Peter Pettigrew
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Peter Pettigrew versuchte nicht daran zu denken, wie sehr er sich vor der ganzen Schule blamieren könnte, wenn er zu lange auf dem Stuhl des Sprechenden Hutes saß. Obwohl er in einem Abteil voll mit gleichalten Mädchen stecke, die sich alle miteinander aufgeregt über das aufkommende Festessen, die Einteilung in die Häuser und die Schule an sich unterhielten, konnte Peter es nicht über sich bringen, mitzureden. Er war nervös und schwitzte ganz schrecklich. Ein feuchter Film bildete sich alle paar Minuten auf seiner Stirn und er versuchte sich jedes Mal unauffällig mit dem Ärmel abzuwischen.
Peter war ein pausbackiger Junge mit blonden Haaren, die ohne jede Ordnung auf seinem Kopf lagen und hellen, blauen Augen. Er hatte eine kleine Nase, außerdem waren seine Schneidezähne größer als der Rest. Seine Mutter nannte ihn deswegen immer Häschen.
Die Landschaft vor dem Fenster hatte er seit ein paar Stunden nicht mehr richtig mitbekommen. Alles schien wie ein viel zu schnell abgespielter Film abzulaufen, verschwommene Schemen und Farben, die sich wie ein einheitlicher Brei in seinem Hirn zusammenmischten. Er musste immer wieder an die Einteilung denken, die in ein paar Stunden stattfinden würde. Sein Vater war ein Gryffindor gewesen und seine Mutter eine Hufflepuff. Seine Schwester war eine Ravenclaw. Wenn sich der Hut einen Spaß mit ihm erlauben und ihn nach Slytherin stecken würde, damit seine Familie alle vier Häuser abgehakt hätte, dann würde er wahrscheinlich in Ohnmacht fallen. Er wollte nicht nach Slytherin, auf gar keinen Fall. Slytherin war laut seinen Eltern ein fieses Haus. Seine große Schwester sprach auch nicht in den höchsten Tönen von den Schlangen und selbst in Eine Geschichte Hogwarts‘ hatte sich die vorurteilhafte Meinung des Autors eingeschlichen und das Haus Salazar Slytherins als das unbeliebteste dargestellt, obwohl große Zauberer wie Merlin daraus entsprangen waren. Peter hatte, noch bevor er den Zug betreten hatte, den Entschluss gefasst, die Meinung des Sprechenden Hutes einfach nicht zu akzeptieren, sollte dieser ihn nach Slytherin stecken wollen. Wenn es sein musste, dann würde er den Hut einfach aufbehalten, solange bis er ihn in ein anderes Haus steckte.
Das Gesprächsthema der Mädchengruppe in seinem Abteil wandte sich von den Häusern zum baldigen Unterricht. Unterricht war noch etwas, das Peter nervös machte. In all seinen Versuchen, mit Magie etwas Vernünftiges und Gezieltes anzustellen, war er jedes Mal kläglich gescheitert. Seine Mutter hatte ihm gesagt, er solle nicht die Hoffnung verlieren und ihn daran erinnern, dass seine Schwester ebenfalls Schwierigkeiten mit den Anfängen gehabt hätte, aber jetzt Vertrauensschülerin und Klassenbeste war. Es waren große Fußstapfen, die Peter ausfüllen müsste, wenn er seine Mutter stolz machen wollte. Was würde es ihr bringen, wenn ihr Sohn nur mittelmäßig in der Schule abschnitt und ein passabler Zauberer war, wenn sie doch eine Tochter hatte, die in allen Fächern ein Ohnegleichen ablieferte und an der Spitze ihres Jahrgangs stand? Für Peter hatte der Schuldruck bereits angefangen, bevor er überhaupt einen Fuß in ebenjene Schule gesetzt hatte. Auf Hogwarts hatte er sich schon gefreut, seit er denken konnte, aber jetzt, da es wirklich so weit war, war er sich nicht mehr sicher, ob er bereit für all das war.
