"Da wären wir", Julius räusperte sich über das Geräusch des absichtlich noch laufenden Motors seines geparkten Autos hinweg. "Ich gehe davon aus, du findest den Weg?"
Es war bereits dunkel und spät genug, dass niemand sonst mehr einen Grund geschweige denn das Bedürfnis hatte, sich auf einen der beiden Parkplätze direkt vor dem Haupteingang zu stellen. Der Bewegungssensor funktionierte wieder und ließ die robusten Glastüren automatisch in ausreichend hellem, wenn auch nicht besonders einladendem Licht erstrahlen. Die Scheinwerfer seines Wagens spiegelten sich in der Scheibe direkt neben dem schemenhaften Umriss einer der riesigen Plastikpflanzen, die den Eingang rechts und links in cremebeige verfärbten Übertöpfen schmückten - oder verunstalteten, je nachdem ob man diesen Versuch, das unpersönliche Gebäude freundlicher wirken zu lassen, als gelungen oder lediglich heuchlerisch empfand.
Freddie saß schweigend auf dem Beifahrersitz und starrte betreten auf die in seinem Schoß zitternden Hände. Es waren weniger als fünf Meter zwischen ihm und dem Eingang. Trotzdem schien selbst Julius die geschlossene Autotür, der kurze Fußweg und ein Druck auf den Öffnungsknopf wie eine kaum überwindbare Barriere. Der Unterschied war wohl nur, dass er sich überlegte, wie man dennoch zum Ziel kam, während Freddie wohl hoffte, dass es aussichtslos war und er für immer hier sitzen bleiben musste.
Julius räusperte sich ein weiteres Mal. Als Freddie dabei aber so ruckartig zusammenzuckte als hätte er ihn geschlagen, seufzte er leise und fasste sich ein Herz. "Na komm schon", ermunterte er ihn nun ein wenig sanfter und klopfte ihm tröstend auf die Schulter. "Wir sehen uns doch bald schon wieder! Ich kann ja nicht allein zu Mendoza, da brauche ich deine Hilfe. Und wenn du magst, gehen wir danach auch nochmal was essen und einen Milchshake trinken!"
Über Freddies Züge huschte ein kleines Lächeln. "Das klingt gut", murmelte er mit einem schiefen Grinsen. Er schaffte es wohl, den Anschnallgurt zu lösen, hielt aber in seiner Bewegung inne, während er nach dem Türgriff tastete. Fast flehend blinzelte er zu Julius. Dieser konnte einen solchen Blick nicht stand halten, sah kurz auf die Uhr und biss sich auf die Unterlippe. Natürlich ließ es ihn nicht kalt. Natürlich würde er wieder die halbe Nacht von seinem schlechten Gewissen zerfressen werden, aber es änderte leider auch nichts.
Wenn er diesen Gefühlen immer nachgeben würde, würde er es Freddie nicht leichter machen. Ganz zu schweigen davon, dass es ihm selbst dann noch schwerer fallen würde, sich an die Regeln der Abmachung zu halten.
"Na los, die warten sicherlich schon. Ist ganz schön spät geworden", Julius lächelte schief und versuchte, seine Stimme noch immer sanft und verständnisvoll klingen zu lassen.
Freddie nickte kaum merklich. Bevor er die Tür öffnete, sah er abermals zu Julius. "Darf ich denn auch mal bei dir übernachten?", fragte er leise.
Julius atmete tief ein und so ruhig wie möglich wieder aus. "Ein andermal. Bestimmt."
Der Motor brummte ohrenbetäubend in der betreten Stille. Julius sah auf die Uhr. Freddie seufzte leise. "Kommst du noch mit zur Tür?", fragte er unsicher. Julius blinzelte einige Male, bis die zuvor verschwommen leuchtenden Ziffern wieder richtig zu sehen waren. Dann schnaufte er tief durch.
"Nein", antwortete er ebenso ruhig wie bestimmt. Er konnte sich diesen Gefühlsduseleien nicht hingeben. Egal wie sehr Freddie ihm auch leid tat, dass er sich an diesem Ort nicht zuhause fühlte. Egal wie gut er dies sogar nachvollziehen konnte - Er war derjenige, der einen kühlen Kopf behalten musste, eben gerade Freddie zuliebe.
