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Nach dem Prompt „Koi“ der Gruppe „Crikey!“
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Auf einem verschneiten, offenen Feld zwischen weißen Gipfeln erhob sich die Stätte aus grauem Stein. Drei paar Fußspuren durchbrachen die reine Decke, zogen sich über die Hänge bis an den Fuß der von zwei Stufenpyramiden umrahmten Treppe, und dort verliefen sie die Stufen hinauf bis ungefähr zur Hälfte, höher waren ihre drei Verursacher noch nicht gekommen.
Kaiserin Ntepaki wartete geduldig darauf, dass ihre Töchter zu ihr aufholten. Für die kurzen Beine der Mädchen waren die breiten, glatten Stufen ein Hindernis, obwohl sie flach genug waren, um von Erwachsenen problemlos überwunden zu werden.
Alle drei trugen weiße Kimonos mit zarten, blauen Linien als Muster. Mit ihrer blassen Haut und dem goldenen Haar war die kaiserliche Familie fast unsichtbar vor dem Schnee.
"Wieso kommt Papa nicht?", fragte Xin, während sie mühsam einen Fuß auf die nächste Stufe setzte und dabei versuchte, ihren kleinen Kimono hochzuhalten. "Ich dachte, heute ist ein Freier Tag?"
Hinter ihr ächzte Yomi, geriet aus dem Gleichgewicht und stützte sich mit den Händen im Schnee ab.
"Ein Feiertag, Schatz. Der Tag des Diamantdrachen." Die Kaiserin kam zurück und bückte sich, um ihre Jüngste aufzuheben.
"Dann ist doch heute kein Krieg, oder? Warum kommt Papa nicht zurück?"
"Euer Vater ist in Dhubaayana, Xin. Das ist sehr, sehr weit weg. Und morgen geht der Krieg weiter, also kann er nicht einfach zurückkommen."
Xin senkte finster den Blick. "Krieg ist doof!"
"Das gefällt niemandem, aber es ist notwendig", sagte die Kaiserin sanft. "Wenn ihr älter seid, werdet ihr das verstehen."
Yomi auf der Hüfte tragend reichte sie Xin die freie Hand und zog sie weiter hinauf. Der Wind blies eisig über die Stufen und über den offenen Platz, der sie ihnen nun offenbarte.
Es war ein steinerner Hof, der an vier Ecken von Stufenpyramiden umrahmt wurde, die inzwischen allesamt verlassen waren. Nur Dunkelheit gähnte durch die Öffnungen der ehemaligen Stätten. Überdachte Säulengänge führten auf drei Seiten von einem Turm zum anderen, rote, spitz zulaufende Dächer auf goldbesetzten, runden Säulen. Nur zum Tal hin, bei der Treppe, über die die drei Elfen gekommen waren, gab es keinen Gang.
In der Mitte des offenen Hofes, den selbst ein geübter Speerwerfer kaum mit einem Wurf durchmessen könnte, befand sich ein großes Becken mit einem flachen, kaum abgehobenen Steinrand. Die Wasseroberfläche lag spiegelnd da, auf der Höhe des mit Reliefs von Drachengesichtern verzierten Bodens, und war entgegen der Kälte nicht eingefroren. Ein leichter Nebeldampf stieg von der glatten Oberfläche auf.
Mit großen Augen betrachteten die Mädchen die Drachen auf dem Boden, eckige Gesichter mit breiten Mäulern und großen Augen, sich windenden Barthaaren und Edelsteinen statt Augen. Der größte, dessen Abbild mittig vor dem Becken lag, hatte große Diamanten als Augen, doch jeder der Drachen hatte einen anderen Edelstein, manchmal gar nur Kohle oder Kupfer, und neben der verwitterten Farbe hatten sie auch alle ein etwas anderes Aussehen und waren mit einem anderen Knotenmuster umrahmt.
Insgesamt waren es 15 Drachenköpfe, wie die Kaiserin wusste.
Sie trat an den Rand des großen Beckens und hieß die Kinder, hineinzusehen.
"Ohh. Fiffe!", quiekte Yomi begeistert und klatschte in die Hände.
"Heilige Fische", verbesserte Xin ihre kleine Schwester.
Die Koi strichen wimmelnd durch das Wasser, ein Schimmer bunter Farbkleckse.
Die Kaiserin ließ sich niedersinken, bettete Yomi in ihren Schoß und zog auch Xin an sich, ehe sie eine Pergamentrolle hervorzog und entfaltete.
"Dieser Teich, heißt es, geht unendlich tief ins Gebirge. Deswegen ist sein Wasser so warm. Denn, wie ihr wisst, die Berge bestehen aus den Körpern der Edelsteindrachen, die sich hier zur Ruhe setzen. Die Koi sind ihre Diener und übermitteln uns die Botschaften der schlafenden Drachen."
Sie entrollte das Papier und zeigte den staunenden Mädchen die Zeichnung darauf. Auf lapisblauem Untergrund war ein Fisch dargestellt, ein hellblauer Koi mit dunklerem Rücken, auf dem sich silbrig jede Schuppe abzeichnete, und mit roten Zeichnungen auf den an sich weißen Flossen. Daneben stand, kaum halb so lang wie der Fisch, ein Elf.
"Das ist der Kaiserkoi, der Vater aller Koi", erklärte Kaiserin Ntepaki. "Er wohnt hier, in der unendlichen Tiefe des Beckens, und deshalb wurde dieser Tempel hier errichtet."
Vorsichtig strich Xin über das Bild. Kleine Krümel der Farbe hefteten sich an ihre Fingerkuppen.
"Es heißt", fügte die Kaiserin leiser hinzu, "dass er der kaiserlichen Familie sein Leben verdankt. Einst war er von Fischern gefangen worden, doch der erste Kaiser erfuhr davon und befahl, dass der Koi verschont werde und man ihn stattdessen in diesen Teich bringe."
Suchend spähten die Kinder in die dunklen Wasser des Beckens, doch sie sahen nur normalgroße Koi, die unter dem kalten Himmel wimmelten.
"Wir brachten ihn hier in Sicherheit, wo er nicht gefangen werden konnte, sondern in Sicherheit war. Dafür versprach der Kaiserkoi, ewig über unsere Familie zu wachen. Und wenn man ihn am Tag des Herrschers der Drachen um etwas bittet ..." Die Kaiserin machte eine kurze Pause. "Dann kann es sein, dass er die Bitte vielleicht - nur vielleicht - erfüllt."
Die Mädchen nickten ernst.
"Ich weiß, was ich mir wünsche!", sagte Xin entschlossen.
"Pssst. Du darfst deinen Wunsch nicht aussprechen, sonst hört ihn der Turmalindrache und wird alles tun, ihn zu verhindern", warnte die Kaiserin. Dann fasste sie die Hände ihrer Töchter. "Ihr müsst die Augen schließen und es euch ganz fest wünschen. Denkt an das, was ihr wollt, so doll ihr nur könnt!"
Das taten sie. Alle drei hockten am Rand des Teiches, hielten einander die Hände und wünschten sich von tiefstem Herzen, dass ihr Ehemann und Vater, der Kaiser, bald zurückkehren möge.