8. Mitarbeiter, Patienten und ein Schlafgast
Mein erster Arbeitstag gestaltete sich sehr abwechslungsreich.
Noch vor Sonnenaufgang verließ ich an diesem Morgen mein bequemes Gast-Sofa und packte meine Sachen zusammen. Tyler brachte mich, kurz bevor seine eigene Schicht beim LAPD begann, mitsamt meinem Gepäck zu meiner neuen Arbeitsstelle.
Als wir die Station am Dogweiler State Beach erreichten, ging die Sonne hinter den Hügeln der Playa del Rey auf und schickte ihre ersten Strahlen über den endlos scheinenden Ozean. Ihr zauberhaftes Licht spiegelte sich in den sanften Wellen und tauchte jede einzelne von ihnen in ein gleißendes Geflimmer aus Gold und Silber. Das Meer funkelte, als hätte jemand unzählige kostbare Diamanten darüber ausgeschüttet.
Tief beeindruckt von diesem einzigartigen Naturschauspiel saß ich neben Tyler, für den solch ein Sonnenaufgang hier an der kalifornischen Küste sicherlich nichts Besonderes war, denn als Einheimischer hatte er in seinem Leben vermutlich schon unzählige davon gesehen. Ich dagegen konnte meinen Blick nicht abwenden, und ich spürte, wie das Lampenfieber vor meinem ersten Tag im neuen Job langsam einer wohltuenden, entspannenden inneren Ruhe wich. Ein Tag, der so wundervoll begann, musste einfach gut werden…
Als hätte er meine Gedanken gespürt, maß mich Tyler mit einem abschätzenden Seitenblick und nickte mir dann ermutigend zu.
„Mach dir keine Gedanken, du packst das, Baby!“
„Aber sicher“, lächelte ich optimistisch zurück. Ty war so herrlich unkompliziert, und ich war wirklich froh, dass er mir die Zurückweisung auf seinen mehr oder weniger vorsichtigen Annäherungsversuch gestern im „Bubbas“ allem Anschein nach nicht übelgenommen hatte. Ihn als guten und verlässlichen Freund an meiner Seite zu wissen, war mir wichtiger als eine Affäre, die ich nicht wollte, weil sie in meiner momentanen Verfassung sowieso keine Chance hatte. Ich musste unbedingt erst einmal wieder zu mir selbst finden, alles andere würde sich irgendwann ergeben.
Tyler fuhr durch die Sicherheitsschranke bis zum Haupteingang, wo uns Butch bereits erwartete. Der Koordinator begrüßte mich so enthusiastisch wie am Tag zuvor. Dienstbeflissen sprang er hinzu und half beim Ausladen meines Gepäcks.
„Pass gut auf sie auf, Butch“, meinte Tyler mit einem Augenzwinkern, umarmte mich kurz und gab mir einen freundschaftlichen Kuss auf die Wange. „Viel Spaß, Jess, und lass dich von den „Auszubildenden“ nicht in den Hintern beißen! Wir sehen uns“, lachte er und winkte uns zum Abschied fröhlich zu, bevor er sich auf den Weg zurück nach Santa Monica machte.
Direkt neben dem Eingang des Gebäudes stand ein sehr robust aussehender Jeep Wrangler, der allerdings derart mit Schlamm verkrustet war, dass sich dessen eigentliche Grundlackierung nur an der Farbe des Daches erahnen ließ.
„Coop`s Auto“, erklärte Butch und grinste von einem Ohr zum anderen, als er meinen Blick bemerkte. „Ich lasse ihn nachher waschen. Sie bekommen auch noch eine passende Aufschrift, so dass Sie als Polizeihundestaffel-Mitarbeiterin gut erkennbar sind.“
„Vermutlich arbeitet Mister Cooper auch privat Undercover“, konnte ich mir in Bezug auf das völlig verdreckte Auto nicht verkneifen zu bemerken. „Wirklich sehr passend.“
Lachend hielt mir Butch die Tür auf und folgte mir mit meinem Koffer ins Innere des Gebäudes.
