Aus den Tiefen der Kehle kratzte die Müdigkeit ihre letzten Reste und brachte Jule damit ein Gähnen zustande, dass sie so nur selten von sich hörte. Und meistens dann, wenn sie nach dreizehn Stunden immer noch hätte schlafen wollen. Das funktionierte aber nur dann, wenn ihr Rücken nicht so steif wäre und ihr Mund so trocken. Jule blinzelte und die Augen waren durch die Tränen, die sie durch das stetige Gähnen hervorbrachte, verklebt. Müde rieb sie sich im Gesicht und brummte irgendwas Unverständliches. Dann endlich, nach ein paar Minuten, hatte sich ihr Kreislauf einigermaßen wieder im Griff, bemerkte die Polistin, wo sie war.
Hugo, das Haus.
Lotte, ihre neue Vermieterin.
Und ihr neues Zuhause.
Sie stand auf, dehnte sich und rieb sich die Schultern. Und gähnte wieder.
“Guten Morgen”, trällerte jemand, und Jule drehte sich um. Es war Lotte, die noch in ihrer Maleruniform steckte. Und mehr Farbtupfer im Gesicht hatte als zuvor. “Kaffee?”
“Allein die Tatsache, dass du, bevor du mit irgendwas kommst, mir Kaffee anbietest, bringt bei mir Sympathiepunkte ein.”
Lotte zuckte nur mit den Schultern. “Bringt dir aber keine bei mir ein.” Jule verengte die Augen und man sah ihr an, dass sie die Anspielung recht spät verstand. “Ah.”
Müde stand Jule auf, folgte der Verrückten hinunter in die Küche und gähnte fleißig. Hatte sie heute Nachtschicht? In ihrem Kopf ratterte es und sie hatte irgendwo etwas von Dienst in Erinnerung. Ihr Handy müsste ihr es sagen können. Also schaute sie im Kalender nach und entdeckte, dass sie heute Spätschicht hatte. Und es war 15 Uhr. In einer halben Stunde müsste sie im Dienst sein.
“Scheiße!”, schrie Jule und war mit einem Mal hellwach.
“Was ist denn?” Lotte kam aus der Küche und hielt einen angelaufenen Löffel in der Hand.
“Ich muss heute zur Arbeit. In einer halben Stunde.” Sie blinzelte, überlegte und zuckte mit den Schultern. Jule wählte eine Nummer und rief ihren Vorgesetzten an.
“Ja?”, kam es am anderen Ende der Leitung. “Jule, was gibt’s?” Finn hörte sich rau an. Und genervt, als hätte sie ihn bei etwas gestört. Etwas Wichtigem. Wahrscheinlich war er wieder damit beschäftigt, die Stofftiere in seinem Büro zu streicheln. Angeblich wirkte das beruhigend auf ihn, deshalb schenkten ihm die Kollegen ständig welche. Oder er hatte wieder jemanden bei sich, immerhin war Finn für seine Attraktivität bekannt. Daraus machte er auch keinen Hehl.
“Mir geht’s nicht gut, ich würde mich heute krank melden.”
Neugierig betrachtete Lotte das Gespräch und hustete im Hintergrund. Wohl, um Jule zu helfen.
“Wer ist denn da im Hintergrund?”, fragte Finn. “Du wohnst doch allein.”
“Äh, meine Katze.”
“Du hast keine Katzen.”
“Dann die Nachbarskatze.”
“Aha.”
“Und, kann ich heute krank machen..äh..sein?” Jule hielt den Atem an. Und schloss die Augen. Sie brauchte dringend Kaffee.
“Äh, ja?”, brachte Finn hervor und schwieg. Im Hintergrund hörte man ein undefinierbares Geräusch. Etwas zwischen einem Stöhnen, einem Jammern und einem Husten.
“Wer hustet denn da?”
“Äh…”, machte Finn. “Dein Nachbar…Ich meine, mein Nachbar.”
“Du hast keine Nachbarn. Du wohnst beinahe im Wald.”
“Dann eben jemand anders.” Im Hintergrund hörte Jule eine bekannte Stimme, die nach etwas fragte. Der Stimmklang war die von…
“Ist Wilhelm bei dir?”
