Warten. Wenn Julius in diesem Moment etwas mehr hasste, als den ungemütlichen Designerstuhl, auf dem er saß, dann war es das Warten. Das Teil war mit Sicherheit sündhaft teuer gewesen, doch es verfehlte dank der ästhetischen Optik komplett den Zweck, für den es geschaffen wurde. Der Stuhl, nicht das Warten. Das Warten selbst hatte keinen Zweck, es war lediglich die Nebenwirkung einer modernen Gesellschaft, die sich auf die Erfindung der Uhr stützte.
Ganz schön dekadent für das Wartezimmer eines Nervenarztes, mochte man meinen. Immer noch der Stuhl, etwas anderes als der Grund für sein schmerzendes Gesäß kam Julius gerade auch nicht in den Sinn. Außer, dass er hier schon über eine halbe Stunde nervös mit dem linken Bein wippte, obwohl er einen Termin hatte.
Dieser für seine Erfolgsquote in den aussichtslosesten Fallbeispielen ach so gefeierte Spezialist Doktor Winkel war trotz fachlicher Kompetenz mit größter Wahrscheinlichkeit kein angenehmer Zeitgenosse, wenn er seinen Patienten nicht einmal ordentliche Stühle gönnte. Kein Komfort, während sie darauf warteten, dass er sich dazu herabließ, ein paar Augenblicke lang mit ihnen zu sprechen. Untermalt wurde die Zerreißprobe seiner Geduld mit dem unverkennbaren Geräusch eines leeren Milchshakebechers. Nun könnte man behaupten, dass ein Becher allein nicht zu Geräuschen fähig war – aber Julius war immerhin auch nicht alleine hier.
Er war kurz davor, die traurigen Narzissen aus der Vase am Sideboard in den Mülleimer zu werfen und die Überreste des braun verfärbten Wassers darin in den umweltverachtenden Pappbecher einer namhaften Fastfood-Kette zu füllen, damit er zumindest ein paar Sekunden seine Ruhe hatte. Sie ließen ohnehin schon deprimiert die Köpfe hängen. Die Narzissen natürlich, das Restaurant zur Goldenen Möwe hatte bestimmt keinen Grund dazu, wenn seit geraumer Zeit selbst er dort Geld liegen ließ, nur um schnell und unkompliziert an einen Vanillemilchshake zu kommen.
Er hasste dieses Wartezimmer. Er hasste diese Stühle und vor allem hasste er das Warten per se. Besonders aber brachte ihn gerade der Becher um den Verstand. Der machte an und für sich, wie schon erwähnt, nur wenig Lärm, doch der daran schlürfenden Mensch wollte sich offensichtlich nicht damit zufrieden geben, dass der Inhalt längst seine Reise durch den Verdauungstrakt begonnen hatte. So dröhnte das wiederkehrende Nuckeln am Strohhalm ununterbrochen durch den lieblos eingerichteten Raum, verstärkt von der Akustik innerhalb des Pappbechers.
„Himmel, Herrgott!“, entfuhr es Julius zischend. „Wenn du nicht sofort damit aufhörst, wünsche ich mir mit meiner nächsten verlorenen Wimper, dass du an deinem eigenen Speichel erstickst!“
Das schnorchelnd saugende Schlürfen brach ab. Julius nutzte die Chance, um seinem stumm dahockenden Begleiter den leeren Becher aus der Hand zu reißen. Auf der eiligen Suche nach einem Papierkorb, um ihn unschädlich zu machen, öffnete sich die blickdicht satinierte Milchglastür und ließ beide Gestalten in ihrer jeweiligen Bewegung erstarren.
„Herr Wurstwasser?“, rief die Sprechstundenhilfe in den ansonsten leeren Raum.
„Krautwasser“, verbesserte Julius schnaubend.
Kurz warf sie einen Blick auf das Klemmbrett in ihrer Hand.
„Ach ja“, sie rollte mit den Augen und berichtigte sich, „Herr Krautwasser, bitte!“
„Herr Doktor Krautwasser“, verbesserte Julius, diesmal ernst.
Die Dame blinzelte ihn verwirrt an, dann lächelte sie.
