Der angekündigte Sturm hatte es in sich. Die Wolken verdunkelten den Tageshimmel, sodass es nötig war, das Licht anzumachen und für etwaige Stromausfälle Kerzen vorzubereiten. In den meisten Häusern gab es deshalb noch eine zusätzliche Kochstelle, die mit Feuer betrieben wurde. Solche Stürme waren nicht unüblich, und dennoch sah ich mit Unbehagen auf die bleifarbene Wolkenwand. Der Wind peitschte über das Meer, bauschte die Wellen zu Höhen an, bei denen selbst die größten Schiffe stark ins Wanken gerieten und ließ den Regen wie Hagelkörner gegen die Fenster prasseln. Es erinnerte mich an ein Sturmfeuer aus einem Film, den ich mit Erik gesehen hatte.
Im Radio liefen Warnungen auf Norwegisch, Schwedisch, Finnisch und Englisch über herumfliegende Teile und auch, dass sich niemand am Strand aufhalten sollte. Für uns Anwohner waren die Warnungen nicht nötig, aber für wahnwitzige Touristen, die glaubten, tolle Bilder im Sturm machen zu können, konnten sie nicht genug sein. Wie viele Menschen durch ihre Dummheit erneut ihr Leben ließen, wollte ich mir nicht vorstellen.
Seufzend fuhr ich mir über mein Haar und schüttelte den Kopf.
„Kaffee ist fertig“, ließ Sven wissen und ich drehte mich zu ihm um. Mein Angebot, ganz bei mir einzuziehen, hatte er überraschenderweise nicht abgelehnt. Ich war davon ausgegangen, dass er lieber Zeit für sich hätte und mit meiner Anwesenheit nicht ständig an seinen Bruder erinnert werden wollte.
„Danke“, erwiderte ich und holte aus dem Ofen die Boller – norwegische, süße Hefeteigbrötchen –heraus. Wann immer ich buk, machte ich eine größere Portion und verschiedene Ausführungen, die von Zimtschnecken, Rosinenbrötchen bis mit Vanillepudding gefülltes Hefeteiggebäck reichte. Diese fror ich dann ein, um sie zum Nachmittagskaffee aufzutauen. Das Grundrezept war ein universales und konnte in allen erdenklichen Möglichkeiten abgewandelt werden. Erik hatte meine Koch- und Backkünste geliebt.
„Das riecht so gut“, meinte Sven und sog den Duft der Zimtboller in sich auf.
Leicht lächelte ich. „Demnächst werde ich wieder backen. Der Vorrat ist beinahe aufgebraucht.“
Nur noch wenige Päckchen waren in der Gefriere, was nicht nur Eriks Vorliebe für Boller, sondern auch meinem Vater zu verdanken war. Beide waren unbestrittene Meister im Verdrücken der Hefeteigstücke gewesen.
„Wenn du morgen ins Hotel gehst, kann ich den Einkauf auf dem Rückweg von meinem Termin erledigen“, schlug Sven vor und biss mit einem sichtlich genussvollen Stöhnen in das warme Gebäck.
Im Gegensatz zu Erik war er eher der Typ, der deftiges zum Kaffee brauchte, aber nicht nein sagte, wenn ihm etwas Süßes angeboten wurde. Vielleicht sollte ich in Zukunft für Sven etwas Extra machen, immerhin wollte ich, dass er sich wohlfühlte und nicht glaubte, dass er Erik mit seiner Anwesenheit und Vorlieben ersetzen sollte.
„Das wäre lieb. Ich muss erst einmal zusehen, einen Einblick darin zu bekommen. Zum Glück ist Idun da, die weiß sicher, wo sich alle Dokumente befinden“, seufzte ich und puhlte meinen Boller auseinander. Ich liebte das innere, saftige Teil aus Butter, Zimt und Zucker am liebsten und legte es zur Seite. Das würde ich am Schluss essen. Über diese Leidenschaft hatte sich Erik immer lustig gemacht, denn er war eher die Fraktion knusprig gewesen. „Ich schreibe dir eine Einkaufsliste. Wenn ich es schaffe, gehe ich zum Hafen und hole frischen Fisch. Der nächste Ausflug aufs Meer muss noch etwas warten“, meinte ich bedrückt. Bevor ich mich dem Füllen der Gefriertruhe für den Winter widmen konnte, musste ich erst einmal alles im Hotel kennenlernen. Wie lange würde es dauern, bis ich mich in die Arbeit einfand? Niemand außer Idun und die Mitarbeiter waren da, mich in die Tätigkeit einzuführen, doch meine Eltern waren die Drahtzieher hinter allem gewesen.
