Jule und Lotte gingen ein Stockwerk höher. In diesem befand sich ein ausgebauter Dachstuhl und scheinbar auch der gemütlichste Teil des ganzen Hauses. Ein abgesessenes Sofa stand im Zentrum neben einem Tisch mit drei Beinen, der gerade so Gleichgewicht halten konnte. Jule sah das verräterische Gaffertape um das vierte Bein. War das eine Metallstange?
Während Lotte sich auf das braune Ledersofa fallen ließ, sah sich Jule um. Ein paar Schränke standen wild umher. Manche Regale voller CDs, daneben ein alte Musikbox, größer als Jules Arm, und manche Farbeimer, deren Füllung zur Hälfte bereits eingetrocknet waren. Ein alter Röhrenfernseher stand in der hintersten Ecke, als sei er vor Ewigkeiten vergessen worden.
“Nett”, brummte Jule und ihre Müdigkeit schlug durch. Lotte winkte sie herbei und deutete wild auf den Sessel ihr gegenüber. Die Nähte waren bereits aufgeplatzt und die Watte quoll heraus. Jule setzte sich vorsichtig. Vielleicht könnte noch etwas kaputt gehen, wenn sie schief schaute. Unangenehm pieksten ihr einige Sprungfedern in den Allerwertesten.
Neugierig blickte sie allerdings auf das Stück Blatt Papier, das Lotte musterte und schließlich ihr mit einem Pinsel hinschob. “Ein Daumenabdruck reicht.”
Eigentlich nicht, mahnte sich Jule. Aber egal. Ihre Lider fielen ihr fast zu. Sie wollte es hinter sich haben. Trotzdem schüttelte sie den Kopf und blinzelte mehrmals. “Ich les es mir noch durch, okay?”, murmelte die Polistin und nahm die beiden Seiten in die Hand. Schon schob sich eine Augenbraue hoch. “Schreibt man Mievertrag nicht mit einem t? Und wieso steht da unten Delirius?” Sie deutete auf die obere Ecke.
Lotte zuckte mit den Schultern. “Du kannst auch einfach ohne durchlesen unterschreiben.” Jule fand, dass Lottes Grinsen etwas durchtriebenes hatte. Wie so ein bösartiger kleiner Kobold, der einen zum Schatz am Ende des Regenbogens führte, nur um einen zu fangen, zu häuten und zu essen.
Jule hob stumm die erste Seite hoch. Dort standen die üblichen Paragraphen eines Mietvertrags, allerdings schienen sie mit unterschiedlichen Stiften handschriftlich ergänzt worden zu sein. Lotte brummte: “Du wolltest das Zimmer, also musst du jetzt auch unterschreiben. Versprochen ist versprochen und wird nicht gebrochen!”
Jule runzelte die Stirn, fragte lieber nicht nach, wie alt Lotte eigentlich war, und las die Paragraphen.
§1: Mieträume
Der Mieter darf alles nutzen, außer, wenn Lotte drin ist. Dann muss der Mieter warten, bis Lotte fertig ist. Ausnahmen: … Es kamen mehrere Leerzeichen. Dann, mit einem anderen Stift geschrieben: Gibt keine.
“Was ist das Delirius?”, fragte Jule zögerlich.
Lotte schien aus einer Trance zu erwachen. “Achso, das ist das hier. Weißt du, die Mehrzahl von Delirium ist Delirius. Und weil ich so viele mentale Phasen habe beim Künstlern, lebe ich sie hier oben gedanklich aus.”
§2: Mietzins und Nebenkosten
Die Mietkosten betragen: Individuelle Monatsmiete. Diese ergibt sich aus Nutzung der Räumlichkeiten und Sympathiepunkten. Abhängigkeit von Lottes allgemeiner Laune. Ausnahmen: Gibt keine, wie üblich.
“Wie kann man bei dir Sympathiepunkte bekommen?”, wollte Jule wissen und fragte sich gleichzeitig, warum sie nicht längst aufgestanden und gegangen war.
