Das Rauschen des Meeres umhüllte mich wie ein schützender Kokon, während ich den Wellen zusah, wie sie auf die Klippe der Küste trafen und sich mit einem ohrenbetäubenden Klatschen in unzählige Tropfen teilten, die durch die warmen Sonnenstrahlen einen Regenbogen bildeten.
Der Anblick der rauen Natur brachte meinen Körper zum Beben und ich erwischte mich dabei, wie gerne ich an der Klippe stehen und mich von den feinen Tröpfchen benetzen lassen wollte. Aufgewachsen mit viel Outdooraktivitäten war es für mich selbstverständlich, mich mit der Natur in Einklang zu bringen und ihren unendlichen Geschichten zu lauschen.
Ein einziger Gedanke hinderte mich an meinem Vorhaben, alles stehen und liegenzulassen: Ich musste meinen widerspenstigen Koffer zubekommen, noch bevor Erik ins Schlafzimmer kam.
Leicht gequält drehte ich mich um und seufzte. Der Anblick des Kleiderchaos auf dem Bett war unerträglich und die Unruhe in mir wuchs. Ich war ein ordnungsliebender Mensch und seit unser Haus fertiggestellt war, achtete ich darauf, dass alles seinen Platz hatte.
Ich ließ meinen Blick durch das lichtdurchflutete Schlafzimmer gleiten und schmunzelte beim Anblick der hellen Kommoden, auf denen nicht nur Erinnerungsfotos, sondern auch Pflanzen standen. Für alles, was Grün war, besaß ich ein Faible und wenn es nach mir gegangen wäre, hätte ich die Wände in dieser Farbe gestrichen. Da mein Verlobter und ich uns jedoch für ein Holzhaus entschieden hatten, stand außer Frage, die natürliche Farbe der Bäume zu präsentieren. Die hellbraunen Wände passten gut zu den teils rustikalen, teils modernen Möbeln und sorgten so für eine Harmonie, in der wir uns beide wohlfühlten.
Mein Lieblingsplatz im Schlafzimmer war das urgemütliche Boxspringbett, von dessen Nutzen ich Erik erst hatte überzeugen müssen. Jetzt war er derjenige, der morgens nicht aus dem Bett kam und sich trotz Weckers und Decke Wegziehens einfach zusammenrollte und wie ein kleines Kind weiterschlief. Der Anblick war so süß, dass ich mich dann einfach ans Bettende setzte und ihn für einige Minuten beobachtete, ehe ich die radikale Weckmethode in Form eines nassen Waschlappens anwandte.
Die Rache oder Retourkutsche, wie Erik sie nannte, bekam ich stets am Wochenende zu spüren, wenn ich länger schlafen wollte. Die Neckereien zwischen uns bestanden seit dem Tag, an dem wir uns das erste Mal gesehen hatte.
Mein Blick schweifte zu einem der Fotos, auf dem Erik, sein jüngerer Bruder Sven und ich auf einer Kletterburg auf dem ortsansässigen Spielplatz turnten und über und über mit Dreck bedeckt waren. Ich schloss meine Augen und sah genau die Szene vor mir.
„Hey! Mach Platz!“, rief Erik und stemmte seine Hände in die Hüften. „Oder hast du vor, hier zu übernachten?“
„Redest du mit mir?“, fragte ich mit einem Mix aus Angst und Unschlüssigkeit, ob ich die wackelnde Holzbrücke überqueren sollte oder nicht.
Erik verdrehte die Augen. „Ja, wen denn sonst? Du bist die Einzige, die den Weg blockiert! Mach Platz, Sven und ich müssen den Abgrund in dem gefährliche Krokodile lauern, überqueren, bevor uns die Wikinger angreifen!“
Ohne zu warten, packte er mich am Arm und zog mich zur Seite, ehe er mit seinem Bruder, der mehr schlecht als recht das Netz hinaufkletterte, an mir vorbeizog und: „Sie sind da! Lasst uns unser Dorf verteidigen!“, rief. Darauf folgte ein Schlachtruf, der mich zusammenzucken ließ.
Plötzlich kamen von der anderen Seite drei Jungen in unserem Alter, die mich mit ihren Blicken fixierten. Ihr Anführer – ein hagerer Junge mit schief stehenden Zähnen –, lachte. „Seht mal. Die haben eine holde Maid! Schnappt sie euch und nehmt sie gefangen!“
Meinte er wirklich mich? Ich sah mich um und erkannte, dass ich als einziges Mädchen auf der Kletterburg herumturnte, während die anderen lieber im Sandkasten spielten oder schaukelten.
„Sie gehört uns!“, rief Erik und stellte sich mit Sven verteidigend vor mich. Ich legte meine Hand auf seine Schulter und er warf mir einen Blick darüber hinzu. „Was ist?“, zischte er.
Meine Güte, war er frech!
„Ich kann für mich selbst kämpfen“, sagte ich bestimmt und krempelte meine sandigen Ärmel nach oben.
„Ein Mädchen, das kämpfen kann, hm? Wie heißt du?“, fragte er mit einschätzendem Blick, ehe er Sven zunickte.