„Coop ist schon in Ordnung“, verteidigte er den Ermittler. „Er wirkt manchmal etwas… nun ja, unkonventionell, aber er ist wirklich ein feiner Kerl, glauben Sie mir.“
Ich glaubte ihm natürlich nicht, aber meine Höflichkeit verbot es mir, seine Aussage laut anzuzweifeln. Also folgte ich ihm stillschweigend und kommentarlos ins Büro, aus dem uns ein angenehmer Kaffeeduft entgegenströmte. Paloma huschte bereits geschäftig hinter dem Tresen hin und her. Als sie mich sah, eilte sie mir mit einem fröhlichen Lachen entgegen und schloss mich herzlich in die Arme.
„Willkommen, Sonnenschein! Endlich weibliche Verstärkung in dieser verdammten Männerdomäne!“
„Ach stimmt, ihr kennt euch ja bereits“, erinnerte sich Butch schmunzelnd. „Bei eurem nächsten gemeinsamen Auftritt wäre ich wirklich gern dabei!“
„Ich nehme dich beim Wort!“, erwiderte Paloma und zwinkerte mir verschwörerisch zu. „Du wirst uns lieben!“
„Das tue ich doch jetzt schon, meine Schöne!“, erwiderte Butch und griff sich eine der auf dem Tresen bereitstehenden Tassen. „Vor allem liebe ich deinen guten Kaffee!“
Ein paar Stunden später hatte Paloma mir mein Bereitschaftszimmer gezeigt, mich mit sämtlichen Praxisräumen genauestens vertraut gemacht und mir den Ablauf des täglichen Gesundheits-Checks erklärt. Anschließend machte sie mich mit den Hundetrainern bekannt, die jeden Tag mit den verschiedenen „Auszubildenden“ auf dem Gelände arbeiteten. Die Hundeführer selbst besuchten die Station mit ihren fertig ausgebildeten „Partnern“ zum regelmäßigen Training zu genau festgelegten Zeiten. Die entsprechenden Pläne wurden von Butch jede Woche neu erstellt.
Der Tag verging wie im Flug, ich führte die routinemäßigen Gesundheit-Checks durch und staunte einmal mehr, wie gut die Hunde erzogen waren, selbst die jungen Auszubildenden machten keinerlei Probleme und benahmen sich nahezu tadellos.
Die Zusammenarbeit mit Paloma gestaltete sich ebenso hervorragend. Sie war witzig, schlagfertig und sprühte geradezu vor Energie. Kompetent in allem, was die Arbeit in der Praxis betraf, umsichtig und flink schien sie meine Wünsche bereits zu ahnen, noch bevor ich diese überhaupt ausgesprochen hatte. Wir verstanden einander ohne viele Worte und spürten sehr schnell, dass wir uns auf der gleichen Wellenlänge befanden.
Nachdem ich am Nachmittag in „meinem“ Wirkungsbereich fürs Erste fertig war, führte mich Paloma durch einen Verbindungsgang hinter den beiden OP-Räumen hinüber in die allgemeine Tierarztpraxis. Dort arbeiteten zwei Veterinärmediziner im Wechsel.
„Gemeinschaftspraxis Jordan Gallagher und Adam Luis“ las ich auf dem Schild über der Tür.
Paloma geleitete mich durch den hellen und sehr modern eingerichteten Wartebereich, in dem sich derzeit noch zwei Zivilisten mit ihren Hunden aufhielten und darauf warteten, vom Doktor aufgerufen zu werden. Hinter dem halbrunden Empfangstresen saß eine schlanke, fast schon dürre junge Frau mit streng aufgesteckten, dunklen Haaren und einer für sie sehr unvorteilhaften riesigen Hornbrille.
„Hallo Miranda“, begrüßte Paloma sie und stellte uns einander vor. Die Hornbrillendame nickte mir mit säuerlicher Miene sichtlich reserviert zu. Entweder war sie von Natur aus zurückhaltend, oder es passte ihr nicht, dass die „Konkurrenz“ von nebenan einfach in die Sprechstunde platzte.
