In den nächsten Tagen fühlte ich mich leer, als wäre nur noch eine Hülle von mir übrig. Ein Körper, der ohne Lebenswillen im Bett lag und an die Decke starrte. Ich wusste nicht, was ich tun sollte, um den Schmerz in mir zu besiegen. Sven war die meiste Zeit da, sprach mit mir, hielt meine Hand und versuchte, mich aufzumuntern, doch er musste auch seiner Arbeit nachgehen und so ungern ich es zugab, ich genoss die Zeit, wenn ich allein im Zimmer war. So hatte ich Zeit für mich und meinen Schmerz, der mich bis in den letzten Winkel meines Körpers ausfüllte.
Körperlich verheilten die Verletzungen, doch von der Seele konnte keine Rede sein. Erst recht nicht, als Sven eines Abends den Termin für die Beerdigung verkündete und ich einen neuen Nervenzusammenbruch bekam, der nur mit Medikamenten ruhiggestellt werden konnte.
Zitternd wie ein Ast im Sturm lag ich im Bett und wusste nicht, ob ich in der Lage dazu war, der Beerdigung meiner drei Liebsten beizuwohnen. Gleichzeitig wusste ich, dass es meine Pflicht war, ihnen die letzte Ehre zu erweisen und ich begann, mich vor dem Tag zu fürchten.
„Du bist nicht allein, Freyja“, sagte Sven und strich mir liebevoll über meine vom Weinen heiße Wange. „Ich bin bei dir. Gemeinsam schaffen wir es, versprochen.“
Ich reagierte nicht auf die Worte, die in den letzten Tagen oft gefallen waren. Wie konnte Sven scheinbar so locker mit dem Verlust umgehen, während ich im Dreieck sprang und keinen klaren Gedanken fassen konnte? Lag es vielleicht an seiner Ausbildung, die ihm Ruhe in solchen Situationen lehrte? Er als Seelsorger musste sich einfühlen können, was er auch tat, und doch fühlte es sich nicht so an. Generell beschlich mich ein merkwürdiges Gefühl, das ich nicht beschreiben konnte und ich war mir sicher, dass es mit dem tragischen Tod zusammenhing.
Irgendwann hatte ich von Svens träger Stimme genug. „Helvete igjen!“, fauchte ich und drehte mich erbost um. „Bitte geh für heute. Ich brauche meine Ruhe.“ Noch im Augenwinkel sah ich, wie verletzt er aussah und ich bekam ein schlechtes Gewissen. Ruckartig drehte ich mich um und hielt sein Handgelenk fest. „Es tut mir leid, Sven“, flüsterte ich beschämt. So schwer es mir fiel, ich durfte mich nicht nur auf mich selbst konzentrieren, immerhin hatte er auch einen Teil seines Lebens verloren. „Ich habe es nicht so gemeint. Ich bin nur … ganz außer mir“, versuchte ich mein Verhalten zu erklären. Ein Blick in Svens Augen genügte, um zu wissen, dass er besänftigt war.
Zärtlich strich er mir über die Haare und schüttelte den Kopf. „Nein, Freyja, es tut mir leid, dass ich mich dir aufdränge. Ich möchte nicht, dass du in der schweren Zeit alleine bist und kann nachvollziehen, wie du dich fühlst“, erwiderte er. Er ließ sich wieder auf dem Bett nieder und malte Zeichen auf meinen Handrücken. „Ich vermisse Erik und wünschte, er wäre hier. Leider können wir die Zeit nicht zurückdrehen, aber wir können versuchen, mit den schönen Erinnerungen weiterzuleben. Meinst du nicht, dass wir uns darauf fokussieren sollten?“
Den Blick senkend, dachte ich nach. Erik hätte bestimmt gewollt, dass ich für ihn weiterlebe und all den Spaß erlebe, den wir vorhatten.
Nur … wie sollte ich dem nachkommen? Ich fühlte keine Lebenslust mehr, sondern eher einen Sog, der mich auf die andere Seite holen wollte. Mit einem Mal begann mein Herz zu rasen. Dieser Traum mit der Treppe … war er ein Symbol gewesen? Hatte ich eine Nahtoderfahrung erlebt, oder bildete ich es mir ein? Dunkel erinnerte ich mich an Artikel in Zeitungen, in denen Menschen von ihren Nahtoderfahrungen berichteten und aussagten, dass sie ein friedliches Gefühl verspürten und oft ein weißes Licht sahen.
