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Nach dem Prompt „Hector-Delfin [Tierische Geschichten mit Nickerchen]“ der Gruppe „Crikey!“
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Die warme Mittagssonne entfaltete eine hypnotische Wirkung. Nach dem ausgiebigen Festmahl - Kokea hatte mehrere Fische gefangen und noch im Canoa auf einer gesicherten Feuerstelle für lange Reisen zubereitet - war er ein wenig überfressen. Angenehme Müdigkeit senkte sich über ihn. Es half wenig, dass der Frühlingstag ungewöhnlich warm war und die Sonne bereits fast wie im Sommer vom Himmel brannte. Nur wenn man die Hände ins eisige Meer tauchte, erkannte man, dass der sonnige Eindruck täuschte. Doch es war der erste wirklich warme Tag im Jahr, und das wurde dem Hüter des kleinen Atolls zum Verhängnis.
Als er die Augen wieder aufschlug, stand die Sonne tief. Festland war nirgendwo zu sehen. Kokea rappelte sich auf. Wasser schwappte um das Canoa, ansonsten hörte er nur den stetigen Singsang der Wellen.
Der Himmel hatte sich bereits violett gefärbt. Ein kalter Hauch, wie eine Erinnerung an den verstrichenen Winter, hatte ihn geweckt. Kokeas Herz raste.
Seine Angst vor dem Ozean war mit den Jahren, die er als Matene auf der kleinen Insel gearbeitet hatte, nach und nach geschwunden. Diesen Frühling hatte er dem Tag richtig entgegengefiebert, da die Temperaturen eine längere Reise im Canoa zuließen. Er hatte sich gefreut, aufs Meer zu kommen.
Vielleicht hatten die Zweifler aus seinem Dorf recht. Das große Wasser war gefährlich. Hatte es einen erst einmal in seinen Bann gezogen, so wurde man unvorsichtig - und starb!
Kokea wollte nicht so enden. Suchend sah er sich um. Er musste nur die richtige Richtung bestimmen und paddeln! Eifrig tauchte er die Hände ins eisige Salzwasser. Er trieb das Canoa mit kräftigen Zügen voran.
Mit einem Mal gesellte sich eine graue Gestalt an seine Seite. Kokea riss die Hand instinktiv zurück, denn er kannte die Geschichten über bluthungrige Haie, die es auf dem offenen Meer geben sollte. In Küstennähe waren sie ja kleiner und harmloser!
Doch es war ein Delfin. Nicht nur einer, eine ganze Gruppe erschien zu den Seiten des Canoas. Graue Tiere mit dunkleren Rückenfinnen und Schnauzen, die sich so dicht an das Canoa drängen, dass sie es etwas drehten und dann voranschoben.
Kokea hatte die Hände zurückgezogen und sah den grauen Tieren verwundert zu.
Wenig später erschien das Atoll am Horizont. Er war weiter abgedriftet, als er gedacht hatte, doch die Delfine hatten ihn zurück in die richtige Richtung gelenkt. Kokea tauchte die Hände wieder ins Wasser und schließlich zerstreute sich der Schwarm ebenso rasch, wie er ihm zu Hilfe gekommen war.
Kokea zog das Canoa an Land, dann suchte er einige seiner gelagerten Fische heraus, kleine Tierchen, mit denen er zum Ufer zurücklief.
"Was tust du?" Imuas Stimme erklang wie immer aus dem Nichts.
"Sie haben mich gerettet", erklärte Kokea. "Imua, ich war so dumm! Ich bin auf dem Meer eingeschlafen! Wären die Delfine nicht gekommen, so hätte das übel enden können. Ich möchte ihnen danken."
Als er mit den Fischen wedelte, wurden tatsächlich einige Delfinfinnen sichtbar. Die Tiere tauchten neugierig auf. Kokea watete bis zum Bauch ins Wasser und warf seinen Rettern die Fische zu. Erst, als er zu zittern begann und ohnehin keine Fische mehr hatte, kehrte er an Land zurück.
"Du schimpfst ja gar nicht, Imua", murmelte er.
"Es ist ja alles gut ausgegangen, nicht war?", antwortete sein Maketi.
Imua hob den Kopf. Irgendwie fand er, dass der Tonfall des Maketi anders klang als sonst. Als würde er etwas nicht aussprechen.
"Ich möchte mich trotzdem entschuldigen", sagte er ernst. "Ich hätte deine Insel ohne einen Matene zurückgelassen. Gerade jetzt, wo die Pflanzen erwachen! Ich habe eine Verantwortung, an die ich mich halten muss."
"Dazu gehört auch, nicht zu erfrieren", entgegnete Imua sanft. "Mach dir ein Feuer, am Südufer liegt noch viel trockenes Holz. Du bist mit dem Schrecken davongekommen, mein Junge. Wir beide sind das."