„Welcher Doc hat heute Dienst?“, fragte Paloma unbeeindruckt und wies auf das gegenüberliegende Sprechzimmer. „Adam oder Jordan?“
„Doktor Luis“, erwiderte die Vorzimmerdame kurz angebunden und blitzte sie über den Rand ihrer Brille warnend an. „Er behandelt aber gerade einen Patienten.“
„Oh, das macht nichts. Wir stören nicht lange.“ Ohne sich weiter um die miesepetrige Dame zu kümmern, begab sich Paloma zielstrebig zur Tür, klopfte kurz an und bedeutete mir mit einer eindeutigen Kopfbewegung ihr zu folgen. Ich konnte förmlich spüren, wie Miranda uns hinterher starrte und mit ihrem Blick regelrecht durchbohrte, während wir ins Zimmer traten und die Tür hinter uns schlossen.
Der Doktor, ein schlanker, sehr sportlich wirkender Mann mit mittelblondem, etwas lockigem Haar, stand mit dem Rücken zu uns am Behandlungstisch und machte sich mit Hilfe seiner Assistentin an einem vierbeinigen Patienten zu schaffen. Den Pfoten und der Größe nach zu urteilen, handelte es sich hierbei um einen Jack Russell, der beim Anblick der Spritze, die der Mediziner soeben aufzog, in ängstlicher Erwartung panisch vor sich hin fiepte. Die Assistentin hielt ihn jedoch in festem Griff und redete ihm gut zu, während die Besitzer des zu behandelnden Tieres, ein älteres Ehepaar, aus sicherer Entfernung angespannt jede Bewegung des Arztes verfolgten. Die Dame klammerte sich nervös an die ledernen Henkel ihrer Louis-Vuitton-Handtasche und litt allem Anschein nach mehr als ihr Liebling auf dem Behandlungstisch, während der Mann unablässig den Arm seiner Frau streichelte. Eine Handlung, bei der ich nicht ganz sicher war, ob er damit sie oder sich selbst beruhigen wollte.
Kurz nachdem wir eingetreten waren, wandte sich der Doktor zu uns um. Auf den ersten Blick schätzte ich ihn auf Anfang dreißig. Er hatte ein schmales, ebenmäßiges Gesicht mit einer etwas vorspringenden Kinnpartie und freundlichen Augen, die verdächtig aufblitzten, als er Paloma bemerkte.
„Einen Moment, Ladys, ich bin gleich für euch da.“ meinte er mit einem schelmischen Augenzwinkern und schenkte dann seine Aufmerksamkeit erneut dem Vierbeiner auf dem Behandlungstisch.
Vorsichtig, um den Arzt und seine Assistentin nicht zu stören, trat ich näher und reckte neugierig den Hals. Der Patient bekam eine Injektion und streckte vor Entsetzen die Hinterläufe von sich, als hätte er mit dem Eindringen der Nadel bereits das Zeitliche gesegnet.
„So, fertig.“ Sekunden später legte Dr. Luis die Spritze weg, zog die Schutzhandschuhe aus und warf beides in den Mülleimer, während die Assistentin, eine zierliche junge Asiatin, den neu zum Leben erwachten Hund beherzt hochnahm und ihn seinem Besitzer in den Arm legte.
„Er ist jetzt für die nächsten sechs Monate geschützt. Danach frischen wir die Immunisierung in der Regel noch einmal auf“, erklärte der Doktor dem sichtlich erleichterten Ehepaar, schüttelte beiden die Hand und streichelte dem Hund, der sich sogleich misstrauisch duckte, noch einmal übers Fell. „Ich schicke Ihnen die Rechnung wie immer zu. Wir sehen uns in einem halben Jahr.“
Nachdem die Leute das Behandlungszimmer verlassen hatten, wandte sich der Doktor um, trat zu Paloma und küsste sie liebevoll auf die Wange.
„Hallo meine Schöne! Was verschafft mir die Ehre? Willst du nur mal hereinschauen, oder bringst du mir eine neue Kollegin?“
Sie zeigte sich kein bisschen verlegen, obwohl es für mich offensichtlich war, dass sie den Doktor ziemlich gut zu kennen schien, und das ganz sicher nicht nur auf dienstlicher Ebene. Lachend nahm sie meinen Arm, zog mich mit sanftem Nachdruck zu sich heran und stellte uns einander vor.
