»DU BIST JA voll rot im Gesicht, Celine.«
Die Schwestern waren noch völlig aus der Puste, als sie in Sichtweite der Bahnhaltestelle kamen.
Der Weg bis dorthin, der eigentlich nur ein paar Straßenzüge von ihrem Zuhause aus umfasst, zog sich schier unendlich und sie fühlten sich durch das andauernde Umblicken wie Schwerverbrecher oder Geheimagenten. So richtig wollten Celine und Sophie der Aussage, Hinz und Kunz seien für alle anderen Menschen unsichtbar, nicht trauen. Was würde passieren, wenn ihnen plötzlich eine Horde Kinder entgegenkämen, die sich sogleich auf die beiden kleinen Raubsaurier stürzten? Oder wenn die Polizei einen illegalen Tierhandel mit irgendwelchen exotischen Vögeln vermutete?
Sie waren sich nicht einmal sicher, ob irgendjemand die zwei als Dinosaurier erkennen würde, denn sie entsprachen nicht dem gängigen Bild dieser urzeitlichen Reptilien, welches zu dieser Zeit verbreitet war.
Hinz und Kunz selbst schienen jedoch ihre helle Freude an diesem Ausflug zu haben. Neugierig blickten sie sich um und zuckten bei jeder noch so minimalen Bewegung zusammen, machten kurz darauf aber lange Hälse, um zu schauen, wer oder was der Verursacher des Geräuschs war. Besonders interessierten sie sich natürlich für die Vögel, die hin und wieder auf dem Boden landeten und kleine Insekten oder Essenskrümel auflasen, die die Menschen verloren hatten.
Sophie hatte irgendwann die Idee gehabt einen Zweig zu nehmen, an dem einige vertrocknete Blätter hingen und diesen als Ablenkung zu nutzen. Durch das Wedeln mit dem Zweig und das Rascheln der Blätter hatte sie es geschafft, die Aufmerksamkeit der Compies auf sich zu lenken. Denn schon bald hörten die ruhigen Seitenstraßen ihres Viertels auf und die Hauptverkehrsadern der Stadt begannen und mit ihnen ein Anstieg an menschlicher Präsenz.
Dann sollte sich zeigen, ob die Dinos tatsächlich unsichtbar waren.
»Was denkst du denn bitte, wie du aussiehst?«, antwortete Celine auf die freche Anmerkung ihrer Schwester über ihr rotes Gesicht. »Du wedelst mit nem vertrockneten Ast in der Gegend rum, das ist auch nicht besser. Man geht schließlich nicht jeden Tag mit einem Dinosaurier spazieren. Aber sollen wir sie nicht lieber auf den Arm nehmen? Ich habe Angst, die vielen Autos, Menschen und die Straßenbahn könnten sie verschrecken.«
Sophie nickte stumm und überlegte. Sie würde ihrer Schwester zu gerne zustimmen, unter anderen Bedingungen jedenfalls. Wenn sie einen Welpen dabei gehabt hätten, dann wäre Celines Vorschlag sicher die beste Idee gewesen, ihn sicher durch diese Situation zu führen. Aber mit zwei Dinosauriern?
»Ja – nein. Celine, ich weiß, du meinst es gut, aber guck mal: Wenn die zwei wirklich unsichtbar für alle anderen sind, denkst du nicht, dass wir dann erst recht sonderbar für die Menschen aussehen, wenn wir sie herumtragen?«, sprach Sophie ihre Bedenken aus.
»Na ja, wie zwei Kinder, die so tun, als würden sie einen kleinen Hund herumtragen, schätze ich«, überlegte Celine. »Das haben wir früher oft getan, weißt du noch? Als wir damals unbedingt einen Hund haben wollten. Leider haben wir nie einen bekommen.« Celine senkte traurig den Blick und Hinz hüpfte wie zur Aufmunterung an ihrem Hosenbein rauf und runter.
»Erstens war das völlig richtig von unseren Eltern«, begann Sophie aufzuzählen und wedelte dabei mit dem Zeigefinger vor Celines Nase herum. »Die beiden sind den ganzen Tag auf Arbeit und wir kommen auch immer später von der Schule und wollen dann oft mit Freunden was unternehmen oder einfach nur unsere Ruhe haben, nicht wahr?«
»Du redest schon wie Papa damals. Ist ja gruselig«, antwortete Celine und warf ihrer Schwester einen skeptischen Blick zu.
