22. Emotionen
Ich erwachte, als die ersten Sonnenstrahlen sich ihren Weg durch die zarten Vorhänge ins Zimmer bahnten. Verschlafen blinzelnd und etwas desorientiert sah ich mich um, doch bereits nach wenigen Augenblicken war die Erinnerung an die letzten Stunden vollständig wieder da.
Ich war hier - in Coops Schlafzimmer.
Wir hatten die Nacht zusammen verbracht, waren ziemlich ausgehungert übereinander hergefallen und hatten absolut fantastischen Sex gehabt. Irgendwann war ich dann erschöpft, aber zufrieden und glücklich in seinen Armen eingeschlafen.
Dean Cooper – ein Mann mit einem Körper wie aus einem Bilderbuch, mit einem Blick, der tief unter die Haut ging und einem Gesicht, das ich einfach nur sehr markant und absolut attraktiv fand. Den wunderbar männlich herben Duft seiner Haut noch immer in der Nase drehte ich langsam den Kopf und stellte eine Sekunde später enttäuscht fest, dass ich allein war.
Sein Bett war leer…
Warum hatte er sich davongeschlichen, ohne mich zu wecken?
Bereute er schon, was zwischen uns beiden geschehen war?
Unser Zusammensein war intensiv gewesen, sehr intensiv. Das hatten wir beide überdeutlich gespürt und auch bis zum Äußersten ausgelebt. War ich seinem Herzen dabei vielleicht schon zu nahegekommen? Hatte er am Ende Angst davor, zu viel Gefühl zu investieren?
Was auch immer der Grund dafür gewesen war, sich klammheimlich aus dem Bett zu stehlen, ich konnte es ohnehin nicht ändern. Immerhin war ich eine erwachsene, modern eingestellte Frau. Ich würde garantiert keinen Aufstand machen und auch keinerlei Ansprüche stellen, sondern den berühmten „Morgen danach“ akzeptieren, egal wie er sich mir präsentierte.
Also stand ich auf, schlang mein Laken um meinen nackten Körper und beschloss, aus Coops Abwesenheit zunächst das Beste zu machen und sein Badezimmer für eine ausgiebige Dusche zu nutzen, anstatt halbnackt über den Flur zu schleichen und dabei Gefahr zu laufen, Celia oder gar Ramon zu begegnen.
Ich tappte ins angrenzende Bad, stolperte auf der Schwelle über einen Zipfel meines Lakens und konnte mich gerade noch halten, bevor ich gänzlich die Balance verlor. Als ich danach aufblickte, stand ich zum zweiten Mal während meines Aufenthaltes in den Staaten einem nackten Adonis gegenüber, der soeben der Duschkabine entstieg und mich völlig ungeniert grinsend musterte.
„Guten Morgen, Beauty! Und ich dachte, du stolperst ausschließlich über Männerbeine!“
Ich stand da und starrte ihn überrascht an. Allerdings etwas anders, als ich das damals bei Shemar getan hatte, bei dem mein verlegender Blick während unserer überraschenden Begegnung sicherheitshalber ausschließlich auf dessen Nasenspitze geheftet gewesen war.
Diesmal jedoch gab ich meiner Neugier nach und musterte mein Gegenüber ungeniert von Kopf bis Fuß, wobei ich nicht verhindern konnte, dass mir bei seinem Anblick bereits wieder das Wasser im Mund zusammenlief.
Coops Grinsen wurde deutlich breiter.
„Hast du gut geschlafen?“
„Mmh…“
„Und… gefällt dir, was du gerade siehst?“
„Mmh mmh…“
Er lachte und streckte mir die Hand entgegen.
„Dann komm näher, Baby, ich bin bestimmt kein Trugbild!“
Wie im Trance ließ ich das Laken zu Boden fallen, sah das unmittelbar darauffolgende leidenschaftliche Aufleuchten in seinen Augen und trat dicht an ihn heran. Er nahm meine Hand und zog mich mit sich in die enge Duschkabine.
„Du wolltest doch duschen, oder?“, raunte er verheißungsvoll.
Ich schluckte und konnte nur noch stumm nicken. Mein Mund fühlte sich plötzlich staubtrocken an, und mein Körper vibrierte vor freudiger Erwartung auf das, was als nächstes passieren würde.