Dr. Luis schüttelte mir sichtlich erfreut die Hand, und ich blickte in zwei faszinierend azurblaue Augen, wie man sie nur selten bei einem Menschen fand. Paul Newman hatte solche Augen, und Terence Hill… fuhr es mir durch den Kopf. Ich konnte meine Star-Vergleiche einfach nicht lassen
„Hallo, ich bin Adam! Du bist also die Vertretung für Hank, den alten grimmigen Pechvogel? Was für ein angenehmer Unterschied… Eine junge Berufskollegin, und noch dazu freundlich und gutaussehend!“
„Ist Allister wirklich so grantig?“, erkundigte ich mich mit einem prüfenden Seitenblick auf Paloma. Die winkte nur lachend ab.
„Hank ist schon in Ordnung, insofern man mit seiner Art umzugehen weiß.“
„Wenn das eine hinkriegt, dann sie“, grinste Adam Luis und legte seinen Arm um Palomas Schultern. „Sie wickelt jeden Kerl um den kleinen Finger.“
Seine Assistentin, die das ältere Ehepaar hinausbegleitet hatte, betrat mit dem nächsten Patienten das Behandlungszimmer.
„Okay, dann wollen wir mal.“ Der Doktor begrüßte den Hundebesitzer, einen ganz in Jeans gekleideten, kräftigen, fast kahlköpfigen Mittvierziger, und klopfte dann dem riesigen Rottweiler das Fell wie einem alten Bekannten. „Na, wie geht’s dem Allerwertesten, mein Guter?“ Der Rüde trottete brav wie ein Lämmchen hinter seinem Herrchen her und wurde immer langsamer, je näher er dem Behandlungstisch kam.
Während Adam neue Schutzhandschuhe anzog, wandte er sich zu mir um und wies auf den Patienten.
„Darf ich bekannt machen, Jessica, das hier ist Stan. Er hatte vor anderthalb Wochen eine recht bissige Auseinandersetzung mit einem Artgenossen und kam mit einer klaffenden Wunde an seinem Hinterteil zu uns. Wir haben die Wunde unter Narkose gespült und geklammert. Heute müssen die Klammern entfernt werden. Kannst du mal mit anfassen?“
Dem mächtigen Rüden war deutlich anzusehen, dass er auf diese und alle weiteren Aktionen keinerlei Lust verspürte, dennoch zeigte er kaum Gegenwehr, sondern duckte sich nur feige, als wir das mindestens einen Zentner schwere Tier auf den Behandlungstisch hievten. Adam legte Stan einen Beißkorb an, und ich konnte deutlich die Panik in den Augen des Tieres sehen, als die Assistentin dem Doktor die Spezialzange zum schnellen und nahezu schmerzfreien Entfernen der Klammern reichte.
„Möchtest du das übernehmen, Jessica?“, fragte Adam und hielt mir das Instrument hin. „Sozusagen als Einstand?“
Lächelnd nahm ich Schutzhandschuhe und Zange entgegen. Er wollte mich prüfen? Okay, das konnte er haben. Bei Dr. O`Neill hatte ich so etwas schon unzählige Male gemacht, das sollte also kein Problem sein.
„Warum nicht, wenn Stan nichts dagegen einzuwenden hat, dass ich mir kurz an seinem Hinterteil zu schaffen mache?“
„Ich glaube, das ist ihm momentan herzlich egal, solange es schnell geht. Stimmt`s, alter Freund?“
Der Rottweiler verdrehte völlig entnervt die Augen und hechelte auf dem Tisch, als ginge es um sein Leben.
„Ganz ruhig, Stan. Du wirst so gut wie gar nichts spüren“, beruhigte ich ihn mit sanfter Stimme und strich ihm noch einmal übers Fell, bevor ich schnell und präzise die Klammern aus der fast verheilten Wunde entfernte, ohne dass das Tier auch nur einmal zuckte.
„Das ging ja wunderbar!“ Adam nickte anerkennend und inspizierte die Wunde genau. „Sieht wirklich gut aus. Ein wenig Jodsalbe zum Abschluss, und der Allerwerteste ist so gut wie neu.“
Als Stan seinem Besitzer kurz darauf sichtlich erleichtert nach draußen folgte, klopfte mir Adam zufrieden auf die Schulter. „Ein gelungener Einstand, Jessica! Ich freue mich schon sehr auf unsere Zusammenarbeit.“
„Ganz meinerseits“, erwiderte ich und zwinkerte Paloma zu, die abwartend am Fenster stand. „Ich finde allein zurück. Wir sehen uns morgen!“
Als ich an diesem Abend endlich Feierabend hatte, war auf dem Übungsgelände bereits Ruhe eingekehrt. Die Hundeführer hatten gemeinsam mit ihren „Partnern“ die Station verlassen. Manche hatten Feierabend und nahmen ihre Hunde mit nach Hause, für andere begann der gemeinsame Dienst. Die wenigen Tiere, die hier übernachten würden, bekamen vom Officer der Spätschicht ihr Abendessen zugeteilt.
