Es glich einem Überraschungsei, was Jule auf dem Dachboden zu finden vermochte. Erst irgendwelche Balken, die morsch in der Ecke lagen und hinter den bereits seltsam zusammengeschraubten Schränken sammelten sich Spinnenweben und allerlei, das Jule nicht weiter definieren wollte. Aufräumen war nichts für Lotte. Definitiv nicht.
Und keine Möbel, die sie irgendwie verwenden konnte.
“Wo sind eigentlich deine Möbel?”, fragte Lotte, die neugierig die Polizistin beäugte, wie sie auf dem Dachboden etwas Brauchbarem suchte.
“Ich habe keine”, flüsterte Jule und kroch wieder aus der Ecke hervor. Ihre Haare standen überall ab und weiße Fäden zierten ihr Oberteil. “Kasernenleben.” Als würde dieser Begriff alles erklären ging Jule zurück zu ihrem Zimmer, während Lotte ihr folgte. Wie ein treudoofer Dackel schaute sie sich in dem leeren Zimmer um.
“Und wo sind deine Möbel hier?”
“Das habe ich doch gesagt. Ich habe keine. In der Kaserne gehört bis auf deine privaten Klamotten nichts dir.”
Lotte hob das Kinn, als würde sie verstehen. Jule schaute sie skeptisch an. Das Gesicht der Künstlerin war abwesend, als wäre sie tief in Gedanken versunken. Vermutlich hatte sie ihr überhaupt nicht zugehört. Wundern würde Jule nichts mehr. Doch dann wurde sie überrascht mit einem Vorschlag, der noch dämlicher war, als sie gedacht hatte. “Und selber bauen?” Lotte wirkte von ihrem Vorschlag sehr überzeugt. Sie schien vor Tatendrang regelrecht zu sprühen und schien im Kopf bereits tausend Ideen durchgehen.
“Ja klar”, lachte Jule, um Lotte mit ihren wirren Ideen den Wind aus den Segeln zu nehmen. “Lieber kaufe ich welche.” Wobei, dachte sie, für dieses Schrotthaus könnte man auch Schrott holen.
“Iwo! Das wird super!”, schwärmte Lotte überschwänglich.
“Super scheiße”, brummte die Polistin, die Lottes plötzliche Energie ein wenig einschüchterte. Doch bevor sie weiter widersprechen konnte, wurde sie auch schon von Lotte mitgezogen. Blieb ihr denn absolut gar nichts erspart?
“Das willst du nicht nehmen, oder?” Lottes Vorschläge glichen einem bösartigen Krebsgeschwür. Jedes Mal, wenn Jule ihr sagte, sie solle nach einfachen, neutralen und gut erhaltenen Möbel suchen, die wirklich nutzbar waren und nicht zerlöchert die letzten Jahrzehnte hier verbracht hatte, kam sie mit etwas anderem her.
“Nein, Lotte. Eine rosa Lampe mit einem Loch bringt mir nichts. Ich brauche einen Schrank. Immer noch.”
Auf dem Schrottplatz fand sich hin und wieder etwas, das man für wenig Geld gebrauchen konnte. Sicherlich. Jule sah stolz zu, wie die gut erhaltenen Bretter eines alten Bettes mitsamt Matratze, erst vorgestern abgegeben und gut erhalten, hinter ihr auf einem Mietfahrzeug ruhte. Daneben stand eine alte Lampe, die zugegebener Maßen ziemlich rostig aussah.
“Und das hier?” Jule drehte sich um und stutzte. Lotte schleifte eine Plane her. Und vier Stöcke.
“Soll ich in deinem Zimmer zelten, oder wie?”
“Nee, das kannst du als Schreibtisch verwenden!” Lotte zeigte auf die dunkelgrüne Plane, die Jule an eine Gartenplane erinnerte. Lotte forderte die Polizistin auf, zwei Enden zu nehmen. Irgendwoher zauberte Lotte Klebeband, band die beiden erste dicken Stöcke an die Enden, die Jule festhielt, und tat dasselbe mit den anderen beiden Enden. Dann spannte sie die Plane und rammte die Stöcke in den weichen Untergrund.
“Tadaaa”, flötete sie. “Und hier hast du eine Fläche, auf der zu malen kannst.”
“Ich möchte aber nicht malen, ich möchte darauf mein Laptop stehen haben können. Und vielleicht ein paar andere Büroutensilien. Aber das wird nicht funktionieren.”
Für einen Moment wirkte Lotte irritiert, als ob es unmöglich Menschen geben könnte, die nicht malen wollen würden und einen Schreibtisch nur für so langweilige Dinge wie Laptops und Büroutensilien - ein Wort, das schon vom Klang her Horrorschauer über den Rücken laufen ließ - nutzen würden, doch sie fing sich schnell wieder. “Doch, passt perfekt!” Lotte nahm einen Kieselstein und legte ihn auf die Plane. “Und Gewicht hällt er auch aus.”
Die kleinere Frau schaute schräg, nahm einen Erdhaufen und schüttete mehrere Hände voll davon auf die Plane, bis es in der Mitte zusammenbrach. “Nein, siehst du?”
