"Wohin gehst du jetzt?“, wollte Julius beiläufig wissen.
Draußen vor Winkels Praxis führte ein hübscher kiesbestreuter Weg durch eine penibel gepflegte Grünfläche mit Hecken und Blumenbeeten bis zu den Parkplätzen. Julius versuchte, sich von den weiterführenden Gedanken und Mutmaßungen über den Doktor abzulenken, indem er sich mit seinem Begleiter beschäftigte.
Es war nicht gut gelaufen, aber das hatte er erwartet. Mehr als Kontakt aufzunehmen hatte er eh nicht tun können. Es lag nun wohl an Winkel, ob das Schicksal sie nochmals zusammenführen würde. Auch wenn sich Julius vorstellen konnte, dass die Sterne dafür gar nicht mal so schlecht standen, überlegte er schon, wie er dem Universum auf die Sprünge helfen könnte.
Doch Freddie hatte wohl genügend oft tief durchgeatmet, sich den Schweiß von der Stirn gestrichen und quer übers Gesicht geschmiert, so heftig wie er sich Augen und Wangen rieb, dass er dabei aus unerfindlichen Gründen seine Sprache wiedergefunden hatte. War ja immerhin auch niemand sonst mehr da- außer eben Julius.
Freddie schnaufte nochmal und zuckte mit den Schultern.
„Zu McDonalds?“
Julius schnaubte. „Das glaube ich dir sofort, aber ich meine danach.“
Wieder zuckte Freddie mit den Schultern.
„Was ist mit dem anderen Termin?“
Kurz herrschte Stille. Unangenehme, durchdringende Stille.
„Du hast noch einen Termin?“, Julius starrte ihn entgeistert an, dann fluchte er verärgert. „Das fällt dir aber früh ein!“
Freddie schüttelte den Kopf. Wahrscheinlich wieder so eine Methode, sich ein bisschen zu besinnen, mit der Absicht, die verworrenen Gehirnwindungen zurück an ihren eigentlichen Platz zu befördern. Julius seufzte schwer.
„Wann denn? Und wo? Ich gehe davon aus, ich muss fahren.“
„Natürlich fährst du. Aber wir gehen zusammen hin. Du weißt schon, diesen Mann mit den Tabletten-“, versuchte Freddie zu erklären.
„Ich soll für dich Drogen kaufen? Bekommst du nicht genug von den bunten Pillen von den Schwestern zugesteckt?“
Freddie schnaubte, „Nein. Der Mann, der sich mit Medikamenten dumm und dämlich verdient, wie hieß er noch?“
„Ach. Mendoza? Das ist nicht heute“, Julius winkte ab und dachte, damit hätte sich das Thema erledigt. Freddie aber zog ein Gesicht, als hätte man ihm in den Milchshake gespuckt. Dann sah er betreten zu Boden.
„Oh", war wohl das einzige, was ihm dazu einfiel.
„Was oh? Du vergisst ständig Sachen, mach mal kein Drama draus.“
„Aber ich habe den ganzen Tag eingeplant. Und jetzt sind wir schon fertig? Was soll ich denn jetzt mit so viele Stunden leerer Zeit anfangen?“
Julius verzog zerknirscht das Gesicht. Er verstand langsam, worauf das hinauslaufen würde. Trotzdem versuchte er, mit einem schiefen Lächeln noch ein bisschen zu feilschen. „Besser als anders herum? Wäre viel stressiger, hättest du nur ein paar Stunden und müsstest darin zwei Termine unterbringen?“
Freddie plusterte die Backen auf und ließ die Luft dann mit einem sehr lauten Schnauben austreten. Er schmollte. Julius hasste es, wenn er schmollte.
„Nein“, maulte Freddie beleidigt, „Das wäre sicherlich lustiger.“
Julius seufzte. Dann gab er sich einen Ruck.
„Lass mich raten. Du willst nicht zurück?“
Freddie nickte zerknirscht. Julius raufte sich das Haar.
„Ich würde dir gern ins Gewissen reden, aber ich kann es leider nachvollziehen", musste er widerwillig zugeben.