Es fühlte sich wie eine Unendlichkeit an, bis Freddie es trotz allem schaffte, die Beifahrertür zu öffnen. Nur kurz blickte er noch mit traurigen Augen zurück zu Julius, eher dieser hastig nickte und mit einer Handgeste am Ohr die folgenden Worte bestätigte: "Ich ruf dich an!"
Freddie nickte, stieg aus, murmelte noch ein leises "Gute Nacht".
Dann schloss er die Tür hinter sich und noch während Julius ihm hinterher blickte, kam es ihm vor, als wäre sämtliche Luft zum Atmen aus dem Innenraum seines Wagens gewichen. Es schnürte ihm die Kehle zu, er schaffte es nicht einmal, endlich den Parkplatz zu verlassen, bis er mit eigenen Augen gesehen hatte, wie Freddie auf den Knopf an der Tür gedrückt hatte - und offensichtlich war es bereits spät genug, dass sich der Eingang gar nicht mehr von allein öffnete.
Plastikpflanzen und Blumentöpfe wurden unscharf vor seinen Augen, Freddie verschwamm mit den Glastüren. Erst als eine Dame mit weißem Kittel ihn abholte, die beiden von den Tiefen im Inneren des Gebäudes verschluckt wurden und die automatische Beleuchtung längst wieder ausgegangen war, schaffte Julius mit weiterem energischen Blinzeln, dass sich der Fokus seiner Augen wieder scharf stellte.
Mit einem tiefen Seufzen sah er auf die Uhr. Dann fuhr er nach Hause.
Schon während Julius die Haustür aufschloss, empfing ihn der gähnende Abgrund seiner verlassenen Wohnung. Der Geruch von kaltem Rauch schlug ihm entgegen. Er nahm sich ein weiteres Mal vor, nie wieder innen zu rauchen - auch wenn er wusste, dass dieser Entschluss nur bis zur nächsten schlaflosen Nacht halten würde. Aber nicht heute. Das sagte er sich selbst, während er die Tür hinter sich zuzog, um sich im Dunkeln durch die Stille zur Garderobe und dann ins Wohnzimmer zu schleppen. Nein, heute würde er einfach ins Bett fallen, traumlos und ruhig bis zum nächsten Morgen einfach nur schlafen. Nur noch kurz ein paar Minuten Musik hören, um ein bisschen herunter zu kommen. So viel zum Plan.
Bis die Schlaftablette wirkte, die er mit einem Schluck abgestandener Cola herunter schluckte, machte er es sich auf dem Sofa bequem und widerstand dem Drang, zur Zigarettenschachtel zu greifen. Sein Telefon hatte sich bereits mit den Lautsprechern verbunden. Unmotiviert scrollte er durch verschiedene Interpreten, Alben und selbst zusammengestellten Wiedergabelisten, bis er resigniert einfach nur sämtliche markierten Lieblingstracks in zufällig durchgewürfelter Reihenfolge anstellte. Als die ersten Klänge des Terzetts im ersten Akt der Fledermaus von Strauss durch die dunkle Wohnung hallten, runzelte er die Stirn.
Definitiv nein, das konnte er jetzt nicht gebrauchen. Ein kleiner Fingerzeig nur bis zum nächsten Lied. Die Ouvertüre von Glucks Orpheus und Eurydike fiel nach nur wenigen Takten ebenso dem Tippen zum Überspringen zum Opfer. Sigmunds Lied aus Wagners Walküre ließ ihn tief aufstöhnen. Das würde er noch weniger ertragen. Manchmal fragte er sich, warum diverse Stücke in seinen Favoriten gelandet waren. Überlegte sich, wer in aller Welt Zugriff auf sein Musik-Konto hatte, der eine solche Auswahl aussuchte.
Allerdings fiel ihm jedes Mal schnell wieder ein, dass er niemand anderen beschuldigen konnte, so blieb er mit der Erkenntnis zurück, die Musik seiner eigenen Person in unterschiedlichen Stimmungslagen auffallend oft extrem unpassend zu finden. Nach dem nächsten Klick war Ruhe.