„Das kann ich auch erledigen“, bot Sven an. „Ich bin sowieso in der Nähe.“
Einverstanden nickte ich und lehnte mich mit der Kruste meines Boller zurück. „Wobei ich gerade überlege, dass bei dem Sturm keiner auf hoher See sein wird“, meinte ich nachdenklich.
„Da hast du vermutlich recht. Keine Sorge, ich habe genug eingekauft“, versicherte Sven. „Aber deine Backzutaten besorge ich dir morgen.“
„Das ist wirklich lieb von dir“, lächelte ich.
Plötzlich ließ eine besonders starke Windböe das Holz knacken und wir zuckten zusammen. Mein Blick glitt zu den Pflanzenkübeln aus Massivstein, die dem Wetter noch ohne große Mühe trotzten. Die Pflanzen hingegen wurden von einer Seite zur anderen geworfen und erleichtert stellte ich fest, dass sie dennoch in Ordnung waren. Unsere Kräuterkübel hatte ich bereits hereingeholt.
„Möchtest du noch Kaffee, Freyja?“, erkundigte sich Sven.
„Ja, gerne“, antwortete ich und stand auf. Einmal ausgiebig gestreckt und geseufzt, wusste ich nicht mehr, was ich im Sinn gehabt hatte. Unschlüssig blieb ich stehen und meine Wangen fingen Feuer, als Sven mich nachdenklich musternd ansah.
„Ist etwas?“
„Ich weiß nicht“, seufzte ich niedergeschlagen. „Ich wollte etwas machen, aber ich weiß nicht mehr, was es war. Ich werde alt“, klagte ich scherzend. Mit 23 Jahren gehörte ich zur jüngeren Fraktion von Andenes.
„Ach was“, winkte Sven ab. „Komm, setz dich und genieße den Kaffee. Du siehst verspannt aus“, bemerkte er, als ich meine Schultern kreisen ließ.
„Ein wenig“, gab ich leise zu. Die teilweise schlaflosen Nächte zehrten an mir, denn ich fand kaum eine angenehme Schlafposition, in der ich nicht an Erik erinnert wurde. Es war ungewohnt, solche Verspannungen zu haben, weshalb ich ein paar Lockerungsübungen machte, die leider nur mäßigen Erfolg mit sich brachten. Ich sollte dringend wieder mit Yoga anfangen!
„Ich kann dich massieren“, schlug Eriks Bruder vor.
Hörte ich etwa Unsicherheit aus seiner Stimme heraus und erkannte eine Mischung aus Hoffnung und Vorsicht in seinen Augen?
Unschlüssig ließ ich mich auf dem Stuhl nieder und trank einen Schluck. Sollte ich mich massieren lassen? Irgendwie fühlte es sich falsch an, sich von einem anderen Mann anfassen zu lassen. Aber es war Eriks Bruder und er hätte sicher nichts dagegen, wenn Sven mich massierte, oder? Es wäre überhaupt das erste Mal, dass Sven mir so nahekam. Obwohl wir uns seit der Kindheit kannten, war er stets der Zurückhaltende gewesen und auch geblieben. Mehr als eine Umarmung oder eine Handgeste zur Begrüßung war nie vorhanden gewesen und es hatte mich nicht gestört, weil wir uns trotzdem gut verstanden.
Was soll ich tun?
Noch immer haderte ich mit mir und wagte es, Sven einen Blick zuzuwerfen. Dieser musterte mich abwartend und ich gab mir einen Ruck. „In Ordnung“, sagte ich leise.
Sogleich stand er auf und stellte sich hinter mich. Eine angenehme Mischung aus Zimtschnecken, seinem Duschgel und einfach ihm drang in meine Nase und ich starrte auf die holzmarmorierte Tischplatte, die Erik einst hergestellt hatte. Dazu hatte er einen Baum gefällt und sie bearbeitet. Sein Faible für das Handwerk war auch im Haus vertreten und ich war froh, dass ich solche Erinnerungsstücke an ihn besaß.
Ich zuckte zusammen, sobald Sven seine Hände auf meinen Schultern platzierte und übervorsichtig begann, mich zu kneten. Es fühlte sich eher wie ein Streicheln an, das angenehm war, aber nicht viel bringen würde. „Du kannst ruhig fester massieren“, bemerkte ich.