Da schlenderten sie nun mit ihren langen Gesichtern über den kurzen Weg zum Auto. Mit jedem Schritt knirschte der Kies unter den Schuhen und ließ eine unangenehme Gänsehaut über seine Arme kriechen. Leider fiel Julius nur eine einzige Möglichkeit ein, die Freddie aufmuntern würde:
„Also- Einmal McDoof und danach bringe ich dich nach Hause?“
Freddie schüttelte den Kopf.
„Kein McDoof?“, bei Julius schrillten sämtliche Alarmglocken.
„Doch“, Freddie senkte den Blick.
„Aber danach nicht nach Hause?“, vermutete Julius seufzend.
Freddie zog die Stirn kraus. „Das ist nicht mein Zuhause.“
Julius seufzte schwer. Er verstand. Dann fasste er sich ein Herz.
„Ich bin Ganove genug, dich zu deiner Wohnung zu bringen und mit dir einzubrechen, falls du deinen Schlüssel nicht dabei hast. Selbstverständlich könnte ich dich auch dort lassen, aber dann wärst du auf dich allein gestellt und das kann ich nicht verantworten.“
Freddie schnaufte, „Auf mich allein aufpassen kann ich wohl!“
Julius wagte es doch tatsächlich, dies zu bezweifeln.
„Aber eine Wohnung habe ich nicht“, fuhr Freddie zum Glück noch fort.
Julius kramte stumm den Schlüssel aus seiner Tasche, fluchte leise, weil sich das Band mit dem ganzen Klimbim daran in den Kopfhörern und einer Packung Taschentüchern verheddert hatte. Freddie blieb ebenfalls still, starrte nur todtraurig vor sich hin.
Sie stiegen ins Auto. Julius ertrug es kaum noch.
„Ich habe kein Zuhause“, murmelte Freddie.
Irgendwie tat er Julius leid, aber eine weiche Stelle im Herz und ein Mindestmaß an Empathie würde die Situation auch nicht ändern.
„Ich muss dich trotzdem zurückfahren“, sagte er leise, „Sonst sucht uns bald die Polizei und auch wenn eine Verfolgungsjagd am Anfang sicherlich lustig und spannend wäre, würde es uns auf längere Sicht einiges mehr Ärger einbringen als wir gerade gebrauchen können.“
Freddie nickte. Er wirkte niedergeschlagen.
„Also“, Julius räusperte sich und schob die Brille ordentlich auf der Nase zurück, bevor er Freddie einen kurzen Blick zuwarf.
„Du hast bis heute Abend den Ausgang eingereicht, weil du dachtest, wir fahren heute noch zu Mendoza?“
Freddie nickte betreten.
„Dein Optimismus in Ehren, dass ich so viel Organisationstalent besitze. Aber na fein, na gut. Dann holen wir jetzt Milchshake und fahren danach irgendwo hin, wo es spannend und lustig ist!“
Freddie stockte der Atem und seine Augen weiteten sich erfreut. Julius ging in Gedanken schon mal sämtliche Möglichkeiten durch. Überteuerter Freizeitpark, vollgestopftes Schwimmbad mit Saunalandschaft und Erlebnisrutschen, sich einmal quer durch ein Running Sushi Buffet fressen- verdammt, ihm fiel nichts ein. Die einschlägigen Bars, in denen er sich zuweilen herumtrieb, wenn er sich nach Spannung und Lust sehnte, würden erst öffnen, wenn es dunkel wurde. Bis dahin würde er Freddie hoffentlich wieder abliefern können, um ungestört sein eigenes Leben weiterzuführen. Aber wenn Julius ehrlich war- Er hatte wirklich Lust auf Sushi.
Bevor er allerdings den Mund öffnen konnte, fiel Freddie ihm mit strahlenden Augen und einem breiten Lächeln ins unausgesprochene Wort.
„Du meinst ins Katzencafé?“
Julius starrte ihn einige Momente lang fassungslos an. „Ins was?“
„Katzencafé. Ein Café voller Katzen, die ganz zutraulich sind.“
Fast hätte Julius an Freddies Verstand gezweifelt, wenn er nicht ohnehin wissen würde, dass diese Zweifel längst bestätigt worden waren, indem sie schwarz auf weiß in diversen offiziellen Papieren standen.
„Warum sollte ich Katzenhaare in meinem Cappuccino haben wollen?“
Freddie grinste und zuckte vergnügt mit den Schultern.