„Ich freue mich am meisten auf die Flugstunden“, sagte Dorcas Meadows, ein dunkelhäutiges Mädchen mit schwarzen Afrolocken und sehr warmen Augen. Sie redete sehr angeregt und gestikulierte viel mit den Händen, sodass sich das Mädchen neben ihr etwas in die andere Richtung lehnen musste, um nicht von einer fehlgeleiteten Hand erwischt zu werden. „Ich will auch so schnell wie möglich ins Quidditch-Team kommen.“
„Erstklässler werden nicht ins Team aufgenommen“, erwiderte Emmeline Vance. Sie war ein zierliches Mädchen, mit dünnen, braunen Haaren und einem unscheinbarem Gesicht. Ihre Wangen glänzten rot. „Mein Dad sagt, das sei seit hundert Jahren nicht mehr vorgekommen.“
„Dann breche ich eben mit der Tradition.“
„Was ist Quidditch?“, fragte Mary Macdonald mit verwirrtem Gesichtsausdruck. Um ehrlich zu sein, hatte Mary verwirrt dreingesehen, seitdem das Gespräch angefangen hatte. Mary war – wie sie mehrmals beteuert hatte – muggelgeboren und hatte absolut keine Ahnung von der Zaubererwelt. Sie war dunkelhäutig wie Dorcas und hatte ihre schwarzen Locken in zwei Zöpfe zusammengebunden.
„Ein Sport“, erklärte Dorcas ungeduldig. „Man spielt ihn auf Besen und es gibt – ach, nicht wichtig, das erklären wir dir, wenn es soweit ist, ja?“ Sie wandte sich wieder an Emmeline. „Du willst doch auch im Team mitspielen, oder nicht, Em?“
Auch wenn Peter meist nur mit halbem Ohr zugehört hatte, hatte er heraushören können, dass Dorcas und Emmeline sich bereits seit langer Zeit kannten. Anscheinend kannten sich ihre Mütter noch aus der Schulzeit oder so ähnlich, ganz genau hatte er es nicht verstanden.
„Wollen ja“, erwiderte Emmeline nickend. „Aber ich weiß, dass es nun mal die Regel gibt, dass wir das nicht vor dem zweiten Jahr dürfen.“
„Die Regel ist doof“, sagte Dorcas, als wäre die Diskussion damit beendet. „Worauf freust du dich denn am meisten, Mary?“
Das andere Mädchen tippte sich nachdenklich ans Kinn. „Nicht sicher“, meinte sie murmelnd. „So genau habe ich mir da noch gar keine Gedanken drüber gemacht. Aber wenn ich jetzt etwas sagen müsste, dann wahrscheinlich Verwandlung.“
Dorcas nickte. „Verwandlung finde ich auch spannend.“
„Mein Bruder Marek hat erzählt“, klinkte sich jetzt auch die vierte im Bunde ein, „dass Verwandlung von einer sehr strengen Frau namens McGonagall gelehrt wird.“ Das Mädchen hieß Marlene McKinnon, sonnengebräunte Haut mit dunkelblonden Haare, die weit über ihren Rücken gingen und sehr hellen, grünen Augen. Sie hatte ein rundliches Gesicht und eine Stupsnase, die ihr Ähnlichkeit mit einem Welpen gaben.
Mary fand die Idee von älteren Geschwistern, die bereits mit der Schule fertig waren und ein Leben in der Zaubererwelt führten, ungemein spannend. Mit glänzenden Augen wollte sie sofort wissen, was Marlenes Bruder denn machte, wie alt er war, welche Art von Magie er beherrschte und so weiter. Es war faszinierend, wie viele Fragen Mary in einem Atemzug aussprechen konnte.
„Er ist Fluchbrecher“, erklärte Marlene. „Zumindest Fluchbrecher in Ausbildung. Gerade ist er mit seinem Koboldlehrmeister in Nigeria unterwegs und sucht versteckte Schätze und sowas.“
„Wie cool“, sagte Mary, die sich auf ihrem Sitz vorgelehnt hatte. „Und hat er schon geheime Artefakte gefunden? Und Ruinen ausgegraben? Hat er Dinosaurierskelette entdeckt?“
Marlene lachte. „Du überschätzt, was ein Fluchbrecher wirklich macht. Meistens redet er nur mit den Leuten, die dort leben und sammelt Informationen und wenn er Glück hat, darf er mit Darruk auch mal in die bereits geleerten Ruinen gehen, aber ansonsten beschränkt sich seine Arbeit zurzeit sehr auf Papierkram.“
Enttäuscht, dass Marlene ihr keine spannenden Abenteuergeschichten erzählen konnte, ließ Mary sich wieder zurückfallen. Zur Überraschung aller, wandte sie sich zur Seite, an der Peter mit der Nase an der Fensterscheibe saß und fragte: „Was ist mit dir?“ Ihr Ton war freundlich und neugierig.
Peter schreckte zusammen. „M-mit mir?“, erwiderte er leise.
