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Nach dem Prompt „Sturmmöwe / tierische Leuchtturmgeschichten“ der Gruppe „Crikey!“
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"Wir können nicht bleiben", stellte Pazzu fest. "Diese neue Religion ist nicht unsere, doch sie werden uns nicht dulden, wenn wir uns nicht unterwerfen. Wir müssen darauf vertrauen, dass die alten Götter uns leiten."
Die Entscheidung war lange überfällig, und doch fühlte es sich surreal an, sie nun zu treffen. Harsu schluckte. Er sollte das Land verlassen, in dem er aufgewachsen war? Der Ort, an dem seine Kinder geboren waren, wo seine Eltern begraben lagen? Das Reich seiner Wurzeln?
Doch ihnen blieb keine Wahl. Die Neuankömmlinge, vor einigen Jahren kaum mehr als Nervensägen, waren zahlenstärker als ihr Volk. Viele hatten den angeblichen Propheten als neuen Herrn angenommen, nun richteten sich zunehmend unfreundliche Blicke auf jene, die an den alten Sitten festhielten.
Es waren gute dreihundert Menschen, die sich an diesem Tag an der Küste eingefunden hatten, vom Land verdrängt von einer unsichtbaren Drohung, die fast greifbar in der Luft hing. Ein Sturm, der sich über ihnen zusammenbraute ...
"Ich hatte eine Vision", erklärte Pazzu. "Wir sehen, dass die Vögel in jedem Sommer aufbrechen, weit über das Inselreich hinaus. Sie müssen jenseits des Horizonts ein Ziel haben, das auch wir erreichen können. Das ist unsere einzige Chance!"
Gemurmel erhob sich unter den Versammelten. Sie alle fürchteten die offene See, die nicht von Inseln gezähmt war. Außerhalb der Sandstränge lauerten die großen Wellen.
Doch niemand hob die Stimme zum Widerspruch. Jene, die zur Versammlung gekommen waren, hatten verstanden, dass ihnen nur die Flucht blieb. Alle Inseln des Reichs der tausend Inseln waren in der Hand der Neuankömmlinge. Nur Narren glaubten, dass sie bleiben und ihren Glauben behalten konnten.
"Wir werden große Kanus bauen", sagte Pazzu. "Sie müssen größer sein als jedes, das wir je gesehen haben. Dann werden sie den Wellen trotzen können."
⁂
Die Sturmmöwen segelten auf dem Wind, der auch in das Segel von Harsus Boot griff. Atemberaubend schnell sprang das große Kanu über die Wellen, sodass sich seine Frau und die Kinder an die Bordwand klammern mussten.
Regen peitschte ihm ins Gesicht. Der Wind zerrte an der Ladung - Fässer mit Wasser, Kisten mit Nahrung und Säcke mit der Erde ihrer Heimat, um auf diese Weise wenigstens einen Teil ihrer Vergangenheit mitzunehmen.
Es war die dritte Woche auf See, ohne Land zu sichten. Der Regen war deshalb willkommen, denn ohne ihn wäre ihr Wasser bedrohlich knapp. Während Harsu im Sturm stand und steuerte, umklammerte seine Frau die Kinder. Das Schluchzen hinter ihm riss nicht ab.
Es war kalt. Die Wellen warfen die Boote herum wie Spielzeuge. Einige Segel waren bereits gesunken, ohne sich wieder zu erheben.
Es war ein ständiger Wechsel aus dichtem Regen und brennender Sonne. Die Sturmmöwen glitten über ihnen schneller dahin, ein dichter Schwarm, der sich mit dem Wind treiben ließ und die Menschen hinter sich zurückließ.
Eisern umklammerte Harsu das Ruder und die Seile des Segels. Jetzt gab es keinen anderen Weg, als durchzuhalten. Sie fuhren in eine Wildnis, die niemand vor ihnen erforscht hatte und in die ihnen niemand folgen konnte. Es war ein Risiko und es war ihre einzige Sicherheit.
Er sah zurück zu seiner Frau. Asilka erwiderte seinen Blick voller Sorge und Trauer. Sie hielt den Sack mit Erde fest, denn das Meer war ihr zuwider.
Harsu versuchte, zu lächeln. Es war nicht für lange, wollte er ihr sagen. Es würde alles wieder gut werden.
Er brauchte nicht zu versuchen, den Sturm zu übertönen. Er hatte es in den letzten Wochen so oft gesagt, dass sie es ohne Worte wusste.
Und ebenso wusste er, dass sie ihm nicht mehr glauben konnte.
⁂
Es war dunkel. Es war kalt. Die Schreie der Möwen waren verstummt. Das Land, was sie in den Abendstunden gesichtet hatten, musste nun nah vor ihnen liegen. In der Finsternis unter den Sternen war jedes Geräusch doppelt so laut: Das Gluckern der Wellen, das Wimmern, das Husten. Harsu konnte die Hände nur mühsam um die Seile geschlossen halten.
Die Schreie hallten noch in ihm nach. So nah vor der Rettung, so nach vor der verheißenen Insel, mussten sie einer weiteren kalten Nacht trotzen. Wer versucht hatte, in der Dunkelheit anzulegen, hatte mit seinen Schreien die Nacht zerrissen. Harsu wollte seine Familie in Sicherheit bringen, doch im Moment war die See die einzige Sicherheit.
Es war zu dunkel, um zu sehen, wohin sie ruderten. Doch auch der Anker war vor Wochen fortgespült worden. Nach Monaten auf See waren sie hungrig, ausgezehrt, erschöpft. Wie durch ein Wunder hatten es die meisten Boote geschafft, dieses Land zu erreichen. Aber jede Stunde der Kälte, hier auf den Wellen, konnte ihre letzte sein.
Das rettende Land war so nah! Mit etwas Erde könnte Asilka ihre Heilmagie wirken. Die mitgebrachten Säcke dagegen hatten sie im Laufe der Reise, Handvoll für Handvoll, aufgebraucht.
Ein Licht ließ Harsu aufsehen. Mit müdem, tränendem Blick erspähte er einen merkwürdigen Stern im Himmel, der leuchtete wie ein fernes Lagerfeuer.
Langsam trieb er darauf zu. Dann erkannte er einen Turm, ein hohes Bauchwerk mit einem mächtigen Fundament, an dessen Spitze ein Licht brannte. Dort, im Schein des hohen Strahls, sah er auch ein sandiges Ufer.
Zielstrebig steuerte er darauf zu. Dort konnte er anlegen, ohne die steilen Klippen fürchten zu müssen! Sie waren gerettet!
Er hörte den Gesang der Sturmmöwen, denen sie hierher gefolgt waren, als er anlegte und Asilka half, die Kinder an Land zu bringen. Endlich, endlich spürte er die vergessene Wärme der Erde um ihn herum, ihre heilsame Wirkung, ihren Zauber. Es war ein fremdes Land, vollkommen unbekannt und unerforscht.
Und doch hatte jemand diesen Turm errichtet. Ein Meister seines Faches, noch dazu. So etwas geschah nicht auf natürlichem Wege, und es wurde auch nicht innerhalb weniger Tage zusammengezimmert. Harsu hatte ähnlich behauenen Stein noch nie gesehen.
"Wir haben es geschafft", sagte Asilka, die mit geschlossenen Augen im Sand lag und ihre Kinder an sich drückte. "Wir haben eine sichere Heimat gefunden!"
"Ja", murmelte Harsu und spähte in den finsteren Dschungel, der das Land vor seinem Blick verbarg.