„Du sollst die Haare nicht ausreißen und in deinen Kaffee werfen. Du sollst den Kaffee trinken und die Katzen dabei beobachten, dich an ihnen freuen und sie streicheln, wenn sie zu dir kommen und sich auf deinen Schoß kuscheln! Den Weg dorthin kann ich dir zeigen, Café Schnurrke!“
Julius seufzte und massierte sich die Schläfen, „Schnurrke hin, Schnurrke her. Ganz bestimmt nicht.“
„Magst du etwa keine Katzen?“
„Doch“-
„Und du magst Kaffee!“
„Ja“-
„Aber?“
„Allergie.“
„Gegen Kaffee?“
„Himmel, Herrgott, nein!“
„Nur gegen Katzenhaare?“
„Ich bin gegen so ziemlich alles durch die Luft fliegende allergisch, was du dir ausmalen kannst. Meine Mutter hat mich wohl nicht genügend im Dreck spielen und Sand fressen lassen, wie man so sagt. Frühblüher, Spätblüher, Tierhaare, Hausstaub- Also fallen Hamstercafé und Meerschweinchencafé leider auch aus, tut mir leid. Was hältst du von Sushi?“
Letzten Endes holten sie sich Milchshake beziehungsweise Kaffee von zuvor erwähnter Fast Food-Kette und aßen im Auto fast gemeinsam eine überdimensionierte Takeaway Sushibox aus dem nächsten Supermarkt, wobei Freddie ziemlich schnell aufgab und den Rest Julius überließ.
Danach besuchten sie den Streichelzoo im Stadtwald. Julius fühlte sich zwar eher, als würde er einen Ausflug mit einem Kind machen als einen lustigen und spannenden Tag mit einem Freund zu verbringen, aber es war in Ordnung. Erstaunlich in Ordnung und entspannt sogar.
Freddie war zufrieden mit seinem Milchshake. Er selbst hingegen war zufrieden mit einem weniger aufdringlichen Freddie. Die Tiere waren glücklich, dass jemand ihnen Beachtung schenkte und überteuertes Trockenfutter aus dem Automaten löste. Julius hielt genügend Sicherheitsabstand von den Viechern, während sie Freddie umringten, damit jeder mal mit ihm kuscheln konnte oder zumindest kurz das Köpfchen gestreichelt bekam.
Das fröhliche Strahlen auf seinem Gesicht sprach Bände. Nach nur ein paar Minuten im Tiergehege war Freddie nicht mehr zufrieden. Er war geradezu überglücklich. Julius fühlte sich nur im Ansatz schlecht darüber, ihm diese Chance beschafft zu haben. Auch wenn er sich nicht als Märtyrer aufspielen wollte, aber seine kostbare Zeit zu opfern, um einen armen Irren mit ein paar Schafen und Ziegenböcken spielen zu lassen, war es eindeutig wert, nicht am Schreibtisch zu sitzen.
Der Platzregen kam – wie der Name an sich schon vermuten ließ – unerwartet an diesem eigentlich recht milden und sonnigen Tag. Sie schafften es schneller zum Auto als Julius es Freddie mit seinen kurzen Beinen zugetraut hätte, kamen aber trotzdem komplett durchnässt dort an.
Freddie kicherte immer noch vergnügt, als Julius die Scheibenwischer auf höchster Stufe anstellte und den Wagen wieder auf die Straße lenkte. Da konnte Julius sich nicht lange an den Vorsatz halten, jetzt miese Laune zu haben, weil der Parkbesuch ins Wasser gefallen war. Stattdessen musste auch er ein bisschen schmunzeln.
„Ist dir kalt?“, fragte er schließlich unnötigerweise, als Freddie in der durchnässten Jacke am ganzen Leib zu schlottern begann.
Dieser zögerte kurz und wagte ein vorsichtiges „N-nein? Also, kommt drauf an, ob ich dann gleich wieder zurück muss?“
Julius lachte, „Keine Sorge. Wir haben noch Zeit. Kennst du irgendein ruhiges kleines Café in der Nähe? Ich brauch jetzt nen heißen Kaffee. Aber bitte ohne Katzen!“
Statt dem urigen Kaffeehaus, das Julius noch grob in Erinnerung hatte, fanden sie eine schlecht besuchte Absteige, die wohl stilistisch an ein typisch amerikanisches Diner angelehnt sein sollte. Aber es war trocken, die Sitzbänke wirkten gemütlich und sorgten in ihrer Anordnung für ein bisschen Privatsphäre. „Silver Lining“ stand in Buchstaben aus Neonröhren über dem Eingang. Der Silberstreif am Horizont- wie abgedroschen! Etwas interessierter jedoch nahm Julius die Öffnungszeiten zur Kenntnis. Vierundzwanzig Stunden, sieben Tage die Woche.