Mary nickte. „Hmhm. Wie ist deine Familie so?“
„Oh. Ähm.“ Peter bemerkte die Blicke, die Emmeline und Dorcas sich zuwarfen, als er stotternd nach einer Antwort suchte und sein Gesicht wurde heiß. „Ich – ich hab eine ältere Schwester“, brachte er hervor. „Phyllis. Sie ist jetzt in der Sechsten und zum zweiten Mal Vertrauensschülerin geworden.“
„Dann müssen deine Eltern bestimmt sehr stolz auf sie sein“, versuchte Dorcas sich an einer hilfreichen Antwort, auch wenn ihre Mundwinkel vor Belustigung zuckten.
Mary warf ihr einen giftigen Blick zu, bevor sie sich wieder zu Peter wandte. „Und deine Eltern sind auch magisch, ja? Was machen die so?“
Während Peter erklärte, dass er seinen Vater nicht mehr gesehen hatte, seit er fünf Jahre alt und seine Mutter jetzt erst wieder auf der Suche nach einem Job war, weil endlich beide Kinder nach Hogwarts fahren würden, bemerkte er, wie die Nervosität langsam von ihm abfiel. Vielleicht war es die Entspannung, mit anderen zu reden und die dunklen Gedanken an die Zukunft für einen Moment beiseitezuschieben, vielleicht war es auch Marys Plan gewesen, ihn von seinem Trübsal abzulenken, weil sie gemerkt hatte, wie er nervös und allein aus dem Fenster gestarrt hatte. Was auch immer es war, Peter war sehr dankbar, dass die Mädchengruppe ihn sofort mit in ihre Gespräche zog. Dorcas verlor das belustigte Zucken in ihren Lippen, wann immer Peter redete, und lachte stattdessen lautstark, wenn er etwas Witziges sagte.
Als es Zeit wurde, sich die Hogwarts-Umhänge anzuziehen, verließ Peter ehrenhaft für ein paar Minuten das Abteil und zog sich auf einer der Toiletten um, bevor er sich wieder an seinen Platz setzte. Die Nervosität und Aufregung hatte nun auch die anderen ergriffen. Mary friemelte geistesabwesend an einem losen Faden an ihrer Jeanshose herum und Dorcas und Emmeline waren in ein sehr leises, sehr geflüstertes Gespräch vertieft, die Augenbrauen zusammengezogen und Lippen zusammengepresst.
Lediglich Marlene sah so aus, als wäre sie die Ruhe selbst. „Ich mach mir keine großen Gedanken darum, in welches Haus ich komme“, sagte sie, als Peter sie fragte. „Mein Bruder war ein Ravenclaw, genau wie mein Vater, aber sie werden mich nicht gleich enterben, wenn ich in ein anderes Haus komme. Mein Vater hat mir sogar extra vor der Abreise zum wiederholten Mal erklärt, dass es auch okay wäre, wenn ich in Slytherin landen würde.“ Auf Peters überraschten Gesichtsausdruck hin lachte sie auf. „Ich weiß, so hab ich das erste Mal auch geguckt, aber er hat mir dann die Vorteile erklärt, die die Slytherin-Eigenschaften eigentlich bieten. Es gibt einfach zu viele blöde Vorurteile über die vier Häuser“, fügte sie an und lehnte sich mit verschränkten Armen zurück.
„Stimmt“, sagte nun auch Dorcas, die aus ihrer Unterhaltung mit Emmeline aufgetaucht war. „Nicht alle Ravenclaws sind Streber oder –“
„ – alle Hufflepuffs sind Loser“, endete Emmeline. Sie hatte einen sehr säuerlichen Gesichtsausdruck aufgesetzt. „Hufflepuff ist ein sehr gutmütiges Haus und jeder ist dort willkommen, aber das heißt nicht, dass es alles Loser sind!“
„Ems Eltern waren beide Hufflepuffs“, erklärte Dorcas leise an Peter, Mary und Marlene gerichtet. „Sie kann sehr verteidigend werden, wenn es um ihr Lieblingshaus geht.“
„Es ist nicht mein Lieblingshaus, vielen herzlichen Dank!“ Emmeline schmollte für einen halben Moment, dann grinste sie breit. „Auch wenn ich nicht Nein sagen würde, wenn der Hut mich nach Hufflepuff stecken will.“
Vor dem Fenster begab sich der Tag zu Bett und die Nacht holte ihr Zepter hervor. Am dunklen, sternenbesetzten Himmel glänzte ein fast voller Mond und verlieh der gesamten Landschaft, an der sie vorbeifuhren, einen übernatürlichen, silbrigen Glanz. Nur wenige Minuten später wurde der Zug deutlich langsamer und als eine magisch verstärkte Stimme durch die Abteile dröhnte, dass sie bald am Bahnhofs Hogsmeade ankommen würden, wurde die Stimmung zwischen den fünf Erstklässlern gedrückter. Selbst Marlene wurde ein wenig blasser, als sie schließlich zum Stillstand ansetzten.