Vielleicht hatte das Musikprogramm aufgegeben und keine Lust mehr, ihm Dinge anzubieten, die er eh nicht hören wollte. Erst als die Stimme der Sängerin einsetzte, bemerkte er, dass das Stück lediglich um einiges leiser war als das zuvor. Halbherzig stellte er es laut genug, um wenigstens erkennen zu können, ob er es denn hören wollte oder nicht.
Nach nur ein paar akkurat gesetzten Pizzicato-Tönen schloss er die Augen. Es war eigentlich nicht fair. Wie konnte ein längst verstorbener Mensch mit seiner Musik so treffsicher seinem Herzen mit jeder Note, jeder Pause einen so schmerzhaften Stich versetzen? Als wusste Massenet schon seinerzeit, dass eines Abends ein verbitterter Neurologe allein auf seiner fast lächerlich riesengroßen Sofalandschaft verloren ging und sich mit einem der weichen Designerkissen behelfen musste, wenn er jemanden zum kuscheln brauchte.
Julius blinzelte energisch, legte das Sofakissen wieder auf seinen Platz und stand auf, ohne das Licht anzumachen. Der Griff zum mittleren Fach der Schrankwand war wohl geübt. Es war das einzige, das sich nach oben hin öffnen ließ, keine Schublade, sondern eingerichtet wie eine kleine Bar. Fast schmerzte der Gedanke daran, wie er sich immer vorgestellt hatte, seinen Gästen etwas aus dieser Sammlung feinster Tropfen anzubieten. Sich vorzustellen, wie er an ihren überraschten Gesichtern und dem anerkennenden Nicken erraten konnte, was sie dachten: Ja, der Krautwasser hat nicht nur einen guten Geschmack, sondern auch das nötige Kleingeld! Der hat sein Leben im Griff. Welch eine Ironie, dass er diese Bar nun betrachtete und noch genau wusste, wie oft er leere Flaschen bereits mit neuen ersetzt hatte, ohne einmal in dieser Zeit tatsächlich Besuch bei sich zuhause empfangen zu haben.
Mit Tränen in den Augen betrachtete er das halbleere Whiskeyglas in seiner Hand. Darin schwappte nicht nur die Sehnsucht, den Kummer mit Alkohol einfach herunterschlucken zu können. Was war sein Vermögen denn wert, wenn er dafür zwar teuren Whiskey kaufen konnte, am nächsten Morgen aber dennoch alleine mit den Nachwirkungen des zugehörigen Rausches konfrontiert war? Nicht nur mit den ungeweinten Tränen, sondern auch mit all seinen Zweifeln und dem Wissen um all seine Fehler haderte er. Eine zähflüssige Unendlichkeit lang, bis er sich alsbald bis zum Hals im Selbstmitleid wieder fand. So versunken, dass er nicht einmal bemerkte, dass die wehmütige Arie der Manon längst vorbei war und er absolut nicht gewillt war, nun im Anschluss Mozart zu hören. Fast brutal stieß er die Fingerkuppe seines Zeigefingers auf die Stop-Taste und schaltete nicht nur die Musik, sondern vorsichtshalber gleich sein Telefon komplett aus.
Erst als die Sonne unbarmherzig durch die nachlässig noch immer offenen Jalousien direkt in sein Gesicht schien, wurde Julius ächzend wieder wach. Zwar bereute er dies bereits sehr schnell, doch wenn er nun schon bei Bewusstsein war, konnte er die Gelegenheit nutzen, blind vor gleißendem Licht nach dem Schalter zum schließen zu tasten. Besser wurde es nicht. Schon die dafür notwendige Bewegung reichte aus, um sich dabei wohl versehentlich auch gleich eine Abrissbirne gegen den Schädel zu rammen. Vermutlich war es nicht bei einem Glas geblieben. Es war still und schnell auch wieder dunkel in seiner Wohnung. Statt aber selig wieder einzuschlafen, wankte er ins Badezimmer und ließ sich die falschen Entscheidungen vom Vortag nochmals durch den Kopf gehen. Erst nach einem halben Liter eiskalten Leitungswasser gemischt mit einer spontan erfundenen Zusammenstellung aus den üblichen Pillen, drei verschiedenen Schmerzmitteln, Magentropfen und zwei Koffeintabletten fühlte er sich zumindest imstande, eine kurze Dusche zu nehmen. Wie spät war es eigentlich?