Froh und unwahrscheinlich stolz zugleich, dass ich meine erste Schicht so gut und reibungslos über die Bühne gebracht hatte, beschloss ich, innerhalb des Staffelgeländes noch einen Strandspaziergang zu machen. Ich zog Jazzpants und Shirt an und machte mich auf den Weg hinunter zum Strand. Die Sonne stand bereits tief über dem Horizont und färbte den Himmel in wundervoll leuchtendes Orange und Rot, welches an einigen Stellen sogar in märchenhaft scheinende Lila- und Rosatöne überging. Gedankenversunken blieb ich stehen und beobachtete das einmalige Farbenspiel. Ich liebte Sonnenuntergänge, bereits in Irland hatte es mich immer wieder aufs Neue fasziniert, wie die Sonne einem riesigen Feuerball gleich langsam am Horizont im Meer versank und den Himmel in ein wahres Farbspektakel wie aus tausendundeiner Nacht verwandelte.
Ich setzte mich in den weichen Sand und starrte wie gebannt auf die untergehende Sonne. Heute Morgen hatte ich sie bereits aufgehen sehen, und nun nahm sie diesen Tag unwiderruflich mit sich fort, während ich in Gedanken noch einmal Bilanz zog.
Mein erster Arbeitstag war gut verlaufen, und ich konnte wirklich zufrieden sein. Ich hatte alles geschafft. Es hatte keinerlei Pannen gegeben. Die Zeit war wie im Flug vergangen, und jetzt, da ich hier allein saß, wünschte ich mich fast wieder zurück ins „Bubbas“, wo ich gestern einen so lustigen Abend im Kreise neuer Freunde verbracht hatte, dass ich in diesen Stunden nicht ein einziges Mal daran denken musste, was ich vor einigen Tagen alles hinter mir zurückgelassen hatte.
Warum auch? Immerhin hatte ich vorläufig ein Dach über dem Kopf und einen Job, um den mich die meisten meiner ehemaligen Kommilitonen glühend beneiden würden. Was danach kam, war weit entfernt und interessierte mich momentan überhaupt noch nicht.
Irgendwie gab es immer ein Morgen… Die Vergangenheit war passé für mich, soviel war klar. Ich musste diese Tatsache nur irgendwie in meinen Kopf hineinbekommen.
Gleich morgen in aller Frühe würde ich damit anfangen, indem ich endlich Caitlin anrief und ihr die ganze Wahrheit erzählte. Sicherlich würde sie sich erschrecken, aber jetzt musste sie sich nicht mehr um mich sorgen, denn ich hatte alles im Griff.
Hatte ich das wirklich?