Dampf quoll an ihrem Fenster hervor, als der Hogwarts-Express sein Ziel erreichte. Im Mond- und Laternenschein waren die Umrisse von dutzenden Häusern zu erkennen und für einen schrecklichen Moment dachte Peter, sie hätten sich verfahren, doch dann erkannte er das Schild, auf dem der Name des Dorfes verkündet wurde und entspannte sich wieder.
In der nächsten Stunde passierten viele Dinge, von denen Peter sich im Nachhinein nicht sicher war, ob er sie wirklich erlebt hatte. Als er und die vier Mädchen aus dem Zug stiegen, wurden sie von einem Mann begrüßt, der sicherlich vier Meter groß war. Dichtes schwarzes Haar wucherte wie ein Brombeerbusch auf seinem Kopf und verdeckte die Hälfte seines Gesichtes im Schatten eines ebenso massiven Bartes. Mit dröhnender, aber warmer Stimme hatte der Riese alle Erstklässler zu sich geholt, dann waren sie einem Trampelpfad zum Ufer eines schwarzen, schimmernden Sees gefolgt. Mindestens zwanzig kleine Nussschalen hatten am Ufer gelegen und der Riese hatte angeordnet, dass immer vier von ihnen in ein Boot sollten. Peter wurde von den Mädchen getrennt und geriet mit einem fies aussehendem Jungen und seinen zwei Freunden in ein Boot. Ohne dass irgendjemand von ihnen ruderte, fuhren die Boote wie von Zauberhand über das schwarze Wasser und brachten sie am anderen Ende des Sees auf die sichere Seite.
Hogwarts thronte wie ein Bilderbuchschloss über ihnen auf einem hohen Berg, eintausend kleine Lichter strahlten aus den Fenstern und die Türme streckten sich dem Sternenhimmel entgegen, als wollten sie alle den Mond kitzeln. Dem See folgte eine so lange Treppe, dass Peter seine Beine am Ende nicht mehr spüren konnte. Er japste nach Luft und wünschte sich nichts sehnlicher als einen eisgekühlten Krug voll mit Kürbissaft und vielleicht ein entspannendes Bad, aber es gab keine Zeit zum Ausruhen. Kaum waren sie am Ende der Treppe angelangt, scheuchte der Riese sie weiter zu einem massiven Holztor, das so hoch war, dass selbst ihr Gruppenleiter zwei Mal aufrecht hindurchgepasst hätte. Peter hatte keine Zeit, sich die schönen Maserungen und Schnitzmuster im Holz anzugucken, da hatte der Riese mit seiner massiven Hand bereits angeklopft und eine sehr streng aussehende Hexe mit schwarzen Haare, einem smaragdgrünen Umhang und einer dünnen Linie als Lippe hatte sie entgegengenommen.
Professor McGonagall hatten ihnen in knappen Worten erklärt, wie die vier Hogwartshäuser hießen und sie dann angewiesen, einen Moment auf sie zu warten. Als sie sich umgedreht hatte, ermahnte sie zwei Jungen, die ganz vorne standen, die sich gegenseitig Grimassen hinter ihrem Rücken gezogen hatten. Peter fing Marlenes Blick auf und er wusste, sie dachten beide dasselbe – Marlenes Bruder hatte noch untertrieben, als er McGonagall als sehr streng beschrieben hatte.
Die Stimmung unter den Erstklässlern kippte sofort. Die meisten von ihnen wurden unfassbar blass und zupften an ihren Umhängen herum und drückten sich die Haare zurecht, andere sahen aus, als könnten sie die Einteilung nicht mehr abwarten. Die beiden Jungs, die McGonagall ermahnt hatte, redeten am lautesten miteinander; sie verkündeten sich selbst und damit auch allen anderen, dass sie bereits ganz klar wussten, dass sie nach Gryffindor kommen würden und es daran auch keinen Zweifel gab. Ein dunkelhaariger Junge in ihrer Nähe warf ihnen dafür sehr düstere Blicke zu.
Schließlich kehrte Professor McGonagall nach einigen unendlich langen Minuten zurück und verkündete, dass die Schule nun bereit für sie sei.
Peter nahm einen tiefen Atemzug, bevor er sich in die Reihe der anderen Erstklässler stellte, Mary vor, Marlene neben und Dorcas und Emmeline hinter ihm. Die Pforten zur Großen Halle öffneten sich.