„Ja, ja“, säuselte sie milde, „Das sagen sie alle. Der Herr Doktor ist nun bereit, Sie zu empfangen. Einmal quer durch den Gang, zweimal links und dann können Sie in Zimmer drei Platz nehmen.“
Positiv denken, redete Julius sich ein und dankte dem Himmel, dass er sich endlich von diesem Höllenstuhl erheben konnte. Er zog seinen Begleiter nach kurzem Warten auf irgendeine Reaktion ungeduldig mit sich, während er der Sprechstundenhilfe folgte. Diese eilte jedoch lediglich wieder zur Rezeption, statt die beiden zu begleiten. Dafür, dass sie ihn für einen unzurechnungsfähigen Spinner mit Identitätskrise hielt, traute sie ihm erstaunlich viel damit zu, sich diese krude Wegbeschreibung zu merken.
Herr Doktor Winkel war ein eindrucksvoller Mann, das musste Julius zugeben. Davon abgesehen, dass sein Ruf ihm vorauseilte und sein Name jedem vom Fach ein Begriff sein sollte, sah er erschreckend gut aus.
Zwar etwas kleiner als Julius selbst, jedoch fast doppelt so breitschultrig und viel zu gut gebaut für einen in die Jahre gekommenen Neurologen. Julius schätzte ihn auf Mitte sechzig und stufte ihn als für dieses Alter außerordentlich attraktiv ein. Mit der rahmenlosen Brille auf der prominenten Hakennase und den eisblau stechenden Augen in Kombination mit dem silberglänzenden, korrekt gescheitelten Haar wirkte er mehr wie ein Hollywood-Schauspieler als wie ein Fachidiot.
Er gab ihm selbstverständlich nicht die Hand, sondern wies nur knapp auf die beiden Stühle vor dem Schreibtisch, hinter dem er selbst Platz nahm, nachdem er sich offensichtlich nur kurz aus Höflichkeit erhoben hatte. Zähneknirschend stellte Julius fest, dass der Arzt zwar auf einem sehr bequem aussehenden Ledersessel mit wulstigem Polster saß, die Stühle auf der anderen Seite aber vom selben Modell wie im Wartezimmer waren. Was für ein ausgefuchster Sadist, dieser Herr Doktor.
Er gefiel Julius immer besser. Trotz des offensichtlichen Narzissmus, unter dem er nicht litt, sondern ihn in vollen Zügen genoss. Oder gerade deswegen? Wie auch immer, für derartige Belange hatten sie keine Zeit.
„Was führt Sie zu mir, Herr Krautwasser?“, fragte Winkel knapp, nachdem sie alle drei auf ihren vier Buchstaben auf den für sie jeweils vorgesehenen Plätzen saßen.
Bevor Julius allerdings antworten konnte, schob er schon die zweite Frage hinterher, „Ich urteile nicht, dennoch bin ich neugierig, was mir die Ehre verschafft, einen Kollegen in meiner Praxis begrüßen zu dürfen?“
Kurz warf er einen Blick auf die Akte vor ihm auf dem Tisch und zuckte dann mit den Schultern, „Falls man das so sagen möchte – Vielleicht eher einen zukünftigen Kollegen wenn man bedenkt, dass Sie erst vor kurzer Zeit promoviert haben?“
„Ich habe dieselbe Ausbildung genossen wie Sie“, empörte sich Julius.
Woher auch immer Winkel die Befugnis hatte, sich Zugriff auf dieses Datenblatt zu verschaffen – und das so schnell, wohlgemerkt – es war leider der Grund, warum die Suche nach einem passenden Fachmann sie genau zu ihm geführt hatte. Demnach konnte er sich eigentlich nicht einmal beschweren.
„Und nicht einmal einen Bruchteil meiner Berufserfahrung“, entgegnete Winkel trocken, „Ich habe bereits von Ihnen gehört, Krautwasser. Für einen ehemaligen Ex-In Genesungshelfer mit fast noch druckfrischer Approbation bilden Sie sich ganz schon viel auf Ihre Fähigkeiten ein.“
Julius schnaubte. Er hätte sich die herablassende Arroganz dieses Mannes doch ein wenig subtiler vorgestellt oder zumindest gewünscht. Kaum ließ sich die Antipathie noch mit der Attraktivität ausgleichen, deshalb kam Julius schnell zum Punkt.