„Freyja, und du?“
„Erik und das ist Sven“, sagte er und stieß ein erneutes Kampfgeheul aus. „Dann lasst uns für unser Dorf kämpfen!“
Ruckartig erwachte ich aus meiner Erinnerung und sah blinzelnd zu Erik. Mit verschränkten Armen, aber einer Mischung aus verzweifeltem und amüsiertem Grinsen, sah er auf das Chaos.
„Du bist immer noch nicht fertig?“, seufzte er und ging auf den Koffer zu. Diesen drehte er einfach um und das Gepackte purzelte aufs Bett.
„Nicht!“, rief ich entsetzt. „Das waren die Dinge, die ich auf jeden Fall mitnehmen werde!“
Kopfschüttelnd betrachtete Erik meine Auswahl. „Und wo bringe ich meine Kleidung unter?“
Erwischt wurde ich rot um die Nase und sah beschämt auf den Stapel, der fein säuberlich auf dem Bett lag. „Daran habe ich nicht gedacht“, entschuldigte ich mich, seufzte und riss mich zusammen. Gemeinsam schafften wir es innerhalb einer halben Stunde, den Koffer mit unserer Kleidung zu bestücken.
„Haben meine Eltern schon angerufen?“, wollte ich wissen und setzte mich auf den Koffer, damit Erik ihn schließen konnte.
Er hielt inne und musterte mich nachdenklich. „Ich habe das Gefühl, du warst in einer anderen Welt. Sie sind bereits unten und warten auf uns“, sagte er.
Wie von der Tarantel gestochen, sprang ich auf und raste nach unten, um meinen Eltern zur Begrüßung um den Hals zu fallen. „Verzeiht, Mamma og Pappa*!“, keuchte ich. „Ich war in Gedanken und konnte mich nicht entscheiden.“
Mein Vater fuhr sich lachend über sein dunkelbraunes, wuscheliges Haar. „Das bist eindeutig du“, neckte er und warf meiner Mutter ein Blick zu. „Die Tagträumerei hat sie von dir“, behauptete er, woraufhin er von uns beiden einen empörten Knuff bekam.
Wir brachen in Gelächter aus, das nach einigen Sekunden abbrach, als Erik keuchend den Koffer nach unten trug. „Wir müssen bestimmt wegen Übergepäck zuzahlen“, sagte er atemlos und lehnte sich schließlich gespielt erschöpft auf ihm ab.
Ich trat an ihn heran und befühlte seine Muskeln am Oberarm, für die er täglich in unserem kleinen Fitness-Raum trainierte. „Ach komm schon, du bist ein kräftiges Bürschchen. Pappa hilft dir bestimmt, ihn zu verladen. Dann können wir endlich los.“
Aufgeregt, den Mittsommerurlaub gemeinsam mit meinen Eltern in Spanien zu verbringen, schnappte ich mir die Mappe auf der Kommode, in der Flugtickets sowie Reisepässe und Euroscheine lagen.
„Sven weiß Bescheid?“, erkundigte ich mich während des Zählens.
Erik nickte. „Den Schlüssel habe ich ihm heute Morgen gegeben, er kommt vorbei und gießt die Blumen“, bestätigte er und hievte mit meinem Vater unseren Koffer ins Auto. Endlich konnte es losgehen! Der Flughafen Andøya war nicht weit von uns entfernt und meine Aufregung wuchs, als mein Vater den Wagen startete.
Erik und ich machten es uns auf der Rückbank gemütlich und los ging die Fahrt.
Laut und falsch singend fuhren wir die Hauptstraße entlang. Die entspannte Stimmung und die Vorfreude auf zwei Wochen Urlaub ließen meinen Körper kribbeln. Noch mehr, als ich das weite Meer vor mir sah. Der Wind trieb die Wellen vor sich her und brachte die Boote und Schiffe zum Schaukeln.
Plötzlich hörte ich meinen Vater brummen und fluchen. „Was ist los?“ Ein ungutes Gefühl suchte mich heim. Die nächste Abzweigung war zum Flughafen! Warum wurde er nicht langsamer?
„Die Bremsen funktionieren nicht!“, fluchte er und versuchte alles in seiner Macht Stehende, den Wagen langsamer werden zu lassen, doch es war vergeblich.
Ich krallte mich an Eriks Hand und musste entsetzt miterleben, wie das Auto durch das Tempo in der Kurve schlitterte und geradewegs auf das Kliff zufuhr. „Nein!“, schrie ich und versuchte, den Gurt zu lösen, als das Auto einen großen Stein rammte und zur Seite geworfen wurde. Ich spürte einen stechenden Schmerz in meinem Bein und meinem Handgelenk und ich keuchte.
Durch die Wucht überschlug sich das Auto dreimal, während wir panisch durcheinanderschrien, und dann stürzten wir das Kliff hinab. Ein letzter Atemzug, danach wurde alles um mich herum dunkel.
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Es gibt hin und wieder ein kleines Glossar am Ende eines Kapitels, da ich gerne norwegische Begriffe nutzen möchte. Daher werden sie hier erklärt.
*Mamma og Pappa -> wie ihr euch denken könnt: Mama und Papa