Trotz aller guten Vorsätze versetzte mir der Gedanke an meine beste Freundin urplötzlich einen äußerst schmerzhaften Stich ins Herz. Ohne dass ich etwas dagegen tun konnte, schlug meine Stimmung augenblicklich um, und mit einem Mal übte dieser wunderschöne Sonnenuntergang eine ganz entgegengesetzte Wirkung auf mich aus – ich bekam Heimweh. Es brach wie aus dem Nichts mit einer derartigen Urgewalt über mich herein, dass mir die Tränen in die Augen schossen. Egal, was ich auch tat, wie ich mich drehte und wendete, welche Leute ich in den letzten Tagen kennengelernt hatte und noch kennenlernen würde, ich war fremd hier. Nichts war mir wirklich vertraut, nichts war mehr wie früher, ob ich das nun wollte oder nicht. Und mir war inzwischen nur allzu bewusst, dass ich ganz allein die Schuld an dieser Tatsache trug. Er war nur der Auslöser gewesen, aber ich hatte dennoch völlig überreagiert. Natürlich war ich schon immer etwas impulsiv gewesen, aber das, was ich in meiner Panik getan hatte, als meine heile Welt von einem Augenblick auf den anderen zusammenbrach, das war schon mehr als riskant und unüberlegt gewesen. Es war einfach nur dumm! Riskant, gedankenlos und dumm! Und egal, wieviel Glück ich mit Ty und Shemar und diesem zufälligen Job auf Zeit auch hatte, nichts würde mehr so sein wie früher. Alles, was ich geliebt hatte, war verloren…
So hemmungslos hatte ich ewig nicht geweint. Eben war ich noch voller Bewunderung über den herrlichen Sonnenuntergang gewesen, und jetzt liefen mir die Tränen wie Sturzbäche über die Wangen, und ich konnte nichts dagegen tun. Im Gegenteil, es tat gut, sich endlich einmal so gehen lassen zu können. Der ganze Frust und die ohnmächtige Wut, all das, was sich in den vergangenen Tagen in mir aufgestaut hatte wie ein Giftcocktail, musste endlich aus mir heraus. Ich wollte nicht mehr dagegen ankämpfen, wollte nicht stark sein, nicht jetzt…
Von irgendwo her drang das unverwechselbare Geratter eines Helikopters an mein Ohr, das schnell näherkam. Da jedoch hier über der Küste alle paar Minuten irgendein Rundflug stattfand, interessierte es mich nicht sonderlich. Ich war so in mein Selbstmitleid versunken, dass ich für eine Weile alles um mich herum ausblendete.
Plötzlich erschrak ich. Aus dem Augenwinkel heraus nahm ich eine Bewegung wahr, doch bevor ich wusste, wie mir geschah, stupste mich eine feuchte Hundeschnauze mit Nachdruck an, und durch meinen tränenverschleierten Blick sah ich direkt in zwei erwartungsvolle braune Augen.
„Jad!“
Schniefend nahm ich seinen Kopf zwischen meine Hände und knuddelte ihn wie einen großen Teddybär. Ihm schien das zu gefallen, denn er wedelte wie wild mit dem Schwanz, knurrte genüsslich und ließ sich vor mir nieder. In diesem Augenblick wurde mir allerdings klar, dass er mit Sicherheit nicht allein unterwegs war. Mir fiel das Geräusch eines landenden Helikopters vor ein paar Minuten wieder ein, und mein Stimmungsbarometer sank augenblicklich um einige Stellen auf der Richterscala, während sich die Frequenz meines Herzschlages spürbar erhöhte.
Vorsichtig drehte ich den Kopf, und wirklich, da stand der blaue Helikopter, keine hundert Meter von mir entfernt, mitten auf dem Parkplatz. Dean Cooper kam herangeschlendert und blieb direkt neben mir stehen. Zu meinem Verdruss musste ich mir eingestehen, dass er in seinem schmucken Flieger-Overall wieder unverschämt gut aussah. Diesmal trug er keinen Helm mehr, und auch keine Sonnenbrille, die seine Augen verbarg. Er blinzelte mich mit diesem herausfordernd überheblichen Blick, der mein Blut jedes Mal zum Kochen brachte, von oben herab an.
„Was wollen Sie denn um diese Zeit noch hier?“, fragte ich wenig begeistert und drehte den Kopf zur Seite, damit er meine Tränen nicht sah.
„Siehst du Jad, heute ist sie es, die nicht gestört werden will“, erklärte er seinem, ihn erwartungsvoll musternden Hund, ohne direkt auf meine Frage einzugehen.
„Ja genau“, erwiderte ich abweisend. „Nur ziehe ich nicht die Lefzen hoch und knurre ihn an, wenn mir das nicht passt.“
„Das würde ihn auch wenig beeindrucken.“
Ich wischte mir hastig mit dem Handrücken übers Gesicht.
„Ist auch egal, denn über Jads Gesellschaft freue ich mich immer.“
„Über meine nicht?“
Erfolglos suchte ich in meinen Hosentaschen nach einem Taschentuch.