Coop zog mich derart fest an sich heran, dass ich glaubte, seinen Herzschlag spüren zu können. Seine Lippen waren nur Millimeter von meinen entfernt, als er mich aufforderte, meine Arme um seinen Hals zu legen. Dann umfasste er mit seinen kräftigen Händen meinen Po und hob mich hoch. Übermütig lachend warf ich den Kopf zurück und schlang meine Beine fest um seine Hüften.
„Das ist verrückt, Dean!“
„Dann lass uns verrückt sein. Hauptsache wir haben Spaß“, erwiderte er augenzwinkernd, umfasste fest meine Taille und griff mit der anderen Hand nach dem Wasserhebel. Das letzte, was ich sah, waren seine anbetungswürdigen Lachfältchen in den Augenwinkeln, bevor eiskaltes Wasser auf uns herunterprasselte und mir einen erschrockenen Schrei entlockte. Ich klammerte mich verzweifelt an ihm fest, bis das Wasser langsam die gewünschte lauwarme Temperatur erreichte.
„Das war Absicht, du Mistkerl!“, beschwerte ich mich zähneklappernd und barg mein Gesicht in seiner Halsbeuge. „Das wirst du mir büßen!“
Er war längst bereit.
„Kann`s kaum erwarten!“ Sehnsüchtig presste er seinen Körper an meinen. Voller Wonne spürte ich, wie er langsam in meinen lustvoll pulsierenden Unterleib eindrang. Genießerisch schloss ich die Augen und ließ ihn mit einem tiefen Seufzen gewähren.
„Na, wie fühlt sich das an?“, hörte ich ihn mit rauer Stimme flüstern.
„Nach mehr… viel mehr“, erwiderte ich mit zittriger Stimme, von Lust und Leidenschaft völlig übermannt.
Er vergrub sein Gesicht in meinem nassen Haar und stöhnte laut auf.
„Baby, du bist so verdammt heiß!“
„Nicht so laut“, ermahnte ich ihn halbherzig, da ich selbst bereits dem Rausch des Augenblicks erlegen war. „Deine Angestellten…“
„Und wenn schon“, knurrte er, drückte meinen Rücken gegen die Fließen und verschloss meinen Mund mit seinen hungrigen Lippen.
Mit seinen Händen hielt er meine Oberschenkel und presste gleichzeitig meine Körpermitte an seine, um noch tiefer in mich eindringen zu können. Er bewegte sich immer schneller und intensiver, und das Wasser auf meiner Haut schien mit jedem neuen Stoß heißer zu werden. Ich umklammerte seine breiten Schultern, warf erneut genüsslich den Kopf zurück, spürte seine hungrigen Lippen an meinem Hals und ließ die Wassertropfen über mein Gesicht perlen, während ich bereits spüren konnte, wie wir beide ungebremst auf einen gigantischen Höhepunkt zurasten, der sich kurz darauf mit einer derartigen Intensität entlud, dass ich befürchtete, meinen Körper nicht länger zu beherrschen und irgendwann unsanft auf dem Boden zu landen. Doch Dean hielt mich sicher in seinen Armen, auch dann noch, als wir langsam wieder zur Besinnung kamen, und ich erschöpft und zufrieden meinen Kopf an seine Brust sinken ließ. Vorsichtig setzte er mich ab, stellte das Wasser aus und langte mit einer Hand nach dem riesigen Badetuch, das auf dem Schemel vor der Duschkabine lag. Zärtlich trocknete er uns beide damit ab, dann hüllte er mich darin ein, nahm mich auf seine Arme und trug mich zurück ins Schlafzimmer. Gemeinsam kuschelten wir uns in die Kissen und ruhten eng umschlungen von unserem erneuten Ausflug ins Land der Ektase und Sinnlichkeit aus.
Irgendwann hob Dean den Kopf und strich mir zärtlich eine noch feuchte Haarsträhne aus der Stirn.
„Jess?“
„Mmh…“ Verschlafen blinzelte ich ihn an, war jedoch schlagartig wach, als ich seinen besorgten Blick wahrnahm. „Was ist denn los?“
„Wir haben einen Fehler gemacht.“
Sofort bildete sich ein dicker Kloß in meinem Hals. Also doch! Er bereute die Nacht mit mir!
Ich schluckte schwer, befreite mich aus seinen Armen und rappelte mich auf.