„Deine Eltern würden sich auch im Himmel freuen, wenn du euer Hotel übernimmst, oder?“, fragte Sven und ich nickte seufzend.
Nicht umsonst hatte ich ein Finanzmanagementstudium in Oslo absolviert, während Erik IT und Development bevorzugte. Seine Leidenschaft für Computer und Technik hatte es uns ermöglicht, in unseren jungen Jahren ein Eigenheim zu bauen, da er sein selbst erstelltes Programm für einen Batzen Geld verkauft hatte. Natürlich hätten wir Geld von meinen Eltern bekommen, doch da Erik bereits seit seiner Jugend getüftelt und, sobald es fertig war, in zahlreichen Firmen sein Werk präsentiert hatte, war das nicht nötig gewesen.
Unsere Studiengänge waren so gewählt, dass wir später das Familienhotel übernehmen konnten. Das stand bereits seit meiner Kindheit fest, doch dass der Tag so schnell kommen würde, hatte niemand von uns erwartet.
Schlagartig verspürte ich ein beklemmendes Gefühl in meiner Brust, weil ich glaubte, dem Ganzen nicht mehr gewachsen zu sein.
„Freyja?“, fragte Sven sichtlich besorgt.
„I-Ich … kann es nicht“, stotterte ich mit bebender Stimme und war nahe an einem erneuten Zusammenbruch. Wie sollte ich das alles bewerkstelligen?
„Doch, Idun ist auch noch da, vergiss das nicht, Freyja“, sagte Sven entschieden, fast schon scharf.
Verblüfft blinzelte ich Eriks Bruder an. So bestimmend kannte ich ihn gar nicht. War das eine neue Seite von ihm, die mir bisher verborgen geblieben war? Idun war eine feste Angestellte im Hotel und die beste Freundin meiner Mutter, deren Tochter Suvinna nur sieben Jahre jünger war als Erik und ich.
Ich kann sie doch nicht allein lassen, oder?
Nach der Scheidung genoss Idun ihr Leben als alleinerziehende Mutter in vollen Zügen und unternahm mit Suvinna viele Ausflüge, sobald sich die Gelegenheit anbot. Oft hatten unsere Familien etwas zusammen unternommen.
„Meinst du?“, fragte ich leise. Iduns Erfahrungen im Hotel könnten mir helfen, mich zurechtzufinden, doch war es genug, um das Hotel weiterhin am Leben zu halten? Ich hatte Angst, die Lebensarbeit meiner Eltern zu ruinieren und fühlte mich hoffnungslos damit überfordert. Wäre Erik hier … mit ihm konnte ich alles schaffen! Mit Sven wusste ich es nicht, da er mit der Geschäftswelt nichts am Hut hatte, sondern lieber Leuten half, die trauerten.
„Natürlich. Vertrau mir, sie weiß, was zu tun ist“, versicherte er, als es plötzlich klopfte. „Herein!“
Nicht gerade begeistert, dass Sven mich nicht einmal fragte, ob ich jemanden sehen wollte, krallte ich meine Hände in die Decke. Irgendwie gefiel es mir nicht, dass er mir alle Entscheidungen aus der Hand nahm, oder war ich zu übersensibel?
Iduns blonder Haarschopf kam zum Vorschein, ehe sich der Rest ihres Körpers ins Zimmer bewegte. „Hej, Freyja“, grüßte sie mit belegter Stimme, blieb aber abwartend im Raum stehen. Trotz der Entfernung sah ich, wie sehr ihre blassblauen Augen vom Weinen gerötet waren.