„Wieso sollte ich? Sie stellen mir Beine, beleidigen mich, oder jagen mich davon…“
„Also Moment mal, Lady!“, protestierte er, setzte sich zu meinem Unbehagen direkt neben mich in den Sand und reichte mir wie selbstverständlich ein sauber zusammengefaltetes Taschentuch. „Ich habe Sie nicht beleidigt, ich sage nur ehrlich meine Meinung. Ihre Sache, wenn Sie nicht mit Kritik umgehen können!“
Ich zerrte ihm wortlos das Tuch aus der Hand und schnaubte geräuschvoll hinein, bevor ich es in meiner Hosentasche verschwinden ließ. Wo auch immer er das altmodische Ding hergezaubert hatte, er würde es bei nächster Gelegenheit gewaschen und gebügelt zurückbekommen.
„Ich kann sehr wohl mit Kritik umgehen, solange sie berechtigt ist. Und wenn Sie mich noch einmal Lady nennen, werden Sie erfahren, wie es ist, wenn ich mal ehrlich meine Meinung sage!“
„Wie soll ich Sie denn nennen?“
„Bei meinem Namen.“
„Jessica.“ Er sah mich an und lächelte betont unschuldig. „Oder lieber Miss Hausmann?“
„Jess ist völlig ausreichend.“
„Okay, Jess. Aber nur, wenn du endlich aufhörst zu heulen.“
„Ich heule nicht.“
„Ah ja. Dann hast du sicher ein paar eingestaubte Erinnerungen ins Auge gekriegt.“
„Du bist ein Arsch, Cooper!“
„Hast du das gehört Jad?“, wandte er sich gespielt empört an seinen „Partner“.
Der Hund ließ ein gelangweiltes Fiepen hören, legte den Kopf in den Sand und die Pfoten darüber. Wider Willen musste ich lachen.
„Genau, Jad. Laaaangweilig!“
Coop lehnte sich zurück, stützte sich auf seinen Arm und musterte mich von der Seite.
„Sich an etwas zu klammern, was unwiderruflich vorbei ist, das ist langweilig!“
„Du weißt gar nichts von mir!“
„Ich schau dich an und weiß, dass du Heimweh hast.“
„So ein Blödsinn! Du weißt nicht das Geringste.“ Wütend darüber, dass er voll ins Schwarze getroffen hatte, sprang ich auf und klopfte mir den Sand von der Hose. „Ich bin fremd hier und muss mich erst zurechtfinden. Das ist alles.“
„Ja klar.“ Ich hörte an seinem Tonfall, dass er mir kein Wort glaubte, doch zumindest machte er keine abfällige Bemerkung mehr. Er stand ebenfalls auf und pfiff kurz nach Jad, während er mir zurück zum Ausbildungszentrum folgte.
Eine Weile liefen wir schweigend nebeneinander her, bevor er plötzlich ganz unvermittelt fragte:
„Möchtest du vielleicht etwas Gesellschaft für die Nacht, damit du nicht mehr so traurig bist?“
„Was?“ Ich glaubte mich verhört zu haben und blieb ruckartig stehen. Das hatte er jetzt nicht wirklich gesagt! Oder doch? Für wen hielt dieser Kerl mich eigentlich? Wütend blitzte ich ihn an. „Sag mal, was bildest du dir eigentlich ein, he?“
Er hob nur die Schultern.
„Ich weiß nicht, warum, aber irgendwie verstehst du mich immer falsch, Jess. Ich habe eben von Jad gesprochen! Er müsste die Nacht über in den Zwinger, da ich für eine Weile dienstlich unterwegs bin – ohne Partner. Deshalb sind wir hier. Ich weiß, er hasst den Zwinger, und da er dich seit dieser Pfotensache absolut in sein Hundeherz geschlossen hat, dachte ich…“
„Okay“, unterbrach ich ihn hastig und hoffte, dass er nicht sah, wie meine Gesichtsfarbe um eine Nuance dunkler wurde. „Jad bleibt bei mir. Kein Problem!“
Cooper drehte sich lachend zu seinem Hund um, der gehorsam hinter uns her trottete.
„Hast du das gehört, Alter? Du musst nicht in den Zwinger! Du darfst beim Doc den Bettvorleger spielen!“
Jad bellte und wedelte freudig mit dem Schwanz, als hätte er jedes Wort genau verstanden.
„Muss ich etwas beachten?“, fragte ich vorsichtshalber, und Coop grinste vielsagend.