„Von mir selbst behaupte ich gern, dass ich meine emotionalen Schwankungen sehr gut im Griff habe“, seine Kunstpause war zu kurz, als dass Winkel ihn erneut unterbrechen konnte, aber lange genug, dass dieser sich seinen Teil denken durfte. Dabei wies er diskret zu Freddie wies, der wie ein Häufchen Elend auf dem Stuhl zusammengesunken ohne seinen Milchshake ganz verloren wirkte.
„Es war uns leider nicht möglich, Sie privat zu erreichen, darum habe ich den für Patienten üblichen Weg gewählt, um mit Ihnen ins Gespräch zu kommen. Mein Anliegen ist etwas kompliziert, ich bin mir nicht sicher, ob die vorgesehene Zeit einer regulären Sprechstunde dafür ausreicht. Aber für einen Erstkontakt hinterlasse ich Ihnen sehr gern mein Datenblatt und spiele mit offenen Karten.“
Winkel runzelte die Stirn und betrachtete Julius kritisch über seine Brillengläser hinweg. Dieser musste schlucken. Es war eindeutig zu lange her, dass er sich so direkt einem derartig attraktiven Mann gegenüber gesehen hatte. Der Kerl machte ihn unsagbar nervös, leider nicht nur in seiner Position und der Exposition, dass sie ohne ihn nicht weiterkommen würden.
„Also ist er Ihr Patient und Sie wenden sich an mich mit der Bitte um Hilfe?“, die nächsten Worte des Doktors klangen beinahe amüsiert. Seine Mundwinkel zuckten zu einem schiefen Grinsen, fast wie ein Zähnefletschen.
Winkel wandte den Blick von Julius und musterte stattdessen den untersetzten Mann mit dem rotblonden Lockenschopf interessiert. Freddie betrachtete eingehend seine Fingernägel, die sommersprossenbedeckten Wangen waren unüblich blass. Er schluckte mehrere Male und blinzelte schnell zu Julius, damit er für ihn einsprang.
„Nein“, sagte Julius knapp, „Nicht mein Patient. Herr Friedemann Eckstein und ich stehen in einer sehr viel persönlicheren Bindung zueinander. Wir bitten auch nicht um Ihre Hilfe bei irgendeiner Behandlung, sondern lediglich um ein Gespräch unter sechs Augen.“
„Aha“, Winkel machte sich träge einige Notizen.
Freddie sah aus, als müsse er sich das Lachen verkneifen. Dass er dabei die Lippen zusammenpresste und seine Augenlider zuckten, während er angestrengt durch die Nase schnaubte, ließ Winkel aufmerksam werden.
„Ist alles in Ordnung?“, wandte er sich prüfend an ihn.
Freddie räusperte sich und senkte ruckartig den Kopf, um sich wieder mit seinen Händen zu beschäftigen.
„Entschuldigen Sie“, meldete sich Julius wieder zu Wort, „Er ist ein wenig nervös.“
„Wie auch immer“, Winkel räusperte sich, „Ich bin der festen Überzeugung, dass unter diesen Umständen der Herr Freudenmann-“
„Friedemann. Friedemann Eckstein.“
„Wie auch immer- Ich möchte Sie nur darauf hinweisen, dass ein erwachsener Mann für sich allein sprechen sollte, ohne dass Sie ihn permanent bevormunden. Welche Beziehung Sie zueinander plfegen hin oder her- Wenn Sie uns also für einen Augenblick allein lassen würden, Herr Doktor?“
Julius lächelte müde, „Nichts lieber als das. Allerdings gehe ich davon aus, dass es eine recht einseitige Unterhaltung werden könnte. Wie bereits-"
„Wieso, kann er nicht sprechen?“, Winkel unterbrach ihn plötzlich doch interessiert, „Was fehlt ihm denn?“
Freddie schnaubte kurz, es verlangte ihm einiges ab, Ruhe zu bewahren.