„Hej, Idun“, erwiderte ich leise und sammelte meine nicht vorhandenen Kräfte zusammen, um aufzustehen und auf sie zuzugehen. Bereits auf halbem Weg kam sie mir entgegen und wir fielen uns in die Arme. Ihr belebend erfrischendes Parfüm nach Blumen stieg mir in die Nase und sorgte dafür, dass sich Tränen in meinen Augen bildeten. Eine Welle an Wärme durchflutete meinen Körper und ich schmiegte mich geradezu an die beste Freundin meiner Mutter. Merkwürdigerweise verspürte ich nicht das Gleiche, wenn Sven mich umarmte. Ich konnte das unerklärliche Gefühl bei ihm nicht abschütteln, aber ich ging davon aus, dass es lediglich an der Tatsache lag, dass er Eriks Bruder und ich deshalb ihm gegenüber eher verhalten war.
Idun hielt mich fest an ihre Brust gedrückt und streichelte meinen Hinterkopf. Dankbar, dass sie mir Zeit gab, schloss ich meine Augen und war froh, dass sie da war. Sie gab mir ein vertrautes, heimeliges Gefühl, als wäre sie meine Mutter.
Nach einiger Zeit schob sie mich sanft von sich und strich mir die Tränen von den Wangen. „Es tut mir leid, Freyja“, flüsterte sie und ich nickte. „Nimm dir so viel Zeit, wie du brauchst. Bis dahin regle ich das Hotel allein“, versicherte sie, was mir eine tonnenschwere Last von den Schultern nahm.
Ich musste nicht sofort einsteigen, doch ich wollte so bald es mir möglich war, anfangen. Das war mein ursprüngliches Ziel gewesen, sobald ich Erik geheiratet und wir die Welt erkundet hatten. Was das anging, waren meine Eltern tolerant und wollten, dass ich meinen Horizont erweiterte, ehe ich das Hotel übernahm. Und nun war alles anders …
„Danke“, erwiderte ich und zog sie zum Bett, auf dem sie sich neben mir niederließ. „Wie geht es euch?“
„Den Umständen entsprechend. Wir versuchen, das Beste daraus zu machen“, erklärte Idun diplomatisch. Für ihre direkte Art war sie berüchtigt und für Außenstehende einschüchternd, aber es war weitaus besser, als um den heißen Brei zu reden und etwas vorzulügen. Daher glaubte ich ihren Worten ohne sie zu hinterfragen.
„K-Kann ich etwas für euch tun?“, wollte ich wissen.
Seufzend wiegte Idun ihren Kopf hin und her. „Uns versprechen, dass du dich erst einmal erholst und uns sagst, wenn du nicht mehr kannst. Niemand erwartet, dass du alles von heute auf morgen übernehmen kannst und sollst. Das ist ein langjähriger Prozess und ich werde an deiner Seite stehen, Freyja“, sagte sie bittend. „Wir wissen und verstehen, wie dich der Verlust trifft, aber glaube mir, du bist nicht allein.“
Einen Moment war ich versucht, ihr genauso wie Sven zu widersprechen, doch ich senkte beschämt den Blick. Ich hatte Menschen, die mich auffingen und in der dunklen Zeit bei mir waren. Sollte ich ihnen nicht dankbar sein? „Ja, ich werde es versuchen.“ Mehr als das konnte ich nicht. Ich wollte nicht ein Versprechen geben, das ich eventuell nicht halten konnte.
„Wie geht es dir überhaupt?“, wollte Idun wissen.
„Ich … weiß es nicht“, gestand ich kleinlaut. Meine Verfassung in Worte zu fassen, war unmöglich. Körperliche Schmerzen hatte ich dank der Medikamente kaum, doch ich konnte nicht sagen, was genau ich außer der gähnenden Leere in mir spürte.
Glücklicherweise drängte mich Idun zu keiner weiteren Antwort, sondern versicherte, am nächsten Tag wiederzukommen. Suvinna wollte mich ebenfalls sehen, hatte jedoch bis zum Abend Schule. „Sie macht sich Sorgen um dich“, meinte Idun.
„Das ist nicht nötig“, wisperte ich niedergeschlagen. Ich war nicht der Typ, der Aufmerksamkeit brauchte und wollte, um glücklich zu sein. Dennoch wusste ich, dass Iduns Tochter mit meiner Familie und mir verbunden war und es in ihrer Natur lag, sich um andere zu sorgen. Mir erging es genauso. Eher machte ich mir Gedanken um andere, als um mich selbst.