Lotte pfiff vergnügt, dann sagte sie: “Keine Ahnung.”
“Aha.”
§3: Zahlung der Miete und Nebenkosten
Der Mieter hat zu zahlen. Wenn er kein Geld hat, ist das halt so. Nur Lotte muss immer was zu essen haben, dann geht’s. Sonst könnte es für den Mieter gefährlich werden. Außerdem ist das hier Hugo. Das erklärt alles.
§4: Mietdauer
Bleibt solange drin, wie Lotte Lust dazu hat. Wenn Lotte sagte: Nö!, dann wird der Mieter rausgeschmissen. Ganz einfach.
Oder wenn der Mieter zu wenig Sympathiepunkte hat. Sinkt die Leiste auf unter 100, dann besteht eine Chance, dass die Wohnung freigegeben wird. Die Leiste beginnt im Übrigen bei 0 und muss innerhalb der ersten Woche aufgefüllt werden.
“Bei welcher Punktezahl bin ich denn? Sympathiepunkte, meine ich.” Was kam denn bitte noch?
“Grade bei 15.”
“Und wie kann man auf 100 kommen?” Jule hob den Blick.
“Gar nicht. Da steht nur Hugo und ich natürlich.” Das selbstverständliche Grinsen seitens der Künstlerin schien zu sagen, als sei das alles selbstverständlich.
“Ah ja.”
“Musst dich halt ein wenig anstrengen”, gab Lotte ihr den hilfreichen Tipp. Jule überlegte für eine Sekunde, ob sie sich das wirklich antun wollte oder die Künstlerin lieber gleich erschießen, im Garten verscharren und das Haus für sich alleine nutzen.
§5: Mietsicherheit
Lotte ist die Sicherheit in Person! Schütze sie, und dir wird nichts geschehen! Füttere sie regelmäßig, dann gibt es auch keine weiteren Toten mehr.
§7: Zustand der Miete
Hugo sollte immer voll umsorgt werden!
§6: Instandhaltung
Siehe §7.
§8: Hausordnung
Regeln stellt Lotte auf. Sonst keiner! Sie hat das einzige und vollumfängliche Recht, die Regeln je nach ihrem Gutdünken und ihrer Laune stetig anzupassen.
§9: Kündigung
Eine Kündigung kann nur erfolgen, wenn Lotte es so möchte. Der Tod gilt im Übrigen nicht als Kündigung, der tote Mieter hat weiterhin zu zahlen. Keine Ausreden!
§10: Individuelle Vereinbarungen
Hier ist noch Platz für Ergänzungen, die Lotte spontan einfallen. Der Mieter selbst hat keine Rechte. Mit seiner Unterschrift bestätigt der Mieter, dass er jegliches Recht über seine eigene Person und Freiheit in den Wänden von Hugo aufgibt.
“Das ist ein interessanter Vertrag”, meinte Jule gedehnt und schaute mit Kopfschmerzen zu Lotte. Die schaute unschuldig in Richtung Polizistin, dessen Kopf sich drehte.
“Ja, nicht?”, strahlte Lotte begeistert und verwandelte ihren Ausdruck dann in einen Hundeblick. “Es gibt doch kein Problem damit, oder?”
Ein Gähnen entwich, dann tränten Jules Augen. “Mhh.”
Automatisch griff sie nach dem Pinsel, malte ihren Daumen an und leckte aus Gewohnheit darüber, als würde die Seiten umschlagen wollen. Es schmeckte seltsam, doch das augenblicklich erneute Gähnen unterdrückte jeden Gedanken.
So drückte sich der feuchte Daumen gegen das Papier und Lotte jubelte. “Willkommen!”, schrie sie, doch Jule bekam nichts mehr mit. Sie lehnte sich zurück und schloss die Augen. Erst mal eine Runde schlafen in ihrem neuen Zuhause.