“Nein”, sagte Finn, während im Hintergrund ein “Ja” glasklar zu hören war. “Gut, dann gute Besserung”, machte Finn schnell und die Leitung war tot. Jule sah verdutzt zum Handy, schüttelte den Kopf und sah Lotte an, die grinsend Jule ansah.
“Kaffee?”, fragte die Malerin und nickte zur Küche. Jule gähnte wieder und wollte einen Schritt machen, als ihr ein stechender Geruch in die Nase stieg. Sofort verband sie den Rauch mit etwas Verbranntem, als die Polistin in die Küche zum Herd hechtete. So schnell sie konnte, drehte sie am Regler und griff nach einem Handtuch, griff nach dem Espressohalter, den sie sofort in den Händen hielt. Das Plastik war geschmolzen und mit großen Augen schubste sie die große Metallkanne von der heißen Herdplatte. Von dort kam der unangenehme verbrannte Geruch.
“Was ist denn?”, fragte Lotte pfeifend, während sie die Tapete musterte und mit dem Finger einem Farbtupfer umrahmte.
“Die Kanne, was..”, Jule stoppte, als sie mit dem Topflappen die Kanne aufdrehte und glühende Stückchen sah. Verbranntes Plastik stach ihr in die Nase, sie hustete. Auch das Gummi vom Filter war geschmolzen.
“Hast du das Wasser vergessen?”, fragte die Polistin in ruhigem Ton.
“Öh, kann sein”, kam es von Lotte. “Aber jetzt bist du immerhin wach.” Während Jule also die Kanne mit kaltem Wasser übergoss und die Fenster aufzog, sich schon gar nicht mehr über die fehlenden Rauchmelder wunderte, schaute sie ab und an zu Lotte, die den Farbtupfer mit Bewunderung betrachtete. “Ist das so spannend?” Die Frage konnte sie sich nicht verkneifen.
“Ich warte nur.”
“Und worauf?”, wollte Jule wissen.
“Dass du uns Kaffee machst.”
Jule stöhnte, freute sich, die Waffe an ihrem Körper zu spüren. Immerhin war die nicht weg. Lotte musste sie alles zutrauen.
Murrend machte sich Jule daran, Kaffee zu kochen. In den Schränken, die teils gefüllt waren, fand sie noch eine kleinere Espressokanne, die sie mit Wasser befüllte und in den Filter das Pulver löffelte. Dann wartete Jule auf der Herdplatte darauf, dass das Wasser anfing, zu kochen.
Plötzlich spürte sie einen Pieks in ihrem Unterarm. “Aua!” Vorwurfsvoll schaute sie zu Lotte, die fasziniert den Blutstropfen auf der Nadel betrachtete, mit der sie der Polistin gerade in den Arm gestochen hatte. “Was zum Geier soll das denn?”
“Der Vertrag muss noch mit Blut besiegelt werden”, verkündete die Künstlerin, die ganz eindeutig nicht mehr alle Tassen im Schrank hatte. Metaphorisch und wortwörtlich, denn Jule konnte im Schrank in der Tat keine Tassen mehr finden. Sie stapelten sich ungewaschen neben der Spüle. “Findest du nicht auch, dass Blut so eine wunderschöne Farbe hat? So ein leuchtendes Rot!”, schwärmte Lotte.
“Wie lange genau lebst du schon alleine?”, wollte Jule wissen.
“Zeit ist doch völlig bedeutungslos”, entgegnete Lotte, bevor sie verschwand. Wahrscheinlich um das Blut auf den Vertrag zu träufeln. Oder um es für irgendeine gruselige Darstellung zu nutzen, wenngleich sie dafür sicher mehr bräuchte. Jule nahm sich vor, ihre Zimmertür nachts abzuschließen und die Waffe unters Kopfkissen zu legen.
“Keine Antwort wäre auch eine Antwort gewesen.” Jule spülte zwei Tassen und stellte sie mit dampfenden Inhalt auf den Tisch. Dann betrachtete sie die dreckige Theke, das ungespülte Geschirr und den Schmutz auf dem Boden.
“Ich sollte wohl heute noch mein Zeug holen”, sagte sie sich dann nach einer Weile, während die dem Obst beim Gammeln zusah.