Meiner Aufforderung nachkommend, vernahm ich einen festeren Druck, der mich leise seufzen ließ. Sven war so sanft wie eine Fliege, und ich war mir sicher, dass er Angst hatte, mir wehzutun. Eine ordentliche Massage tat aber weh, bis die Muskeln gelockert waren. Dank Erik wusste ich es besser und ich erinnerte mich daran, wie er meine Waden massiert und mich zum Schreien gebracht hatte. Daraufhin hatte sich Erik halb totgelacht und mich tagelang damit aufgezogen, was für eine Mimose ich sei. Das hatte ich nicht auf mir sitzen lassen und seine anfänglichen Massagen, die mir teils grob vorgekommen waren, stillschweigend erlitten. Nach einiger Zeit hatte ich bemerkt, dass es so sein musste und sich dadurch die Muskeln entspannten.
Sven versuchte sein Bestes und ich seufzte leise. Okay, seine Massage war nicht, wie ich es mir vorstellte, aber es war ein Anfang und Übung machte bekanntlich den Meister. „Du kannst noch ein wenig fester drücken. Es tut nicht weh“, versicherte ich. Eriks Massagen hatten mich abgehärtet!
„Es tut mir leid, ich bin darin nicht so geübt“, erwiderte Sven und ich hörte, dass er niedergeschlagen war.
Deshalb drehte ich mich zu ihm um und sah zu ihm hoch. „Keine Sorge, es ist angenehm und du machst es gut. Du wirst bestimmt noch lernen, was ein guter Druck ist“, munterte ich ihn auf und lächelte. „Wenn du willst, zeige ich es dir. Aber sei gewarnt, dein Schrei wird durch den Sturm niemand hören“, scherzte ich und stand auf. Ihn in eine kurze, dankbare Umarmung gezogen, drückte ich Sven auf den Stuhl und legte meine Hände an seine Schultern. „Bereit?“
Er nickte und wimmerte bereits in der ersten Sekunde. „Herr im Himmel“, murmelte er mit zitternder Stimme. „Das ist nichts für mich, Freyja.“
Ich lachte und setzte mich mit einem breiten Grinsen neben ihm. „Das wird, glaube mir. Erik hat mich anfangs damit gequält, aber es tut wirklich gut“, versprach ich. Svens misstrauischer Blick ließ mich noch mehr lachen. Er glaubte mir nicht und das erinnerte mich an meine eigenen Erfahrungen.
Auch wenn mich Svens Massage nicht wirklich entspannt hatte, fühlte ich eine kleine Erleichterung, die sich um mein Herz legte und ein wenig Hoffnung gab.
„Freyja“, begann Sven und strich mir zärtlich eine Haarsträhne hinters Ohr. Ich sah ihm in die Augen und nickte leicht. „Du weißt, dass ich für dich da bin, nicht wahr? So, wie du beim Verschwinden unserer Eltern für uns da warst.“
Ein dämlicher Kloß bildete sich in meinem Hals und meine Stimme versagte, dennoch versuchte ich, etwas zu sagen. „Danke, Sven.“ Mehr brachte ich nicht heraus. Das Verschwinden von Kristan und Merrit war noch immer ein Mysterium und wir glaubten nicht mehr daran, dass sie gefunden wurden. Bei einem Sturm waren sie auf dem Meer verschwunden, ihre Leichen – sollten sie verunglückt sein – wurden nie gefunden. Meine Eltern hatten sich Erik und Sven angenommen, da ihre Großeltern in Oslo wohnten. Somit haben wir einige Zeit unter einem Dach gelebt und unsere Beziehung war dadurch nur verstärkt worden.
„Für dich immer“, flüsterte er und drückte mir ohne Vorwarnung einen sanften Kuss auf die Wange.
Perplex blinzelte ich ihn an und ich wusste nicht, was ich tun sollte. Ein Kuss … ich war im wahrsten Sinne des Wortes sprachlos. Ausgerechnet von Sven! Ich wusste nicht, was ich fühlen sollte. Bei Erik hatte sich stets ein Kribbeln an der Stelle ausgebreitet, doch bei Sven war nichts. Nur eine Wärme, die mich dazu bewog, meine Hand zu heben und die Wange abzutasten.
„Verzeih, ich wollte mich nicht aufdrängen“, meinte Sven fast schon enttäuscht und erhob sich.
Eilig griff ich nach seiner Hand und schüttelte den Kopf. „Nein, ich … es tut mir leid. Ich habe nicht damit gerechnet“, gestand ich und zog ihn wieder auf den Stuhl zurück. Mit einem leicht gezwungenen Lächeln schob ich ihm den Teller mit den Boller hin und bat, sich noch eins zu nehmen. Ich brauchte Zeit, um über das, was ich fühlte, nachzudenken.
Und morgen fange ich im Hotel an …
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Boller = norwegische, süße Brötchen