Die Adresse sollte er sich merken.
Julius zog den bibbernden, wieder extrem nervösen Freddie mit sich in eine der hintersten Sitzecken, obwohl beinahe alles frei war. Trotz des mangelnden Aufkommens an Kundschaft wirkte das junge Ding hinterm Tresen total gestresst. Mit aus langen dunklen Locken nachlässig gebundenem Pferdeschwanz und dazu proportional um einiges mehr lange dünne Beine und Arme als restlicher Körper insgesamt, stakste sie sofort hektisch auf die beiden zu. Nur ein paar Zentimeter Absatz an den Sandalen würden Freddie neben ihr wie ein Zwerg aussehen lassen, trotz des warmen Brauntons ihrer Haut wirkte sie erstaunlich blass um die prominente Nase. Aber das sympathische Lächeln ließ den Eindruck einer mangelernährten Vogelscheuche sofort weichen.
„Willkommen im Silver Lining!“, sie strahlte über das ganze Gesicht und deutete auf das kleine Schildchen an ihrem ockergelben Poloshirt. „Ich bin Toni. Eigentlich Antonia, aber lieber Toni- hier steht’s auch nochmal. Was- was kann ich euch Gutes tun?“
Julius runzelte die Stirn, während sie ihnen die schlecht laminierte Pappkarte mit der Aufschrift „Menu“ reichte. Sein Blick wanderte von den gelb lackierten Nägeln über lange dünne Finger und sehnigen Armen bis zum markanten Kinn und dem gelb-weiß getupften Halstuch darunter. Leben und leben lassen, dachte er sich und schenkte ihr sein freundlichstes Lächeln.
„Cappuccino“, bestellte Julius und rang sich höflichst noch ein „Bitte“ danach ab. Dann wandte er den Blick zu Freddie.
„Milchshake?“, fragte er ihn, damit er bloß zu nicken brauchte.
Freddie aber saß wie ein Häufchen Elend in sich zusammengesunken, schaffte es nicht einmal nach einem Räuspern den Blick zu heben und kaute nur immer noch zitternd an seiner Unterlippe.
„Hm? Vanille?“, Julius legte den Kopf schief, dann wandte er sich etwas hilflos an Toni vom Silver Lining. Freddie zuckte nur erschrocken zusammen, als diese sich zu ihm über den Tisch beugte.
„Ist Ihnen kalt?“, fragte sie freundlich, „Ich- ich kann Ihnen eine Decke vom Außenbereich bringen, das ist kein Problem! Sehen Sie- das bekommen wir alles hin. Kein Grund zur Sorge, ich hab hier schon ganz anderen Leuten wieder auf die Beine geholfen!“
Zwar glaubte er eher, dass sie zu viele schlechte Ami-Filme geschaut hatte, als dass sie wirklich Menschen in Not hier zusammenflickte. Dass sie aber ansonsten keine Fragen stellte, imponierte Julius auf gewisse Weise.
Sie notierte sich wohl seinen Cappuccino auf einem Zettel am Klemmbrett und schenkte ihnen beiden noch ein fast mütterlich warmes Lächeln.
„Ganz unter uns- Ich mache den besten Milchshake der ganzen Stadt, aber wie wäre es unter diesem Umständen vielleicht mit einem Tässchen voll warmen Tee? Ich kann auch da ein bisschen Vanillesirup reinmachen!“
Freddie schnaufte angestrengt, sodass Julius schon das Schlimmste befürchtete. War es einfach zu viel für den guten Mann gewesen. Der hob schließlich aber schüchtern den Blick, die Lippen zu einem schmalen, schiefen Lächeln verkrampft. Julius starrte ihn entgeistert an.
„Gerne“, wisperte Freddie leise und räusperte sich mühsam.
„Warmer Tee klingt gut.“