(!) Der folgende Text ist vor der Pandemie entstanden und stellt keine Anspielung auf die Hygienemaßnahmen dar!
Erinnert ihr euch noch, was ihr in der Grundschule in den Pausen gemacht habt? Ich habe mich immer versteckt in der Hoffnung, dass mich jemand findet. Aber es hat mich nie jemand gefunden. Nicht weil mein Versteck so gut war, sondern weil nie jemand nach mir gesucht hat. Vielleicht ist das heute immer noch so. Und davon, vom Verstecken, handelt folgender Text.
Maskenball
Was erwartet ihr von mir? Sagt schon, was wollt ihr von mir hören?
Sind Masken denn wirklich sowas Schlechtes? Ich meine, es geht euch doch beim besten Willen nichts an, wie ich mich gerade fühle oder wer ich glaube zu sein.
Aber die Wahrheit ist doch, wir verstecken uns hinter unseren Smartphones, weil wir uns selbst nicht mehr ertragen können,
Glück ist etwas, das anderen Menschen passiert,
und Liebe das, was nur in Filmen funktioniert.
Auf die Frage „Wie geht's dir?" antworten wir immer mit „Gut". Vielleicht fühlen wir uns besser, wenn wir uns selbst belügen. Und am besten, wenn wir anfangen es zu glauben.
Wir zeigen nur das, wovon wir glauben, dass es die anderen sehen wollen, und vergessen darüber einander anzuschauen.
Kennt ihr das Alien-Syndrom? Das Gefühl, wenn man einen Raum betritt und weiß, man passt da nicht rein, man gehört nicht dazu, man ist anders als alle anderen.
Man soll ja individuell sein, aber nicht zu individuell, weil dann bist du echt strange.
Man soll klug sein, aber nicht zu klug, weil dann bist du voll der Streber.
Man soll eine Figur haben wie Barbie oder Ken, aber nicht zu Barbie oder Ken, weil dann bist du ja nicht mehr real.
Man soll seine besten Bros oder seine BFFs ganz doll lieb haben, aber nicht zu sehr, weil no homo. Das wollen wir ja schließlich nicht.
Und überhaupt, große Mädchen weinen nicht und Kerle schon gleich gar nicht!
Was erwartet ihr von mir? Sagt schon, was wollt ihr von mir hören?
Ich bin eine Tochter, eine Schwester, eine Studentin, eine Kollegin irgendwo zwischen Lehrerin und Freundin, eine Frau, eine Predigerin.
Wo höre ich auf und wo fängt die Maske an?
Ich erinnere mich noch gut an den Moment, in dem ich bemerkt hatte, dass sie da ist.
Ich 11 Jahre alt, Ausflug, 5. Klasse, Kletterpark. Der Typ da suchte einen Freiwilligen. Die Finger reckten sich nicht in die Höhe, sondern zeigten auf mich. Na gut.
Zwei Meter hoher Baumstumpf, ich obendrauf. Die anderen standen sich in zwei Reihen gegen über und sollten die Hände in die Mitte stecken. Dann sollte ich mich von da oben rückwärts nach hinten fallen lassen. Ich denke, ihr könnt euch denken, wie das geendet hat.
Ich fühlte wie die Luft aus meiner Lunge gepresst wurde, als ich auf den Waldboden aufschlug. Ich wollte sie anschreien, weil sie mich nicht gehalten hatten, mich fallen ließen. Ich wollte heulen, weil ich mich erschreckt hatte und so enttäuscht war. Ich wollte mich auf den Boden kauern, weil mir alles weh tat. (Ja, ich war wirklich sehr 11...)
Aber stattdessen stand ich auf, klopfte mir den Dreck von der Kleidung und sagte mit einem Lächeln: „Nichts passiert."
Das war der Moment, in dem ich begriff, ich hatte gewonnen,
der Moment, in dem ich herausfand, meine Maske hält.
Ich kann lächeln und Späße machen, wenn ich innerlich weine.
Ich kann so tun als wäre nichts, wenn ich Schmerzen habe.
Ich kann nett zu Menschen sein, die ich nicht leiden kann.