„Nimm, wenn möglich, diese Nacht keinen Lover mit auf die Bude, Jad ist rasend eifersüchtig. Verzieh ihn nicht so maßlos, das habe ich dann nämlich hinterher auszubaden. Und glaub ihm kein Wort von dem, was er dir über mich erzählt.“
„Noch was, Mister Undercover?“
Er sah mich an und wollte etwas erwidern, als sein Blick plötzlich an mir vorbei hinüber zum Parkplatz wanderte.
„Das ist nicht etwa mein Jeep, der dort drüben steht?“, fragte er voller Abscheu und zog missbilligend die Stirn kraus.
„Momentan ist es mein Jeep, Cooper.“, berichtigte ich ihn gelassen. „Und ja, Butch hat ihn für mich waschen lassen. Er sagte, er musste damit dreimal durch die Waschanlage fahren!“
„Ich habe auch ganze drei Monate gebraucht, bis er so aussah, wie ich ihn haben wollte!“
„So verdreckt?“
„So unauffällig!“
„Solange ich den Wagen fahre, bleibt er sauber“, erklärte ich entschieden. „Danach kannst du ja wieder durch die Pampa kurven, bis er aussieht, als hätte er gerade ein Schlammbad genommen!“
Coop schüttelte relativ unbeeindruckt den Kopf und lehnte sich dann an die Hauswand direkt neben der Tür, so dass er mir den Eingang versperrte.
„Was hast du jetzt vor, Doc?“
„Ich werde mir eine Jacke holen und dann mit Jad noch ein Stück laufen.“
„Hast du gehört, Alter? Verdammt, hast du ein Glück!“
„Er hat`s verdient.“
„Sobald ich zurück bin, werde ich mich revanchieren.“
„Das ist nicht nötig.“
„Doch, das ist es. Gute Nacht, Doc!“ Er bückte sich und klopfte seinem Hund kumpelhaft die Flanke „Und du benimm dich, Partner, sonst läufst du eine Woche lang Streife auf dem Pier!“
Jad ließ ein kurzes Bellen hören, als würde er antworten. Cooper grinste, drehte sich um und ging davon.
Gedankenverloren sah ich ihm nach und graulte Jad, der brav neben mir saß, zwischen den Ohren.
„Wer hätte das gedacht, dein Herrchen hat sich heute fast menschlich verhalten!“
Als Jad und ich nach unserem Strandlauf an diesem Abend erschöpft und hungrig wieder in der Station ankamen, war es längst dunkel. Mein Gasthund stürzte sich auf das Futter, das ich vorhin bereitgestellt hatte, und auch ich bereitete mir rasch ein einfaches Abendmahl. Später rief ich Tyler an und berichtete von meinem ersten Arbeitstag. Er bot mir an, sich mit mir noch auf einen Drink auf dem Pier zu treffen, doch ich war zu müde und wollte Jad nicht allein lassen. Außerdem musste ich endlich meinen Bruder in Deutschland anrufen, bevor dieser sich Sorgen über die ungewohnt lange „Funkstille“ machte. Es war an der Zeit, die Karten auf den Tisch zu legen, und ich wusste, dass Eric die ganze Sache noch recht gelassen aufnehmen würde.
Während wir telefonierten, rollte sich Jad zu meinen Füßen zusammen und schlief. Ich streichelte sein weiches Fell und ertappte mich bei dem Gedanken, dass ich mich mit ihm an meiner Seite wunderbar geborgen fühlte. Ich war nicht allein, und außerdem hatte ich, seitdem er da war, nicht ein einziges Mal an die Vergangenheit gedacht. Ich war mit Jad zusammen am Strand entlanggelaufen, durch den Sand getobt, wir waren um die Wette gerannt, er hatte mir unzählige Male das Stück Treibholz zurückgebracht, das ich immer wieder aufs Neue für ihn in hohem Bogen durch die Luft warf.
Es war schön gewesen, und obwohl ich Dean Cooper immer noch nicht über den Weg traute, war ich ihm doch dankbar, dass er mir seinen großartigen Hund anvertraut hatte.
In dieser Nacht schlief ich, Jad ergeben zu meinen Füßen liegend, mit einem glücklichen Lächeln auf den Lippen ein.