Von dem großen Karneval in Nevaru hatte Jean natürlich schon einmal gehört. Es handelte sich immerhin um das Fest der Narren! Für die drei Tage des Festaktes schlüpften dort alle in die Rolle von Gauklern, verkleidet mit Masken, die sie befähigten, die Wahrheit zu sagen. Jean war sich sicher, dass die Feier auf Casa Charada kaum an das Volksfest der ipiellischen Insel heranreichte, doch er war trotzdem froh darum, dieser Feier beiwohnen zu dürfen.
Fürst Marcello – es war Jean erlaubt, seinen Herrn mit Vornamen anzusprechen, wie auch den meisten Dienern des kleinen Schlosses – hatte erzählt, dass er das Nevarufest in seiner Kindheit oft besucht hatte und es deshalb in kleinerem Rahmen auch hier abhielt. Hohe Adelige erwartete er nicht. Wenn, würden diese nach Nevaru reisen. Dafür wurde das einfache Volk in die Festhalle geladen.
Jean sollte seinen ersten Auftritt bei diesem Fest haben. Es war denkbar wenig Zeit, sich vorzubereiten. Erst am Vortag des Festes war er mit Fürst Marcello hier eingetroffen. Er hatte kaum Zeit gehabt, seine neue Kammer zu beziehen, in der er ein eigenes Bett ganz für sich hatte und sogar seinen Kleiderschrank nicht teilen musste. Dann hatte er einige wichtige Personen kennengelernt: Fürst Marcellos Nichten Lisette und Louise, Verwalter Ottone und die oberste Köchin Adelina. Weitere Vorstellungen mussten warten, denn Jean benötigte alle verfügbare Zeit, um sich ein kleines Schauspiel für den Tag des Festes auszudenken.
Es wäre eine Schande, wenn gleich sein erster Tag auf Casa Charada di Marai in einer Katastrophe enden würde. Jean war entschlossen, seinen Arbeitgeber nicht zu enttäuschen.
Als der Abend seines ersten vollen Tages auf der Burg nahte, stieg er in seine Uniform. Ein Kostüm aus zusammengenähten, bunten Stoffen, mit einem spitzen Kragen, großen, spitz zulaufenden Schuhen und Fransen an den Ärmeln und dem Hemdsaum, die die teuren Oberteile der Adeligen nachahmten. Dagegen war seine Hose bloß eine Strumpfhose. Alle Spitzen und Fransen, selbst die Schuhe, waren mit kleinen Glöckchen besetzt, die jede Bewegung Jeans in ein Musikspiel verwandelten. Zuletzt setzte er die Narrenkrone auf, den bunten Hut mit drei Spitzen und drei großen Glöckchen. Er schulterte die Tasche, welche Jonglierbälle, Kegel und allerhand mehr enthielt, und trat auf den Gang.
Von unten drangen bereits Musik und Stimmengewirr herauf. Durch die großen Öffnungen zwischen den tragenden Säulen jenes Ganges, durch den sein Weg ihn zur Treppe führte, sah Jean viel verkleidetes Volk im Schein bunter Lichtergirlanden und Feuer, über denen Fleischspieße und Brot geröstet wurden.
Er schluckte schwer, als sein Blick auf die kleine, ihm bestimmte Bühne an der Seite fiel. So viele Zuschauer hatte er noch nie gehabt! Seine Hände waren schwitzig. Was, wenn ihm der Ball so aus den Fingern rutschte?
Als er sich wenig später einen Weg durch die Menge der Feiernden bahnte, waren seine Knie weich. Konzentriert rief er sich die Lektionen seines Ausbilders ins Gedächtnis. Ruhig atmen, nicht nachdenken. Sich die ersten Witze überlegen, mit denen er sein Publikum fesseln würde. Dieses drehte sich um, als es den bunt gekleideten Gaukler auf die Bühne treten sah. Jean zeigte sein strahlendstes Lächeln, winkte und grüßte. Auf der obersten Stufe verfing sich sein Glockenschuh an der oberen Kante der Bretter, doch hier machte sich sein Training bezahlt. Jean ließ sich nach vorne fallen und rollte ab, um dann die gestreckten Beine auf die Bretter schlagen zu lassen, als er auf dem Hosenboden auskam. Das Publikum schrie erschreckt auf und lachte dann, als Jean sich mit einem verdutzten Blick umsah. Die Bälle ließ er aus der Tasche kullern, um sie dann umständlich einzusammeln.
Die Sache mit dem Anfangswitz hatte sich damit erledigt. Doch bis er sich daran wieder erinnerte, war er schon mitten in der Show. Er tanzte, jonglierte und sang. Dann hielt er inne, um einige der jüngeren Zuschauer mit kleinen Taschenspielertricks zu verzaubern. Er führte funkensprühende Tücher vor, die ebenfalls zum Jonglieren benutzt wurden. Dann erzählte er Geschichten von fernen Orten.