Während der Kaffeeautomat die Bohnen frisch zermahlte, schlüpfte Julius zwar noch immer wacklig auf den Beinen, aber zumindest äußerlich wieder menschlich erscheinend in seine Hausschuhe. Den Müll brachte er wie jeden Morgen zur Tonne im Hinterhof, fast freute er sich schon auf die Tageszeitung, die er beiläufig aus seinem Fach nahm, weil dort erfahrungsgemäß garantiert von Menschen berichtet wurde, denen es weitaus dreckiger ging als ihm selbst. Erst nach unzähligen Treppenstufen auf dem Weg vom Briefkasten zurück zu seiner Wohnung wunderte er sich über den liebevoll verpackten Blumenstrauß auf der Fußmatte unter seiner Tür. Wer hatte sich denn da in der Nummer geirrt?
Von einem Absender war keine Spur, nicht einmal das Logo eines Lieferanten oder Floristikzentrums konnte er entdecken. Kein Brief, keine Karte, nicht einmal ein Etikett, das einen Empfänger benannte. Julius war kurz davor, mit den Schultern zu zucken und mit einem halben Gedankengang das arme Liebespaar zu bedauern, deren Beziehung nun womöglich auf dem Spiel stand. Erst als er schon fast die Tür hinter sich geschossen hatte, fiel ihm trotz des suboptimalen Allgemeinzustands seiner selbst auf, dass er nicht nur auf der obersten Etage hauste, sondern auch die einzige andere Wohnung auf diesem Stockwerk seit gut zwei Jahren leer stand. Es wäre nicht nur unwahrscheinlich, sondern fast Detektivarbeit, den rechtmäßigen Empfänger einer Liebesbotschaft derartig zu enttäuschen. Ausgerechnet hier einen Strauß Blumen zu verlieren könnte womöglich kein Zufall sein.
Für ein paar Sekunden huschten ein paar furchtbar verwirrte Gedanken aus dem Logikzentrum zu einem wohlbekannten Gesicht mit mehr Sommersprossen als er zählen konnte und Unmengen von Lachfältchen um die fröhlichen Augen. Aber nein, vermutlich würde die Person, an die er dachte, eher nachts im Bett von einem Müllauto überfahren werden als ausgerechnet ihm nochmal Blumen zu schicken.
Was sonst sollte dies aber bedeuten? Zwar redete Julius sich ein, dass es ihm eigentlich egal sein konnte, sein Körper aber betrog ihn mit rasantem Herzklopfen und weichen Knien. Erst als er die feuchten Hände an seiner Hose abwischte und entgegen seinem Willen mit zittrigen Finger nach dem sonderbaren Find griff, überkam ihn tatsächlich die Gewissheit, dass dieser Gruß nicht nur ausschließlich für ihn gedacht war, sondern auch eine unmissverständliche Botschaft sendete. Wie in Zeitlupe spielten sich die Bilder in seiner panischen Wahrnehmung ab. Eine einzelne rote Rosen zusammen mit einer Vielzahl strahlend weißer Chrysanthemen würden an und für sich schon seltsam genug für eine Liebesbekundung wirken. Wenn er sich nicht täuschte, waren diese Blumen sogar in exakt dieser Farbe besonders bei Begräbnissen äußerst beliebt. Dass dies kein Zufall war, bemerkte er, als er endlich den Mut hatte, den Strauß kurzerhand zu packen und ohne weitere Umschweife in den Kompost zu befördern.
Aber als er die weiße Blütenpracht in den Händen hielt, blieb der offensichtlich schon längst zuvor fein säuberlich abgetrennte Kopf der einsamen Rose auf dem Fußabtreter liegen. Er hatte sich nie näher mit der Sprache durch Blumen befasst und nie das Bedürfnis dazu verspürt.
Diese anonyme Botschaft durch die Blume leuchtete ihm dennoch unmissverständlich ein.