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Nach dem Prompt „Stichvogel“ der Gruppe „Crikey!“
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Die Sonne brannte auf die Flanken der Gamate-Berge. Warab hielt inne, löste den Wasserschlauch von seinem Gürtel und nahm einen Schluck. Der Gürtel spannte. So wie auch die Reife um die Arme des Häuptlings. Schweiß lief ihm in Strömen über die Arme. Die Luft so weit oben war so dünn wie trocken. Die Nähe zum Vulkan war auch nicht hilfreich.
Ein weiteres Mal ließ Warab den Blick ins Tal gleiten. Längst würde ihn niemand mehr sehen können. Die Hütten waren kaum noch sichtbar, kleine Hügel im grünen Tal im Nordosten.
Diese Reise hatte er immer gefürchtet. Doch ohne die Federn des Hihi war er kein voller Häuptling. Und der Vogel musste im höchsten Gebirge gefangen werden, wo er den Göttern am nächsten war. So war die Tradition und mit der Tradition durfte man nicht brechen. Erst recht nicht, wenn man die alten Hobbits zufriedenstellen wollte, deren Gemecker sonst in zehn Jahren noch zu hören wäre!
Mit diesem Gedanken setzte Warab sich seufzend wieder in Bewegung. Sein Atem ging schwer. Er fühlte sich aufgequollen von der Hitze. Es stimmte wohl, er hätte etwas mehr Sport machen sollen. Aber die vielen Verpflichtungen, gerade in letzter Zeit, da sein Vater abgedankt und die Häuptlingswürde an ihn übergeben hatte, hatten Warab sehr in Beschlag genommen.
Einige Meilen weiter machte er doch eine Pause. Er breitete sein Tuch auf einem halbwegs ebenen Bodenstück aus. Es wurde Zeit für den Nachmittagstee. In seinem Rucksack hatte er selbstverständlich alles dabei: Kerzen, einen Teekessel und Wasser, Kekse und Kuchen, ein Gestell - er stellte den Tee auf und entzündete die Kerze. Während er darauf wartete, dass das Wasser kochte, holte er die Blätter hervor, die er noch am Morgen extra für diese Reise gepflückt hatte. Eine besondere Gelegenheit verlangte nicht nur nach den besten, in Palmblattstreifen geschlagenen Kuchen, sondern auch nach dem Tee aus Blüten und Kräutern aus seinem Garten.
Nachdem der Tee fertig war, trank Warab in kleinen Schlucken, biss zwischendurch vom Kuchen ab und betrachtete die Hänge, die hier oben zunehmend karger wurden. Er wackelte mit den wolligen Füßen und summte vergnügt vor sich her. Vielleicht, so hoffte er, würde ihm einer der kleinen Vögel direkt vor die Nase flattern. Ihre Schwanzfedern waren es, die er benötigte. Die Schleuder ruhte direkt neben ihm auf der Decke, griffbereit.
Als er sich dem Ende seines Kuchens näherte, hörte sich der Wind mit einem Mal seltsam an. Der Luftzug wurde stärker, und plötzlich hörte Warab eine Stimme, die seinen Namen zu flüstern schien.
Vor Schreck spuckte er Tee und Kekskrümmel über die Wiese. "H-Hallo?" Suchend sah er sich um und erhob sich. Wenn es jemand Freundliches war, sollte er ihn zu seinem Mahl einladen, auch wenn die Vorräte schrumpften. Sie könnten natürlich das Abendessen anbrechen, doch das misshagte ihm ja doch. Das war beste Räucherwurst und exzellenter Käse! Hatte den jemand verdient, der hier so unheimlich im Gebirge herumlief?
Und was, wenn es ein Berggeist war? Ein Monster?
"Waaaraaab!", flüsterte der Wind.
"Wer ist da?", fragte er nun doch etwas ärgerlich. Wenn, sollte das Wesen sich wenigstens vorstellen, damit er wusste, woran er war.
"Komm herauf!"
Sollte man einer solchen Stimme folgen? Zögerlich packte Warab zunächst alles zusammen. Er ließ sich absichtlich Zeit. Denn dort oben lag natürlich auch sein Ziel.
Langsam ging er weiter und umklammerte dabei den Wanderstock, so fest er konnte.