Die Gäste schienen wohl überwiegend Bewohner der Burg zu sein, die Casa Charada nie oder kaum verließen. Soweit Jean es in Erfahrung gebracht hatte, gehörte das Anwesen Fürst Marcello, dem als alleinstehenden Adeligen keines der größeren Anwesen der Passa-Matta zugefallen war. Die Familie war nicht besonders reich, sodass ihm nur dieses Haus geblieben war.
Lisette und Louise waren zu Besuch, da ihr Vater krank geworden war, doch der Rest wohnte auf der Burg. So war es nicht schwierig, die Anwesenden für seine Geschichten zu begeistern. Ein anspruchsvolleres Publikum würde sie alle kennen, doch in diesem Land sickerten offenbar nur wenige Nachrichten durch.
Jean gewann sein Selbstbewusstsein zurück. Seine Ausbilder würden die Vorstellung vermutlich immer noch etwas steif finden. Jean fehlte vor allem das Wissen um die Meinungen, die auf der Burg vorherrschten, sodass er sich mit der Satire zurückhielt. Doch die Elfen lachten, und das war sicherlich die Hauptsache.
Nach fast zwei Stunden nahm er seine erste Pause und huschte in den dunklen Gang hinter der Bühne. Hier hatte Adelina ihm eine Karaffe mit Wasser, ein Glas und sogar etwas Honigkuchen bereitstellen lassen, damit er sich stärken konnte. Er trank dankbar, genoss die Kühle in seiner Brust. Während der Vorstellung war er ins Schwitzen geraten. Appetit hatte er deswegen auch nicht. Ihm war schlicht zu warm.
Erschöpft schloss er die Augen. Um Kräfte zu sammeln – die Vorführung würde sicher bis tief in die Nacht gehen – konzentrierte er sich auf seinen Atem. Er war noch gut dabei. Es gab viele einfache Tricks und Geschichten, die das Publikum noch nicht kannte. Auch Wiederholungen wären nicht tragisch, denn viele Gäste bleiben nur einige Minuten stehen, um sich dann dem Tanz oder dem Essen zuzuwenden. Dennoch hatte Jean den Anspruch an sich, dass kein Gast einen Trick zweimal sehen sollte. Heute noch nicht.
Ein Geräusch schreckte ihn auf. Jean riss die Augen auf und bemerkte eine offene Tür am Ende des Ganges. Jemand trat gerade in den Flur und versuchte, die quietschende Tür lautlos zu schließen.
Jean zog die Beine an und kauerte sich in den Schatten eines vorspringenden Mauerstücks, einer Halbsäule, von denen viele die Gänge in regelmäßigen Abständen unterteilten und die Wände weniger glatt erscheinen ließen.
Zwar konnten Diener in diesem Gang herumlaufen, für Gäste war er jedoch gesperrt. Und da die meisten Bediensteten mit der Feier alle Hände voll zu tun hatten, war Jean misstrauisch geworden, noch bevor er die Maske des Fremden sah. Es musste ein junger Elf sein, seinen Bewegungen nach, vielleicht ungefähr volljährig. Doch mit einer Schnur über seinen spitzen Ohren befestigt trug er eine schwarz-weiße Vogelmaske mit drei großen Federn an der Stirn. Große, weiße Flächen umrahmten die Augen, ein dunkler Streifen zog sich von der Stirn bis über den vorspringenden Schnabel.
Wachsam, wie der Fremde sich umsah, musste er ein Dieb sein. Dazu passte auch der Beutel über seiner Schulter, ein offenbar schwerer Sack, der den jungen Elfen taumeln ließ.
Nervös tastete Jean nach einer seiner Metallkeulen. Die Kegel waren zum Jonglieren gedacht, doch das waffenähnlichste, was er besaß. Die Glocken an seinem Hut klimperten leise. Noch überdeckten die Geräusche der Feier jeden verräterischen Laut, doch der Fremde müsste an ihm vorbei. Jeans Glocken würden den Maskierten alarmieren.
Er atmete tief durch, wie zuvor. Ruhiger Atem war das wichtigste. Nach und nach merkte er, wie er sich entspannte und die Nervosität wich. Jedenfalls zum Teil.
Der Maskierte kam rasch näher. Als sie nur noch ein paar Schritte trennten, gab Jean sich einen Ruck, trat vor und hob die Keule.
Der Fremde zuckte zurück, überrascht von dem Widerstand. Jean hätte leichtes Spiel gehabt, doch in der Schlagbewegung zögerte er. Er hatte noch nie einen Menschen geschlagen. Sein Zögern genügte dem Maskierten, der seine Last fallen ließ, Jean die Keule aus der Hand schlug und ihn gegen die Wand drängte. Etwas Kaltes, Hartes kratzte über Jeans Kehle, als er nach Luft rang.