„Ein guter Grund, es in Ihrer Gegenwart zu tun“, Julius schmunzelte. „Er kann sprechen. Er redet nur nicht mit Ihnen.“
„Wie unhöflich“, Winkel hob amüsiert eine Augenbraue.
Er notierte sich etwas.
„Selektiver Mutismus“, erklärte Julius knapp, „Ich bin einer der wenigen Menschen, denen er sich anvertraut. Wie ich schon sagte- Das hier ist ein Gespräch von Fachmann zu Fachmann, keine Untersuchungen, keine Medikamente, keine Therapie. Ich bin hier mit Informationen und im Gegenzug auf der Suche nach ebensolchen.“
„Und Ihren Lebensgefährten haben Sie also mitgebracht, weil-?“, Winkel schien ungeduldig zu werden, so wie er mittlerweile gestikulierte.
„Himmel, Herrgott! Er ist nicht mein Lebensgefährte, wie kommen Sie denn darauf?“, der Geduldsfaden war Julius längst gerissen.
Nicht sonderlich professionell, mochte man meinen, doch die Sache war vielleicht sowieso zwecklos. Winkel hielt ihn für einen Spinner. Er hatte sicherlich bereits schon sehr viel mehr von ihm gehört, als er gerade durchdringen ließ. Den Termin hatte er sicherlich nur bestätigt, um sich über die beiden lustig zu machen.
Julius war kurz davor, einfach aufzustehen, Freddie am Kragen zu packen und mit sich aus dem Zimmer zu schleifen, da seufzte Winkel und seine Züge entspannten sich wieder ein wenig.
„Nehmen wir an, ich hätte die Zeit und die Kapazität, mich mit diesen an den Haaren herbeigezogenen, komplett absurden Verschwörungstheorien aus Ihren sogenannten Forschungen auseinander zu setzen? In welcher Beziehung stehen Sie dann zu diesem Fridolin?“
„Friedemann“, bestand Julius abermals auf den richtigen Namen.
„Wie auch immer“, Winkel schnaubte.
Julius ließ sich Zeit. Er schmunzelte zufrieden.
Vielleicht hatte er sich getäuscht. Womöglich hatte Winkel doch Interesse.
Er starrte ungeduldig vom einen zum anderen und zog die Nase kraus, sodass seine Brille ein Stück tiefer rutschte. Wohl hin und her gerissen zwischen Spott und Neugierde, hing er an Julius‘ Lippen, als er ihn zu Genüge auf die Folter gespannt hatte.
„Er ist mein Medium.“
Winkel verdrehte die Augen und schnaubte, doch auch wenn er sein Interesse verbergen wollte, war er äußerst schlecht darin. Julius war sich sicher, dass Winkel längst angebissen hatte und am Haken zappelte.
„Wenn Sie von mir gehört haben“, begann Julius ruhig, auf seinen Zügen ein triumphierendes Lächeln, „Wird Ihnen meine Studie ja ein Begriff sein.“
Er schob Winkel seine Visitenkarte zu und zwinkerte verschwörerisch.
„Sie haben Fragen, ich habe Antworten. Anders herum ebenso. Aber nun, da wir unseren Austausch in dieser Weise begonnen habe, stehen Sie, wenn man es ganz genau nimmt, informationstechnisch in meiner Schuld. Es wäre also gut für Ihr persönliches Karma, mich zu kontaktieren.“
Winkel massierte sich nachdenklich die Schläfen, schnaufte, als wäre er gerade einen Marathon gerannt und schüttelte ungläubig den Kopf.
Freddie sprang in seiner nervösen Anspannung im selben Augenblick auf, in dem Julius sich aufrichtete und sein Jackett glatt strich, bevor er sich endlich von diesem Höllenstuhl erheben konnte. Julius fasste seinen Begleiter sanft an der Schulter, um ihn zumindest insofern zu beruhigen, sodass er in seinem automatischen Fluchtreflex nicht über die eigenen Füße stolperte.
Als sie auf diese Weise betont langsam den Raum verließen, spürte er Doktor Winkels Blick noch immer in seinem Nacken kitzeln, während er ihnen mit Sicherheit zweifelnd hinterherstarrte. Der Köder war erfolgreich ausgelegt. Und Julius Krautwasser war ein verdammt guter Angler.