Ich kann problemlos mit Leuten zusammenarbeiten, denen ich am liebsten an die Gurgel gehen würde.
Aber zu welchem Preis?
Ich bewundere Menschen, die vor anderen weinen oder aus vollem Hals lachen können. Ich erinnere mich an die Menschen, aber die Menschen sich nicht an mich.
Glaswand. Das Gefühl wie durch eine unsichtbare Wand von anderen Menschen getrennt zu sein, sehend aber nicht teilhabend. Wenn ich nur zuschauen kann, sollt ihr nicht reinschauen können.
Damit du nicht siehst, dass ich dich
womöglich mehr mag als du mich.
Erst zuhause bedanke ich mich ganz leise, sodass du's nicht hörst,
für die Worte, mit denen du Stück für Stück meine Maske zerstörst.
Und dann baue ich sie wieder auf,
male einfach eine neue Schicht obendrauf,
hoffe, dass sie diesmal hält,
dass die Fassade nicht fällt.
Du bist ein Sohn, ein Bruder,
ein Arbeitnehmer, ein Schüler, ein Student,
irgendwo zwischen Kollege und Klient,
vielleicht ein Freund, vielleicht auch nicht.
Wo hörst du auf und wo fängt die Maske an?
Manchmal da ist es als könnte ich hindurchschauen, einen Blick auf dich werfen.
Manchmal da betrittst du einen Raum und ich weiß, du bist nicht wie all die anderen.
Es heißt, um unersetzlich zu sein, musst man anders sein als alle anderen. Und du bist anders.
Also scheiß auf normal. Ist dir jemals in den Sinn gekommen, dass vielleicht sie die Verrückten sind?
All diese armen Sportwagenfahrer, die offenbar nicht gewusst haben, dass eine operative Penisverlängerung weitaus kostengünstigen und umweltschonender gewesen wäre.
All diese verblendeten Bibis dieser Welt, die sich die Visage anmalen, bis die Fresse glitzert, auf dass man ja nichts mehr von ihrem Gesicht sieht.
Ich finde, dein riesen Zinken ist das Schönste, das du hast,
weil darauf keine Maske passt.
Und dank deiner Segelohren
gehst du auf meinem Meer nie verloren.
Ich will nicht, dass du funktionierst
und deine Makel kaschierst.
Ich will nicht, dass du perfekt bist.
Weil es nur so echt ist.
Schließ deine Augen und sieh hin.
Du sagst, deine Maske beschützt dich.
Wovor denn?
Vor mir?
Oder vor dir?
Du sagst, du hast schon zu viel erlebt, um an Wunder zu glauben,
und selbst wenn es sowas gäbe, käme es sicher nicht zu dem, der nicht glaubt.
Ich hoffe, du wirst irgendwann sehen, vielleicht ganz zum Schluss,
ein Wunder ist nichts, das man sich verdienen muss.
Schließ deine Augen und sieh hin.
Du sagst, das Vergangene macht dich leer,
also suchst du die Fülle in der Hülle.
Ich hoffe, du wirst irgendwann sehen, du bist
nicht das, was dir geschehen ist. Du bist so viel mehr.
Sehen kann man nur ohne was vorm Gesicht.
Ich weiß, die Mauern sind dicht,
verschleiern dir die Sicht,
und allein schaffst du's vielleicht nicht.
Gern würd' ich sagen: „Du hast ja mich",
aber dann hätt' ich ja auch dich
und das wär' vermessen zu glauben.
Und so hör'n wir nicht auf uns der Wunder zu berauben.
Scheiß drauf!
Und schaffst du's nicht allein, nehme ich Hammer und Meißel, und wir tun es zusammen. Und wenn wir beide von je einer Seite graben, ist der Weg vielleicht nicht weit. Wenn du mich lässt, bin ich bereit, dann trag' ich deine Mauern ab. Lass mich dein Gesicht sehen und vielleicht zeige ich dir dann meins.
Musik dazu:
Titanium – Sia
Through Glass – Stone Sour
Mauern – LOTTE
Run – Damian Lynn
Kapuze – Moop Mama
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