"Warab!"
Plötzlich war die Stimme so nah, als würde der Unbekannte in sein Ohr sprechen.
"Ahhh!" Warab schlug mit dem Stock um sich.
"Du kannst mich nicht treffen", sagte eine weibliche, belustigte Stimme. "Beruhige dich, Häuptling. Ich bin der Cemie dieses Berges."
"Ein Cemie!", sagte Warab staunend - und noch nicht ganz überzeugt. Doch er konnte niemanden sehen, also konnte es durchaus ein Wächtergeist sein. Ja, es musste ein Cemie sein! Niemand konnte sich hier verbergen, um ihm einen Streich zu spielen. Er riss die Augen auf. "Bin ich als Matene auserwählt?"
"Bedauere, Warab, deine Aufgabe ist eine andere. Doch ich habe eine Botschaft an dich."
Eine Botschaft der Götter! Aufgeregt umklammerte er den Wanderstock. Was würde es sein? Eine Warnung vor einer Katastrophe? Wie unangenehm. Eine Prophezeiung? War er zu Großem ausersehen?
"Du musst umkehren."
"W-was?" Verwirrt sah Warab sich um. "Ist es gefährlich auf dem Berg?"
"Ich weiß, mit welcher Mission du kommst. Doch der Vogel, den du suchst, sollst du heute nicht erlegen. Es gibt in diesem Jahr nur wenige von ihnen, ich kann nicht zulassen, dass du ein weiteres Tier tötest. In der Brutphase noch dazu!"
"Ich ... aber ... die Tradition!"
"Nein, Warab", erwiderte der Cemie ernst. "Der Weg ist dir versperrt. Gehst du weiter, wird der Zorn des Berges dich treffen."
Warab seufzte. Mit Bergen durfte man sich nicht anlegen! "Hättest du das nicht eher sagen können?", grummelte er. "Dann hätte ich mir den Aufstieg sparen können."
"Meine Macht ist begrenzt, Warab."
"Ja, ja, Cemie sind verwurzelt." Er seufzte erneut. Insgeheim freute er sich jedoch, dass er nicht mehr weiter wandern musste. Er konnte bereits umkehren! Es gab nur ein Problem. "Ich brauche die Federn für meine Häuptlingskrone. Die Tradition verlangt es."
"Wirst du gehen?"
"Ja, ja, ja!" Er schnaufte und hob drohend den Zeigefinger in die Luft. "Aber dann schuldest du mir was, Berg!"
"Ich weiß, dass du ein Opfer erbringst. Und ich will die Schuld bezahlen. Sieh zu deinen Füßen."
Warab senkte den Blick und staunte nicht schlecht. Auf dem Weg lag, vor seinem dicken Zeh, ein Bündel Zweige mit roten Beeren. Langsam nahm er es auf.
"Trage sie anstelle von Federn", befahl die Stimme im Wind flüsternd. "Sie werden dich ebenso vorzüglich kleiden."
Ein Geschenk von einem Cemie! Warab lachte sich bereits ins Fäustchen, während er sich vorstellte, wie die anderen Häuptlinge auf der Versammlung vor Neid erblassen würden.
"Geh jetzt", brummte der Cemie. Vermutlich spürte sie seine Gedanken. "Du verschreckst die Vögel."
"Ich danke dir, Berg. Soll ich sonst etwas tun? Vogelfutter heraufschicken?" Was würde er dafür wohl als Lohn bekommen? Ein Kleid aus Cemie-Blättern?
"Nein, danke. Ich habe alles im Griff. Ich brauche nur Zeit und - vor allem - Ruhe."
Warab seufzte ein weiteres Mal. Er musste sich wohl damit zufriedengeben, was er bekommen konnte. So sammelte er die Zweige ein und kehrte frohen Mutes zurück ins Tal. Noch während er bergab schlenderte, überlegte er sich, wie er diese Begegnung in seinen Erzählungen ausschmücken konnte. Er pfiff ein Lied vor sich hin und war der Überzeugung, dass diese Wanderung den besten Ausgang gefunden hatte. Obwohl die alten Hobbits sicher dennoch meckern würden, egal, was er ihnen erzählte.