„Ein Laut, und du bist tot!“, zischte der Maskierte. Seine Stimme klang zu jung, doch die Drohung der Klinge war eindeutig.
Jean schluckte und nickte hastig. Der Fremde hielt mit einer Hand seinen Glöckchenkragen fest, mit der anderen das Messer. Gehetzt sah er sich um, das Weiße seiner Augen blitzte durch die Maske. Jean hörte schnelle, flache Atemzüge. Als der Unbekannte sich nach einer Weile immer noch nicht rührte, entspannte Jean sich vorsichtig. „Du wirst mir nichts tun.“
„Leise!“
„Was hast du gestohlen? Bettwäsche? Oder Gold?“ Jean sah zur Seite – und stutzte. Aus dem gefallenen Sack waren einige Laib Brot gerollt. „Essen?!“
„Still, habe ich gesagt!“
Jean konnte den Maskierten sanft von sich schieben. Der Junge schien jünger als er zu sein. Er folgte Jean, der mit klingelnden Schritten zu der Beute trat und den Sack öffnete.
Brot, Käse, etwas Wurst. Kleinigkeiten wie Hustenmedizin und einen Wasserschlauch. Jean schob alles langsam wieder in den Sack und sah zu dem Fremden auf, der unschlüssig im Gang stand. Immer wieder huschte sein Blick zur Tür am Ende.
Jean stand auf und reichte ihm den Sack. Der Fremde rührte sich nicht.
„Jetzt nimm schon. Ich habe nichts gesehen. Du bist ja sicherlich auch unbemerkt hier hereingekommen.“
Zaghaft schlossen sich lange, dünne Finger um den Sack. „W-wirklich?“
„Wirklich! Du brauchst es offenbar dringend, wenn du dafür deinen Hals riskierst. Und ich kann niemanden vor den Henker zerren, weil er Hunger hat! Na los. Und komm besser nie wieder!“
Der Junge zog den Sack vor die Brust, doch er zögerte noch immer. „Es gibt keinen anderen Ort, wo wir stehlen können. Die wenigen Bauern haben nicht genug, als dass sie teilen könnten, und ihnen wollen wir auch nichts nehmen. Wir müssen … zurückkommen.“
„Wir?“ Jean schluckte. Was waren das für Leute? Dann fiel ihm ein, was Fürst Marcello ihm erst vor zwei Tage erzählt hatte. Und er betrachtete die Vogelmaske. „Etwa das Kiebitzvolk?“
„Du hast es also auch schon gehört. Ich dachte, wo du neu zu sein scheinst …“ Der Maskierte machte ein paar Schritte.
„Warte“, rief Jean leise. „Heißt das, es stimmt? Ihr lebt einfach draußen in der Wildnis? Wovon?“
Der Rebellenjunge sah ihn an, schweigend. Er konnte noch keine fünfzig Jahre alt sein, geschweige denn einhundert. Als das Kiebitzvolk verbannt worden war, war er noch nicht einmal geboren worden! Doch er war als Verbannter aufgewachsen und damit verständlicherweise misstrauisch.
„Mein Name ist Jean le Picco. Da. Wenn ich dich noch verraten wollen würde, kannst du jedem erzählen, dass ich dich fast gehen gelassen hätte. Ich bin wirklich neu hier, so etwas würde der Hausherr garantiert nicht übersehen. Du hast meine Karriere als Gaukler in der Hand!“
„Indro“, sagte der andere vorsichtig. Es ging fast im Gelächter unter, das durch die Fenster drang. „Indro Pavanneau. Du hast recht, die Familie Pavanneau ist es, die man jetzt das Kiebitzvolk nennt. Aber wir wollen keinen Ärger! Wir nehmen nur hin und wieder etwas. Nicht so viel, dass es auffallen würde, nur, was wir brauchen.“
„Freut mich, Indro.“ Jean lächelte vorsichtig. Er mochte den Jungen irgendwie. Vor allem sah er nicht aus wie jemand, der Reisende auf der Landstraße abstach. Vielmehr schien er Angst zu haben. Indro war mager, schlecht gekleidet und offenbar auch ziemlich erschöpft. Bei Elend hatte Jean noch nie zusehen können. „Benötigt ihr sonst noch etwas?“
Der Rebellenjunge schien abzuwägen, ob er Jean wirklich vertrauen konnte. Schließlich, so leise, dass die Musik es beinahe übertönte, sagte er: „Wir brauchen eine bestimmte Medizin, die nicht einfach so im Lager steht. Ein Mittel gegen Keuchhusten. Vater ist schon lange krank und es wird einfach nicht besser. Nicht im feuchten Sumpfklima. Doch das Mittel versteckt die Haushälterin, es ist vermutlich sogar in einem abgesperrten Schrank.“
Jean nickte entschlossen. „Gib mir drei Tage!“