„Lass gut sein, Dean. Wir hatten einfach nur Spaß, du musst dich mir gegenüber nicht verpflichtet fühlen. Ich kann auch gehen, wenn dir das lieber ist.“
„Hey…“ Mit sanfter Gewalt zog er mich wieder zu sich heran. „So habe ich das nicht gemeint. Wenn ich von einem Fehler spreche, dann meine ich, dass wir beide vorhin unter der Dusche völlig verantwortungslos waren. Wir haben nicht verhütet!“
Innerlich aufatmend legte ich den Kopf an seine Schulter.
„Keine Sorge, ich nehme die Pille. Und ich war erst kurz vor meiner Abreise aus Irland bei meiner Ärztin. Ich bin gesund.“
Ich konnte sein Gesicht nicht sehen, spürte jedoch, wie er tief durchatmete und dann nickte.
„Ich bin auch gesund. Trotzdem sollten wir uns beide sicherheitshalber noch einmal untersuchen lassen. Drüben in LA gibt es unmittelbar am Flughafen eine große Klinik, die CENTINELA. Dort könnten wir uns…“
„Okay“, unterbrach ich ihn mit einem überzeugten Kopfnicken. Er hatte ja Recht, es war zu unser beider Sicherheit, uns ärztlich untersuchen zu lassen. „Ich werde am Montag anrufen und einen Termin für uns machen.“
Kopfschüttelnd beugte er sich herunter und küsste mich auf die Nasenspitze.
„Das ist mir noch nie passiert. Ich fürchte, ich kann nicht klar denken, wenn ich mit dir zusammen bin.“
„Beim Sex denkt man nicht, man fühlt“, erwiderte ich betont weise. Er stutzte kurz, lachte dann verschmitzt und küsste mich abermals, allerdings diesmal auf die Lippen, die ich ihm sogleich bereitwillig öffnete. Bevor wir den Kuss jedoch von neu aufkeimender Leidenschaft übermannt weiter vertiefen konnten, vernahmen wir ein deutliches Kratzen an der Tür, gefolgt von einem unüberhörbaren Bellen.
„Jad“, knurrte Dean unwillig. „Verschwinde, Partner, es ist Wochenende! Schnapp dir die Pudel-Dame vom Nachbargrundstück!“
Das Bellen wurde lauter. Ich meinte pure Empörung herauszuhören und musste lachen.
„Ich glaube, dein Vorschlag hat ihm nicht besonders gut gefallen.“
„Jad! Aus!!!“, rief Dean seinen Hund erneut zur Ordnung.
„Nun lass ihn schon herein“, mahnte ich gutmütig. „Vielleicht ist er ja eifersüchtig!“
„Also auf mich bestimmt nicht“, brummte Dean äußerst skeptisch, kletterte widerwillig aus dem Bett, schlang sich das Laken um seine Hüften und öffnete die Tür. Jad würdigte ihn keines Blickes, sondern stürzte absolut respektlos an ihm vorbei ins Zimmer und umkreiste schwanzwedelnd das Bett. Dean erschien kurz darauf mit einem vollbeladenen Frühstückstablett und grinste übers ganze Gesicht.
„Ich muss schon sagen, unsere Celia weiß, was man nach einer vollkommenen Liebesnacht braucht – einen guten Kaffee!“ Er stellte das Tablett notdürftig auf dem Bett ab, bevor er selbst schnell wieder zu mir unter die Decke schlüpfte. Jad ließ sich mit einem zufriedenen Knurren auf dem Teppich direkt neben meiner Bettseite nieder.
„Guten Morgen, mein Freund!“ Ich streckte die Hand aus und graulte ihn zwischen den Ohren, während mir Deans letzte Bemerkung nicht aus dem Kopf ging.
Vollkommene Liebesnacht?
Seine Worte klangen in mir nach und weckten ein tiefes Glücksgefühl in mir. Ich richtete mich auf, strich mit den Fingern notdürftig durch mein immer noch feuchtes Haar und wickelte das Laken um meinen nackten Oberkörper.
„Du findest unsere Nacht vollkommen?“, fragte ich mit einem etwas vorsichtigen Lächeln. Er war gerade dabei, das Frühstückstablett sicher vor uns auf dem Bett zu platzieren und hob erstaunt die Augenbrauen.