“Jetzt ist es Kunst”, bestimmte Lotte und ging ohne ein Wort weiter.
“Mit dieser Einstellung ist doch alles Kunst”, rief Jule ihr murrend nach.
“Genau so ist es, von einem gewissen Standpunkt aus betrachtet ist alles im Leben Kunst, man muss nur richtig hinschauen!”
Jule murmelte leise vor sich hin: “Notiz an mich selbst: Diskutiere nicht mit Verrückten.”
“Was hast du gesagt?”, wollte Lotte wissen.
“Äh, ich hab nur gesagt, dass es sehr schön ist, philosophische Diskussionen mit dir zu führen.”
Lotte strahlte. Damit hatte Jule sich auf jeden Fall schon mal Sympathiepunkte gesichert. “Ich kann dir heute Abend einige kunstphilosophische Abhandlungen geben, dann können wir später darüber diskutieren! Es gibt zum Beispiel eine, die sich mit weißen Wänden beschäftigt und wie unterschiedlich weiß sein kann, sehr spannend!”
“Ähm…” Verdammt, wie bekam sie sich da jetzt wieder raus manövriert? “Ich bin leider, ähm, sehr beschäftigt.”
“Womit?”
“Arbeiten? Geld verdienen? Krank sein.” Überzeugend hustete sie einmal.
Lotte winkte ab. “Alles unwichtiger Humbug. Bring deinem Chef einfach die Bücher auch mit und dann macht ihr eine gemeinsame Leserunde, wirst sehen, die werden das lieben!”
“Weiße Wände liebt jeder”, brachte die Polizisten raus. Warum erschoss sie Lotte noch mal nicht einfach? Sie könnte sie mühelos zwischen all dem Schrott verstecken. Achja, sie hatte einen Eid geleistet. Eide sind überbewertet, flüsterte ihr eine böse Stimme in ihrem Kopf zu, Lass es wie einen Unfall aussehen. Oder sie könnte sich selbst zwischen dem Schrott verstecken. Das wäre zumindest legaler. Mit erhobener Faust kam noch ein “Yeah” dazu und sie tat weiter so, als würde sie nach etwas suchen. Beinahe panisch rannte Jule von Lotte weg, die geistesabwesend Löcher in die Luft starrte. Jule wollte lieber nicht wissen, was jetzt wieder in dem wahnsinnigen Künstlergehirn vor sich ging.
“Wieso nur?”, fluchte Jule ein wenig lauter und stolperte gradewegs über ein Holzstück. Schreiend konnte sie den Fall abfedern, in dem sie sich abrollte.
Sofort war Lotte da. “Ich habe einen Schrei..uhhhh.” Und sofort war Lotte abgelenkt. “Das ist aber hübsch.”
Jule rieb sich die schmerzende Schulter und schaute auf. “Was ist an einem Drahtgestell bitte hübsch?”
“Na, schau”, Lotte bog die einzelnen Teile zu etwas zusammen und hob es Jule hin. “Das ist ein Pferd.”
“Das ist Schrott. Und es sieht nicht aus wie ein Pferd. Eher wie ne Ente.”
“Oh.” Lotte zuckte mit den Schultern. “Dann ist es eben eine Mischung. Eine Pferdente.”
Jule gab sich einfach hin. Mit gerunzelter Stirn warf sie den Kopf nach hinten und schaute in den Himmel. “Lieber Herrgott, ich suche doch nur einen Schreibtisch.”
Schweigen setzte ein und Lotte hörte auf, an dem Stück Metall jedes Ende abzubiegen und teils abzubrechen. “Wieso? Fandest du meinen nicht toll?” Sofort stiegen Tränen in die Augen in die Augen der Rothaarigen. Jule fluchte innerlich.
“Doch?”, kam die zögerliche Antwort. “Aber ich brauche noch einen?”
“Wieso denn noch einen? Wenn meiner doch so toll ist?” Weitere Tränen rollten über Lottes Wangen.
“Äh ja, natürlich, deiner ist ganz hervorragend.”
“Super, dann nehmen wir den und können jetzt gehen!” Sofort waren die Tränen verschwunden. Dieses kleine manipulative Miststück…
Jules Frust stieg dermaßen an, dass vor Ärger ihr die Tränen über die Wangen kullern. Doch kein Wort drang aus ihrem Mund.
“Weinst du vor Freude?” Lotte kniete sich hin und betrachtete fröhlich die Polistin. Es gab keinen Moment in Jules Leben, in der sie mehr das Gefühl gehabt hatte, bedroht zu werden. Würde irgendein Wort fallen, das Lotte nicht gefiel, hätte Jule verloren. Lotte brauchte keine Waffe, sie war die Waffe selbst. Auf ihre eigene besondere nervige manipulative Art.
“Reiner Freude.” Jule formte ein aufgesetztes Grinsen. Sie hätte auch mit den Zähnen fletschen können, das war Lotte egal. Denn die Plane und die Stöcke waren mitsamt Klebeband bereits im Wagen.