte Sophie und erkannte in Als Augen Trauer über diese Nachricht.
»Ace und ich waren etwa gleich alt, als ich zu Hermes kam und ihn dort traf«, begann der Allosaurier zu sprechen. »Ich war damals verständlicherweise bereits um Längen größer als er. Ace seinerseits allerdings beinahe erwachsen. Trotzdem wurden wir ratzfatz gute Freunde. Wir ergänzten uns. Es tut mir sehr leid, dass er und Diana so viel Pech mit ihrer Brut haben. Ich halte mich immer in ihrer Nähe auf, um die anderen Allosaurier und Ceratosaurier von ihrem Revier fernzuhalten. Gegen Discordias Bande ist trotz alledem kein Kraut gewachsen.«
»Hätten wir bloß irgendetwas unternommen, um den Eierdieb zu fangen«, jammerte Celine der verpassten Chance hinterher, Discordia einen Denkzettel zu verpassen.
»Wir wussten es nicht besser. Diana kann uns das nicht vorwerfen«, tröstete Sophie ihre Schwester und legte ihren Arm um deren Schultern.
»Ich weiß nicht, ob das eine gute Idee ist …«, begann Al laut zu überlegen. »Ich habe vorhin ein verlassenen Velociraptor-Nest gesehen. Vielleicht ist Diana bereit, sich um die Eier zu kümmern.«
»Diana scheint mir nicht besonders verträglich zu sein, wenn ich ehrlich bin.« Sophie rümpfte beim Gedanken an die aufbrausende Raptorin die Nase. »Falls wir ihr ein Kuckucksei unterjubeln, wird sie das sicher nicht besänftigen.«
»Ich kenne Diana schon lange. Sie ist wahrlich sehr anstrengend, aber einen Versuch ist es wert, denke ich. Jedes Leben zählt, in Zeiten wie diesen. Das Nest ist dort hinten bei den Koniferen. Kommt ihr mit?«
Al ging, ohne auf eine Antwort zu warten voraus und verschwand, dank seiner Tarnfarben nach wenigen Schritten im dichten Urwald.