„Du etwa nicht?“
Anstatt einer Antwort beugte ich mich spontan hinüber und küsste ihn. Er legte seine Hände um meinen Nacken, zog mich zu sich heran und erwiderte meine Zärtlichkeit. Das vollbeladene Tablett geriet auf Grund unserer Aktivität gefährlich ins Wanken, so dass wir in stillem Einvernehmen beschlossen, unsere Zärtlichkeiten zu Gunsten eines gemütlichen Frühstücks im Bett einstweilen auf später zu verschieben. Schließlich hatten wir den ganzen Tag Zeit.
„Celia hat wirklich an alles gedacht.“ Neugierig schnuppernd reckte ich den Hals, als mir der würzige Kaffeeduft in die Nase stieg. „Sie ist ein wahres Goldstück!“
„Das ist sie“, nickte Dean und nahm die Kanne, um uns Kaffee einzuschenken. „Und mach dir bloß keine Gedanken, selbst wenn sie vorhin etwas gehört hätte, sie würde niemals indiskret sein.“
„Wieso bist du da so sicher?“, fragte ich beiläufig. „Hatte sie schon öfter Grund dazu, diskret sein zu müssen?“
Dean verhielt mitten in seiner Bewegung und sah mich mit einem undefinierbaren Blick von der Seite an.
„Ich bin zwar auch nur ein Mann und habe zuweilen meine Bedürfnisse, aber falls du jetzt wissen willst, ob ich ständig andere Frauen hierher abschleppe, dann ist die Antwort definitiv nein. Ich habe seit Ewigkeiten keine andere Frau mit hierher gebracht.“
Ich spürte, wie mir das Blut in die Wangen schoss. Verlegen starrte ich auf die Tasse in meinen Händen.
„Sorry Dean, ich wollte nicht neugierig sein. Welche Damen du wann und wie oft mit hierherbringst, geht mich nun wirklich nichts an.“
„Wir haben miteinander geschlafen, also finde ich, dass dich das schon irgendwie etwas angeht.“
„Okay“, nickte ich, froh darüber, dass er sich nicht gleich wieder zurückzog. Mutig geworden wagte ich mich gleich noch ein Stück weiter vor. „Und wenn wir schon einmal dabei sind, dann erzähl mir mehr von dir. Ich weiß bisher so wenig…“
Er reagierte überraschend gelassen.
„Was genau möchtest du denn wissen?“
„Alles.“
„Mh…“ Skeptisch zog er die Stirn in Falten. „Willst du uns das Wochenende verderben?“
Ich lehnte mich mit meiner Kaffeetasse bequem zurück und nickte ihm auffordernd zu.
„Ach komm schon, so schlimm wird es doch nicht sein. Fang mit deiner Familie an.“
„Welche Familie? Ich habe keine.“
„Jeder hat eine Familie. Auch wenn du sie anscheinend verleugnen möchtest, so ist sie doch ein Teil von dir.“
„Können wir diesen Teil nicht überspringen?“
Ich stellte meine Tasse zurück aufs Tablett und verschränkte kompromisslos die Arme.
„Nein.“
Er nahm einen Schluck Kaffee und atmete dann tief durch.
„Also gut. Aber sag hinterher nicht, ich hätte dich nicht gewarnt, wenn ich dich mit meinem ganzen Seelenmüll überschütte.“
„Keine Sorge, damit kann ich umgehen. Immerhin trage ich auch allerhand von der Sorte mit mir herum.“
„Warum werfen wir den Mist nicht einfach weg?“, schlug er vor und grinste säuerlich. „Fenster auf und raus damit.“
„Wenn das so einfach wäre“, seufzte ich und nickte ihm auffordernd zu. „Aber wer weiß, vielleicht wird es einfacher, wenn wir darüber gesprochen haben. Also los, erzähl mir von deinem Vater. Hat er dieses schöne Haus hier selbst gebaut?“
„Bauen lassen. Alles, was er je besaß oder derzeit noch besitzt, ist gekauft. Er macht sich nicht die Hände schmutzig.“
„Und wieso lebt er nicht mehr hier?“
„Wir hatten einige… Differenzen“, erklärte Dean vage, ohne mich anzusehen. „Danach war kein Platz mehr für uns beide. Ich bin nur geblieben, weil er gegangen ist.“
„Und wohin ist er gegangen?“
„Soweit ich weiß, lebt er derzeit in Süd-Afrika.“
„Und was ist mit deiner Mutter?“, forschte ich weiter.
Er hob scheinbar gleichgültig die Schultern.