»Einer muss es ja tun. Ich bin schließlich die Ältere.« Sophie nahm intuitiv eine aufrechtere Haltung an, wodurch sie gegenüber ihrer jüngeren Schwester noch größer und autoritärer wirkte. »Zweitens, wir sind keine kleinen Kinder mehr, die, ohne dumme Blicke einzufangen, so tun können, als würden sie Fantasie-Tiere durch die Gegend schleppen. Das würde zu viel Aufmerksamkeit auf uns ziehen. Ob die Menschen nun etwas sehen oder nicht, sie glotzen zu dem, was wir auf dem Arm haben. Du weißt, wie die Leute ticken. Stell dir vor, Hinz und Kunz würden dadurch in Panik geraten und wegrennen. Dann laufen wir plötzlich zwei unsichtbaren Tieren in der Straßenbahn hinterher. Die führen uns ab!«
»Wenn wir sie frei neben uns herlaufen lassen, dann kann das auch passieren!«, widersprach Celine ihrer Schwester.
»Ja, verflucht!« Sophie griff sich an die Stirn und beäugte die Compies ratlos. »Es war eine blöde Idee, mit ihnen durch die Gegend zu fahren. Sie kennen das alles nicht und überhaupt. Ich habe mir keine Gedanken darüber gemacht, wie wir das realisieren ohne, dass es komisch wird. Was machen wir jetzt?«
»Sollen wir sie vielleicht anleinen?«, fragte Celine schulterzuckend.
»Wir haben keine Leine, auch die müssten wir in der Zoohandlung besorgen«, jammerte Sophie. »Aber so viel Geld haben wir gar nicht dabei.«
»Dann hilft nur gute Erziehung«, sagte Celine, atmete tief ein und beugte sich zu den Compsognathus herunter. »Hinz, Kunz, hört mir mal ganz genau zu.« Celine sprach jede Silbe besonders lang und deutlich aus und achtete sogar darauf, dass ihr Mund sich den Worten entsprechend bewegte, sodass er einfach zu lesen wäre. »Ich weiß nicht, ob und wie ihr uns versteht, aber wenn ihr bei uns bleiben wollt, dann müsst ihr euch an gewisse Regeln halten. Wie ihr seht, ist unsere Welt völlig anders als eure und könnte gefährlich für euch sein. Besonders diese großen, lauten, glänzenden Monster, die da über diesen glatten, grauen Wegen rasen. Vor denen müsst ihr euch in Acht nehmen.«
»Monster? Ernsthaft, Celine? Die beiden sind keine kleinen Kinder«, amüsierte sich Sophie über Celines Art, den Dinos Regeln beizubringen.
»Du hattest auch keinen besseren Vorschlag, also sei still und lass mich machen.« Celine lenkte ihre ganze Aufmerksamkeit wieder auf Hinz und Kunz, während sich Sophie wie eine Rundumleuchte nach allen Seiten umsah, ob wirklich niemand zu ihnen sah. Als Celine das bemerkte, tat sie schnell so, als würde sie sich ihre Schuhe zubinden, für den Fall, dass sich doch jemand wundern sollte, warum sie da am Boden hockte.
»Also, alles, was laut und groß ist, ist für euch tabu. Zu einem fremden Tyrannosaurus würdet ihr schließlich auch nicht einfach so hinrennen, richtig?«
Hinz und Kunz legten ihre kleinen Köpfe schief und gaben ein niedliches Mieksen von sich.
»Das deute ich als ein ja«, seufzte Celine und sprach weiter. »Das Gleiche gilt für fremde Menschen. Haltet Abstand zu ihnen und achtet immer darauf, dass ihr euch nie zu weit von uns entfernt. Wir können nicht mit euch reden, wenn andere Menschen dabei sind, also müsst ihr ein bisschen auf unsere Gesichter achten und auf Handzeichen. Sollten wir zum Beispiel so machen ...« Celine klopfte mit ihrer flachen Hand auf ihren Oberschenkel, »dann müsst ihr euch dicht an unsere Beine stellen oder gehen. Wenn wir die Hand flach über den Boden halten, dann legt ihr euch hin. Eine erhobene Handfläche bedeutet, ihr bleibt dort, wo ihr gerade seid und geht erst, wenn eine von uns beiden das sagt. Verstanden?«
Sophie musste ein wenig kichern, als sie ihre Schwester sah, die allen Ernstes zwei Dinosauriern erklärte, was selbst mancher Hund nicht begreifen wollte.
»Eine andere Möglichkeit haben wir nicht«, sprach Celine zu ihr. »Sonst können wir niemals mit ihnen zusammen das Haus verlassen und sicher kann keine von uns dauerhaft zuhause bleiben, oder?«
»Du hast ja recht«, gab Sophie zu. »Wenn wir es nicht von Anfang an üben, dann wird das niemals was werden. Wie sagt man immer? Schwimmen lernt man am besten, wenn man einfach ins Wasser geschubst wird. Also los, dann werfen wir uns ins kalte Wasser und steigen in diese verdammte Straßenbahn.«
In diesem Augenblick sahen sie die Bahn bereits auf die Haltestelle zurollen und nickten sich stumm zu, um sich Mut zuzusprechen.
»Dann mal los«, sagte Celine, atmete schwer ein, blickte zu Hinz und Kunz herab und klopfte sich mit der Hand auf den Oberschenkel.