Aufmunternd klopfte Idun meine Schulter und stand auf. „Ich muss zurück ins Hotel. Zu lange will ich nicht wegbleiben. Wir sehen uns morgen wieder, Freyja. Sven, pass auf sie auf“, wies sie Eriks Bruder an.
Dieser nickte mit seiner zurückhaltenden Art und erhob sich, um Idun die Tür aufzuhalten. „Danke für dein Kommen. Das hat Freyja gutgetan“, sagte er.
Fassungslos zog ich die Augenbrauen nach oben und verspürte einen Stich im Herzen. Wie kam Sven dazu, solch eine Behauptung aufzustellen? Er kannte mich zwar, doch er konnte nicht in meinen Kopf sehen. Natürlich hatte mir Iduns Besuch gutgetan, aber ich war exakt hier! In diesem Raum! Wieso sprach Sven, als wäre ich nicht anwesend und wüsste genau, wie es mir ging? Irgendwie gefiel mir das Verhalten nicht, obwohl er es wahrscheinlich gut meinte.
Stell dich nicht so an. Er will dir nur helfen.
Innerlich seufzte ich und ging ans Fenster, sobald Idun den Raum verlassen hatte. Das Meeresrauschen drang zu mir vor und ich sah auf die Wellen, die Schaumkronen vor sich hertrugen, ehe sie am Strand aufschlugen und sich zurückzogen, um sich neu zu formen. Möwen kreisten kreischend über dem Hafen und versuchten, etwaige Fischabfälle zu ergattern oder — wie es vorkommen konnte —, vom Kutter zu stehlen.
Schleierwolken zierten den ansonsten blauen Himmel mit kuriosen Formen und wurden vom Wind, der fast schon ein ständiger Bestandteil meines Lebens war, zerstückelt und neugestaltet. Ich mochte es, den wechselnden Figuren zuzusehen und wie meistens beruhigte mich der Anblick der Natur.
„Freyja? Willst du etwas essen?“, fragte Sven nahe hinter mir stehend.
Ruckartig drehte ich mich um und starrte in seine Augen. Durch die ganze Grübelei hatte ich ihn nicht bemerkt und jetzt war er mir so nah, dass uns nur noch wenige Zentimeter voneinander trennten. Ich legte die Hand an seine Brust und schob ihn ein Stück von mir. „Danke, nein. Ich bin nicht hungrig.“
„Nicht einmal eine Kleinigkeit?“
In seiner Stimme hörte ich ein winziges Betteln, ein Flehen und … einen Befehl. Dennoch konnte ich mich nicht dazu durchringen. Ich war Herrscher über mich selbst und würde mir nicht vorsetzen lassen, wann ich etwas essen sollte! Wenn ich keinen Hunger hatte, war das so, da konnte Sven noch so sehr schmeicheln oder befehlen.
„Na gut“, seufzte er und sah auf seine Armbanduhr. „Ich muss noch etwas erledigen und für eine Prüfung lernen. Möchtest du, dass ich …“
„Nein“, unterbrach ich ihn genervt, weil ich wusste, was er sagen wollte. „Ich möchte heute Abend allein sein“, sagte ich beherrscht und schaffte es nur minimal, meine Tränen zurückzuhalten. Jeden Tag war Sven bei mir, fast schon aufdringlich und darauf bedacht, mich nicht allein zu lassen. Im Moment nervte er mich und ich wollte die Zeit nutzen, um zu grübeln.
Geknickt senkte Sven den Kopf und erneut beschlich mich Mitleid. „Lern ruhig für deine Prüfung, ich komme zurecht“, versuchte ich etwas sanfter zu versichern, meine Stimme verriet jedoch meine Unsicherheit.
„Ruf an, wenn etwas ist“, murmelte Sven und umarmte ich.
Ich erwiderte die Geste, die stets einen bitteren, unerklärlichen Beigeschmack hatte, und gab Sven einen Kuss auf die Wange. „Morgen geht es mir sicher besser.“
Oder auch nicht.
Sven nickte und verließ seufzend das Krankenzimmer. Minutenlang starrte ich auf die Tür und kam zu keiner Antwort auf meine Frage, wie das Ganze noch weitergehen sollte.
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Helvete igjen! = Zum Teufel nochmal!
Hej = Hallo