Gegen Reden hatte sie absolut nichts, ganz im Gegenteil. Aber angesichts dieser bizarren Situation empfand sie eine ungewöhnliche Scheu, sich direkt neben ihn zu setzen, auch wenn seine Geste eindeutig war. Wozu gab es den Sessel, der an der schmalen Seite des Couchtisches stand? So würde sie schräg gegenüber Aiden Platz finden, was ihr bedeutend sicherer erschien.
Ein wenig albern war das schon – sie war mutig genug, sich auf ein Blinddate einzulassen, hatte aber dann Hemmungen, ihrer Verabredung zu nahe zu kommen.
Aber gehörte es sich nicht, erst einmal ein wenig auf Abstand bleiben, um sich kennenzulernen, sich etwas beschnuppern, und dann zu entscheiden? Der einzige Unterschied zu einer ‚normalen‘ Verabredung war eigentlich nur, dass durch den Interessenabgleich der Agentur vorab ausgeschlossen war, dass man gar nicht zusammenpasste.
Wobei sie sich darüber immer weniger sicher war. Dieser Mann war wortkarg und wirkte immer noch abweisend auf sie. Schließlich hatte sie „Gespräche führen“ als äußerst wichtig in Online-Fragekatalog angekreuzt. Nicht „ein Mann kein Wort“, sondern einen Partner, dem sie sich öffnen konnte.
Seufzend bewegte sie sich in seine Richtung und setzte sich auf das Polster des Sessels.
Ob das tatsächlich eine gute Wahl war? Ein lautes Knarzen ertönte und sie sank tief nach unten.
Verdammt! Wie es aussah, war die Feder dieses antiken Möbelstücks kaputt und zwang sie so in eine äußerst unbequeme Sitzposition.
Was sie nicht zugeben würde.
Trotzdem war das nur blöd.
Zum ersten Mal seit ihrer Begegnung umspielte so etwas wie ein Schmunzeln Aidens Mundwinkel.
„Deshalb solltest du neben mir sitzen“, erläuterte er ruhig mit leichter Schadensfreude.
„Das passt schon. Ist voll bequem“, log sie mit einem gekünstelten Lächeln.
Der Anzug antwortete nicht, sondern rieb sich nachdenklich das Kinn, während er sie unverschämt intensiv musterte.
Jo rutschte unbehaglich hin und her, während sie seinem Blick ganz bewusst auswich. Sie war es nicht gewohnt, dass man sie so genau beobachtete.
War es nicht so, dass die meisten Menschen vermieden, dem anderen direkt in die Augen zu sehen?
Sie musste dieser unangenehmen Situation entkommen, ohne sich zu sehr eine Blöße zu geben. In solchen Fällen war erfahrungsgemäß Angriff die beste Verteidigung.
„Habe ich etwas auf der Nase, oder warum starrst du mich so an?“
Durch Aiden ging ein Ruck. Offensichtlich hatte er gerade eine Entscheidung getroffen, was auch immer es war.
Seine Stimme war ruhig, als er nun sprach: „Damit ich das richtig verstehe - du verabredest dich mit einem Mann, den du noch nie gesehen hast, bist aber dann zu schüchtern, um dich neben ihn zu setzen?“
„Schüchtern?!“ Empört reckte sie ihr Kinn nach oben. „Das hat damit nichts zu tun, Aiden. Schließlich ist das unsere erste Begegnung. Da muss ich nicht gleich auf deinem Schoß sitzen, wenn du meinst, was ich meine.“
„Du bist sehr direkt.“ Er wirkte ernst, trotzdem hatte Johanna das unbestimmte Gefühl, dass sich dieser Schnösel ein Lachen verkniff.
„Das hatte ich doch geschrieben“, entgegnete sie. „Ich sage meine Meinung, auch manchmal etwas unverblümt. Weil mir Ehrlichkeit wichtig ist. Authentizität, du weißt schon, die wichtigen Eigenschaften im Online-Charakterbogen.“
Er nickte gedankenverloren. „Natürlich, der Charakterbogen.“
Weshalb schwieg er nun wieder und sagte nichts weiter?
Dieser Nadelstreifen machte sie noch wahnsinnig.
„Du hast ihn doch gelesen, oder?“, fragte sie deshalb verunsichert.
Nur zu gut konnte sie sich an ihre Aufregung erinnern, als wider Erwarten schon nach kurzer Zeit die Rückmeldung der Agentur gekommen war.
Eine E-Mail mit dem passendenden Betreff ‚Hier ist dein Traummann‘ und 80% Übereinstimmung mit ihren Interessen.
„Ich mache dir einen Vorschlag. Wir ignorieren diesen Charakterbogen für den Moment“, schlug er vor, ohne auf ihren unterschwelligen Vorwurf einzugehen.
Wieso das denn jetzt?
Und warum hatte Mr. Oberspießer eigentlich so eine tiefe und warme Stimme?
Das Timbre gefiel ihr sehr.
Rasch fegte sie dieses Gefühl beiseite und ging zum Angriff über: „Warum ignorieren wir ihn? Weil du ihn nicht gelesen hast?“
Er beugte sich zu ihr rüber.
Seine Augen blitzen geradezu.
Wo lernt man so etwas eigentlich? Im Seminar für Anzugsträger?
„Ein Gegenüber zu haben, hat nun mal eine ganz eigene Qualität. Im Prinzip genau das, worauf du Wert legst.“
„Was meinst du damit?“, fragte sie verwirrt.
„Authentizität. Das waren doch deine Worte – oder, … Jo?“
Sie musste leider zugeben, dass er nicht unrecht hatte. Das Ambiente war schon seltsam genug. Für einen Moment zu vergessen, wie sie hier zusammengekommen waren, würde ihr Gespräch einfacher machen.
Widerwillig nickte sie.
„Erzähle mir etwas über dich!“
Dieser Befehlston! Musste das sein?
Automatisch spulte sie ihren Lebenslauf herunter: „Ich heißt Johanna und werde am 15. Juli 23 Jahre alte. Meine Hobbies sind …“
„Halt“, unterbrach er unwirsch. „Nicht so!“
„Wie dann?!“
„Erzähle mir von DIR, Jo!“ Wieder konnte sie seinen Blick nicht deuten.
„Ich verstehe einfach nicht, was du meinst, Aiden!“
„Ich möchte wissen, was dich antreibt. Deine ungelebten Träume. Tanzt du durchs Leben? Was ist dein letzter Gedanke, bevor du die abends einschläfst, Jo?“
Wow! Der Mann konnte doch tatsächlich auch mal reden.
Und was für eine ungewöhnliche Ansprache.
Aber um was alles in der Welt sollte sie darauf antworten?
Ratlos starrte sie auf seine Lippen. Sie würde ihn jetzt lieber vorsichtig küssen, statt zu reden. Das wäre auf jeden Fall bedeutend einfacher.
Vielleicht sollte sie rübergehen und es wagen? Das wäre eine gute Ablenkung und er würde seine Frage sicher vegessen.
„Ich höre, Jo. Denn eines musst du wissen – nur wenn ich zufrieden bin, erfährst du etwas von mir.“