„Sie verließ uns, als ich ungefähr drei Jahre alt war. Zumindest sagte mein Vater das. Seine Umschreibung für Selbstmord.“
„Hast du nie nachgeforscht, warum sie das getan hat?“
„Wozu? Es hätte nichts geändert. Meinen Vater zu ertragen ist nicht leicht.“
„Aber du hast ihn ertragen.“
„Ich hatte keine Wahl. Außerdem habe ich ihn ja kaum gesehen. Und meine Ersatz-Mütter waren die verschiedenen Kindermädchen, die mein alter Herr gut bezahlte, damit sie mich von klein auf bespaßten und streng nach seinen Regeln erzogen.“ Er goss Kaffee nach und lehnte sich wieder zurück. „Glaub mir Jess, manchmal habe ich mir gewünscht, lieber in einem Kinderheim aufzuwachsen, als bei diesen sogenannten Nannys, die der Alte wohl jedes Mal nur nach der Größe ihres Busens und ihrer Qualitäten in seinem Bett ausgewählt hatte.“
„Waren sie nicht gut zu dir?“
„Sie waren seine Bunnys, oder seine Gespielinnen auf Zeit, wie auch immer man es ausdrücken möchte. Er hatte das Geld und die Macht. Um ihn bei Laune zu halten und ihm zu gefallen, befolgten sie seine Anweisungen genau und waren unglaublich streng zu mir. Ich glaube, am Ende hat jede von ihnen ihren Frust über meinen Vater auf ihre Art an mir ausgelassen.“
„Haben sie dich geschlagen?“
„Nein, das hätten sie nicht gewagt. Ich wurde stattdessen wegen der kleinsten Kleinigkeit mit Verboten bestraft. Auf diesem Gebiet waren alle meine Gouvernanten äußerst einfallsreich.“
„Und Celia? Sie war doch keine von denen!“
„Nein, sie war nicht meine Nanny, sondern unsere Haushälterin. Sie fing bei uns an, als ich gerade zwölf war. Er hat sie eingestellt, weil er sich Ramon verpflichtet fühlte.“
„Er fühlte sich ihm verpflichtet? Und wieso?“
„Ramon hat ihm irgendwann einmal arg aus der Klemme geholfen. Damals hat mein alter Herr wahrscheinlich zum ersten Mal in seinem Leben einen Funken Loyalität gezeigt.“
„Deshalb sind die beiden noch immer hier.“
„Nein, sie sind noch hier, weil sie sich mit der Zeit unentbehrlich gemacht haben. Und weil mein Vater eher gegangen ist.“ Er nickte mir wie zur Bestätigung zu. „Ramon und Celia sind seit vielen Jahren meine wahre Familie.“
„Du magst also deinen Vater nicht. Soweit habe ich das verstanden“, fasste ich das eben Gehörte nüchtern zusammen, und er lachte verächtlich.
„Nicht mögen ist fast schon wieder ein Kompliment. Früher hätte ich alles getan, damit er mich liebt und achtet. Leider vergeblich. Er lebt bis heute in dem festen Glauben, Geld regiert die Welt, und vielleicht hat er nicht mal Unrecht, denn er selbst hatte immer genug davon. Jedes Mal, wenn er wieder auf eine seiner langen Reisen ging und mich bei irgendeinem Kindermädchen zurückließ, versuchte er das, was mir angeblich fehlte, mit Geld aufzuwiegen.“
„Geborgenheit“, murmelte ich und wusste nur zu gut, was er meinte.
„Zuerst wollte ich seine Kohle nicht, aber irgendwann habe ich gedacht: Was soll`s, das Zeug stinkt nicht. Allerdings habe ich nie einen Cent davon ausgegeben, sondern gelernt, wie man es clever vermehrt. Mit sechzehn bin ich von zu Hause abgehauen und habe für eine Weile das Leben auf der Straße kennengelernt. Eigentlich wollte ich zu den Marines, so wie Ramon damals. Er war mein heimliches Vorbild. Aber ich traute mich nicht, ihn um Hilfe zu bitten, denn ich wusste, Ramon fühlte sich seinem Arbeitgeber verpflichtet. Also versuchte ich zunächst allein unterzutauchen, doch es dauerte nicht lange, und die Leute meines Vaters fanden mich und brachten mich zurück in meinen goldenen Käfig. An jenem Abend versuchte mein alter Herr den Rebellen in mir mit eigener Hand aus mir herauszuprügeln. Wer weiß, was damals passiert wäre, wenn Ramon nicht zufällig dazugekommen wäre und ihn zurückgehalten hätte. Der alte Bastard hat mich so vermöbelt, dass ich wochenlang nicht gehen konnte und er seinen Hausarzt anrufen musste, damit dieser mich mühsam wieder zusammenflickte.“
Entsetzt griff ich nach seiner Hand.
