Die Treppen fingen an zu knarzen, als Jule einen Fuß darauf setzte. Lotte hinter ihr, die immer noch mit dem Pinsel herum schwang als wäre sie eine Dirigentin, pfiff vergnügt vor sich hin. Dem Zustand des Treppengeländers nach zu urteilen, ging sie öfter den Farbpinsel schwingend die Treppen hinauf, denn überall waren kleine bunte Flecke zu sehen.
Der Flur ging hinauf in einen Gang. Als Jule den Zustand des Holzes prüfte, wusste sie nicht, ob es an der fehlenden Lichtquelle lag oder an dem Alter des Hauses, dass die Stufen aussahen, als wären sie angefressen und durchlöchert.
“War hier ein Holzwurm drinne?”, wollte sie schon fragen, doch sie biss sich auf die Zunge. Eine gut gelaunte Vermieterin hatte auch ihr Gutes. Stattdessen kniff sie die Augen zusammen, erklomm die zwölf Stufen und fand sich in einem schwarz gestrichenen Gang wieder. Und diesmal sah sie wirklich nichts. Die Schlitze der Türe waren alles, was die Polizistin wahrnahm.
“Ähh”, machte sie und hinter ihr trällerte Lotte fröhlich ‘Alle meine Entchen’ vor sich hin.
“Und das ist der Gang der Unendlichkeit?”, fragte Jule und unterbrach damit das Lied.
Wie die Rothaarige reagierte, nahm Jule nicht wahr. Was sie erkannte allerdings war der seltsame Fliedergeruch.
Da rummste es plötzlich laut direkt neben Jule, die erschrocken zusammen zuckte und die Wand neben sich skeptisch beäugte, aus der das Geräusch gekommen zu sein schien. “Was zum Geier war das?”
Lotte blickte sie unschuldig an. “Eine Taube?”
“Eine Taube? Im Haus?”
“Wenn du mir deine Pistole gibst, kann ich sie erschießen.”
Jule wollte schon ihr den Griff hinhalten, doch ihre Vernunft übernahm die Kontrolle. “Nicht im Dunkeln.” Und hier waren keine Menschen. [Anmerkung der Autorin: Sag das nicht zu früh, eigentlich ist Lottes geheimer Folterkeller bzw. Dachboden hinter der Tür.] Und es wäre ebenso verschwendete Munition.
Also gingen beide durch die erste Tür, die sich quietschend öffnen ließ und die Küche presigab. Die kleine Tischnische war mit allerlei vergammeltem Obst gefüllt, einiges an schmutzigem Geschirr lag verteilt in der Spüle und auf den Tresen. Zwei Stühle standen querbeet im Gang und die Fliesen hatten auch schon bessere Tage gesehen. Es sah fast so aus wie bei Jule.
“Wenn du nicht zufällig schichtest ist Putzen nicht dein Hobby, oder?”, kam es provokant von Jule, während sie die klebrigen, von der Decke hängenden Fliegenfallen betrachtete. Die schwarzen Punkte überlagerten die typisch gelbe Farbe. Jule sagte zu sich, dass der seltsam süße Geruch daher rührte. Oder von der Farbe.
“Ich bin halt sehr beschäftigt!”, verteidigte sich Lotte.
“Und womit?”
“Äh… Malen zum Beispiel?”
“Den ganzen Tag?”
“Ne, natürlich schlafe ich auch sehr viel.”
“Ohhh jaa, Schlaf”, stöhnte Jule sofort und ihre Lider flatterten. Wie gerne würde sie sich einfach fallen lassen. Ob der schwarze Gang wohl dafür geeignet wäre? Sehr gemütlich sah er ja nicht aus, aber in ihrem Zustand wäre ihr das egal. Sie machte sich mehr Sorgen um die Kriechtiere, die es sich dann vielleicht über Nacht in ihrem Haar gemütlich machen würden. Sie wollte lieber gar nicht wissen, was hier noch alles so sein Unwesen trieb. Neben der Taube in der Wand. Und außerdem trug sie die Sorge, dass ihre Waffe am nächsten Tag weg sein könnte.
Die nächste Zimmertür war zu, als Jule nach der Klinke griff. Lotte lief kommentarlos an ihr vorbei in den gegenüberliegenden Raum.
“Und hier wäre dein Reich”, präsentierte sie mit dem Pinsel und sorgte schon mal für ein paar Farbflecken.
Die Polistin [Anmerkung: Polisten sind kleine Polizisten] trat ein, erkannte die beiden großen Fenster. Der Ausblick war an das gegenüberliegende Haus gerichtet. Außer Straßenasphalt, ein wenig von der Gegend und den Fenster gegenüber erkannte man nur eine verblasste orangene Hauswand. Das Haus war sicher genauso alt wie Jule sich fühlte. Sie trat näher, prüfte den Fensterladen, der ein Quietschen von sich gab und dann hinunter in den Garten segelte und dort auf einigen vertrockneten Blumen landete. Eine Hummel summte erbost gerade noch davon, bevor der Fensterladen sie erschlagen hätte. “Hier sind echt einige Reparaturen nötig, nicht wahr?”, murrte Jule.
Lotte blinzelte. “Wieso denn? Mehr Sonnenlicht ist doch schön!”
Dabei war das Jules Todfeind.
Als die Polistin sich umdrehte, umfasste der Raum ca. zwölf Quadratmeter. Der Boden war in dem Holz gefertigt, den sie von alten Turnhallen kannte. Knarzend und abgetreten an den Stellen, an denen man häufig gelaufen war. Und die Mulde am Eingang deutete auf eine häufige Nutzung des Raumes hin.
Ein bekannter alter muffiger Geruch, gemischt mit alter Sportsocke und dem Mix aus Männerumkleide und Blumen-Deo, drang in ihre Nase und blieb haften. Und auch der Putz bröckelte langsam von den Wänden, der vom typischen Oma-Tapetenmuster bedeckt war - und einigen Flecken, von denen man lieber nicht so genau wissen wollte, was das alles war. Todesmutig fragte Jule trotzdem nach: “Ist das Rotze oder noch schlimmer?”
“Was denn?”, gab Lotte mit einem unschuldigen Blick zurück.
“Na, das da zum Beispiel!” Jule deutete auf einen besonders großen Fleck, dessen Farbe irgendwo zwischen grün, gelb und braun lag.
“Ich sehe nichts!” Und schon war Lotte einige Male mit ihrem Pinsel über den Fleck gefahren. “Da ist doch nichts!”, betonte sie erneut mit diesem verdammten unschuldigen Blick. Leider ging ihr Plan nicht auf, viel Farbe war nach dem ständigen Schwingen des Pinsels nicht mehr drauf und die Farbe des Fleckes war auch nicht viel ansehnlicher geworden. Er war immernoch braun. Nur eben jetzt frisch angestrichen.
Abwartend schaute die verrückte Künstlerin Jule an. “Und? Magst du den Rest noch sehen, oder reicht das?” Dabei hatte Jule nicht einmal das Badezimmer gesehen. Doch sie konnte es sich vorstellen. Langsam schüttelte die Polistin den Kopf. Das Lächeln auf Lottes Gesicht verschwand, sie schien traurig mit den Augen zu leuchten. Ihre Schultern hingen herab und irgendwie schob Lotte die Unterlippe vor, als würde sie schmollen.
Dabei war dieses Haus perfekt für Jule! “Ich nehme es”, sagte sie bestimmt und schaute Lotte an. Aus dem Hundeblick folgte ein Nicken.
“Supi”, machte Lotte und zeigte den Daumen hoch.
Ob das wirklich so eine gute Idee gewesen war?