„Unfassbar… Bist du danach nochmal abgehauen?“
„Nein, ich hatte begriffen, dass ich auf diese Art nicht weiterkam. Also habe ich mich gefügt, zumindest nach außen hin. Ich wartete ab und hoffte auf eine andere Chance, die sich mir bieten würde, um mich zu beweisen. Nach der High-School absolvierte ich eine Grund-Ausbildung beim LAPD, denn ich wollte unbedingt Agent werden. Mein Vater war damals viel auswärts und ließ mich weitestgehend in Ruhe, setzte allerdings voraus, dass sein Nachkomme irgendwann studieren würde, und drohte mir, mich zu enterben, falls ich nicht nach seinen Regeln spielen würde. Damals beschloss ich, ihn mit seinen eigenen Waffen zu schlagen. Gleich nachdem ich die Ausbildung beim LAPD abgeschlossen hatte, begann ich ein Studium im Finanz-Management, obwohl das alles andere als mein Traumberuf war. Aber ich hatte ein Ziel vor Augen, war ehrgeizig und lernte wie besessen, denn ich glaubte, wenn ich irgendwann clever genug wäre, dann würde ich den Alten genau dort treffen, wo es am meisten weh tat – an seinen verdammten Finanzen. Und ich habe es geschafft. Mit fünfundzwanzig Jahren habe ich ihn mit seinem eigenen Geld ausgeknockt, indem ich die Aktienmehrheit über sein Imperium erlangte.“
„Wie hat er reagiert? War er wütend auf dich?“
„Im Gegenteil. Er hatte fast alles verloren, aber er hat gelacht und gemeint, ich sei genauso geworden, wie er mich immer haben wollte. Aber er hat sich getäuscht. Ich bin nicht wie er.“
„Und dann hat er euch verlassen?“
„Nicht sofort. Du musst wissen, dass mein Vater ein Mensch ist, der keine Rechnung offenlässt. Ich wappnete mich auf einen geschäftlichen Kampf mit ihm, doch ich hatte nicht damit gerechnet, dass seine Rache privater Natur sein würde.“
Ich hielt die Luft an.
„Dean… Was hat er getan?“
Er stellte die leere Tasse aufs Tablett zurück und reichte mir den Korb mit den Croissants.
„Komm schon, Jess, dieser Tag hat viel zu schön angefangen, als dass wir ihn mit alten Geschichten verderben sollten. Wir reden später, okay? Es sei denn, du willst mir etwas von deiner Familie erzählen?“
Ich war wirklich froh darüber, dass er so bereitwillig einiges von sich preisgegeben hatte. Es war ein Anfang…
Lächelnd küsste ich ihn auf die Wange und schnappte mir ebenfalls ein knuspriges Croissant.
„Du hast Recht, der Tag ist viel zu schön für alte Geschichten. Wir sparen uns den Rest einfach für später auf.“
Jad erhob sich, als hätte er nur auf diesen Augenblick gewartet, und brachte sich und seine Anwesenheit mit einem kurzen Bellen in Erinnerung. Lachend griff ich nach dem Teller mit dem köstlich aussehenden Aufschnitt und warf Dean einen fragenden Blick zu, denn ich hatte meine Lektion in Sachen Hundeerziehung gelernt.
„Darf ich?“
Er nickte.
„Aber ja. Mein Partner kann gerne mit uns frühstücken, wenn er mir verspricht, dass er danach nach draußen verschwindet und uns nicht noch einmal stört!“
„Wuff“, versprach Jad, schlang den halben Wurstvorrat fast in einem Stück hinunter und leckte sich genüsslich die Schnauze. Dann trabte er gehorsam zur Tür, stellte sich auf die Hinterbeine, drückte mit den Vorderpfoten die Klinke herunter und sah sich noch einmal mit diesem unnachahmlichen „Na-wenn-das-unbedingt-sein-muss“-Hundeblick nach uns um, bevor er mit hoheitsvoll erhobenem Kopf nach draußen verschwand.